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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht München
Beschluss verkündet am 16.01.2006
Aktenzeichen: 34 Wx 172/05
Rechtsgebiete: AufenthG, FreihEntzG


Vorschriften:

AufenthG § 62 Abs. 2 Satz 2
FreihEntzG § 6 Abs. 1
Die Anordnung von Sicherungshaft auf der Grundlage des § 62 Abs. 2 Satz 2 AufenthG verlangt vom Tatrichter eine pflichtgemäße Ermessensausübung. Diese muss, um eine Überprüfung durch das Rechtsbeschwerdegericht zu ermöglichen, in der Begründung der Entscheidung ihren Niederschlag finden.
Tatbestand:

Die Ausländerbehörde betrieb die Abschiebung der Betroffenen, einer vietnamesischen Staatsangehörigen. Die Betroffene reiste ihren Angaben zufolge am 10.4.2005 in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragte am 2.5.2005 die Anerkennung als Asylberechtigte. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnte mit Bescheid vom 12.5.2005 den Antrag als offensichtlich unbegründet ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nicht bestehen, und forderte die Ausländerin auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Zugleich wurde der Betroffenen die Abschiebung nach Vietnam angedroht. Der Bescheid ist seit 26.5.2005 bestandskräftig.

Mit der Begründung, die Betroffene sei nicht während der ihr gesetzten Ausreisefrist ausgereist, habe ihren vietnamesischen Reisepass gegenüber der Behörde über Monate unterdrückt, um eine Ausreise zu verhindern, und habe deshalb aufgrund ihres bisherigen Verhaltens zu erkennen gegeben, dass sie ihrer Ausreisepflicht nicht nachkommen werde, hat die Ausländerbehörde am 11.11.2005 beim Amtsgericht Antrag auf Sicherungshaft gemäß § 62 Abs. 2 Satz 2 AufenthG für die Dauer von zwei Wochen zur Sicherung der für den 18.11.2005 vorgesehenen Abschiebung gestellt. Diesem Antrag hat das Amtsgericht am 11.11.2005 entsprochen und die sofortige Wirksamkeit seiner Entscheidung angeordnet. Die sofortige Beschwerde vom 16.11.2005 hat das Landgericht ohne erneute Anhörung der Betroffenen am 17.11.2005 zurückgewiesen. Hiergegen richtet sich die sofortige weitere Beschwerde der anwaltlich vertretenen Betroffenen vom 18.11.2005, mit der sie zugleich Prozesskostenhilfe für das Rechtsbeschwerdeverfahren unter Anwaltsbeiordnung beantragt.

Die Betroffene wurde am 18.11.2005 nach Vietnam abgeschoben. Die Antragstellerin hatte deshalb ihren Antrag zugleich mit der Einlegung ihres Rechtsmittels dahin umgestellt, die Rechtswidrigkeit der ergangenen Abschiebungshaftanordnung festzustellen und der beteiligten Ausländerbehörde die Verfahrenskosten in sämtlichen Rechtszügen aufzuerlegen. Das zulässige Rechtsmittel erwies sich im Feststellungsantrag als begründet; hingegen konnte die beantragte Erstattungsanordnung nicht getroffen werden.

Gründe:

1. Die Abschiebung der Betroffenen am 18.11.2005 und damit die Beendigung der Haft noch vor Einreichung der Beschwerdeschrift steht der Zulässigkeit der sofortigen weiteren Beschwerde nicht entgegen. Eine dadurch eingetretene Erledigung der Hauptsache lässt im Allgemeinen nicht das Rechtsschutzbedürfnis für ein Rechtsmittel in Freiheitsentziehungssachen entfallen. Der Rechtsmittelführer kann sein Rechtsmittel mit dem Ziel der Feststellung der Rechtswidrigkeit der aufgrund der angefochtenen Haftanordnung vollzogenen Freiheitsentziehung einlegen (oder aufrechterhalten); er kann sein Rechtsmittel aber auch auf die Kostenfrage beschränken mit dem Ziel, im Rahmen der Kostenentscheidung gerichtlich prüfen zu lassen (vgl. § 16 Satz 1 FreihEntzG), ob seine zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen die Gebietskörperschaft zu tragen hat, der die Verwaltungsbehörde angehört, deren Antrag zur Freiheitsentziehung geführt hatte (Senat, z.B. Beschlüsse vom 24.2.2005, 34 Wx 010/05 m.w.N., und vom 24.10.2005, 34 Wx 140/05). Ebenso wenig bestehen grundsätzliche Bedenken, den Antrag mit dem hier erkennbaren Ziel weiterzuverfolgen, die Rechtswidrigkeit der vom Amtsgericht getroffenen und vom Landgericht aufrechterhaltenen Haftanordnung umfassend feststellen zu lassen (siehe auch OLG München Beschluss vom 16.1.2006, 34 Wx 161/05). Auch wenn die landgerichtliche Beschwerdeentscheidung gemäß § 23 FGG auf der Grundlage der zu diesem Zeitpunkt gegebenen Sachlage ergangen ist (vgl. BGHZ 75, 375/380), sieht sich der Senat als Rechtsbeschwerdegericht in der Lage, selbst die Rechtmäßigkeit der auf der Haftanordnung vom 11.11.2005 beruhenden Freiheitsentziehung von diesem Zeitpunkt an zu beurteilen. Denn das Landgericht hat keine gegenüber der amtsgerichtlichen Entscheidung veränderte Tatsachenlage festgestellt. Auch der dem Senat zugängliche Akteninhalt gibt dafür nichts her. Ein Rechtsschutzbedürfnis und ein Rehabilitationsinteresse der Betroffenen ergibt sich aus der mit der tatsächlichen Freiheitsentziehung verbundenen Schwere des Grundrechtseingriffs.

2. Das Landgericht hat ausgeführt:

Es bestehe der Haftgrund des § 62 Abs. 2 Satz 2 AufenthG, weil die Ausreisefrist abgelaufen sei und feststehe, dass die Abschiebung durchgeführt werden könne. Sonstige Hinderungsgründe ständen der Anordnung nicht entgegen. Ob die Abschiebung zu Recht betrieben werde, hätten die Ausländerbehörde und die Verwaltungsgerichte, nicht die Haftgerichte, zu prüfen. Auf eine mündliche Anhörung der Betroffenen werde ausnahmsweise verzichtet. Im Hinblick auf den bestehenden Haftgrund hätte eine Anhörung im Beschwerdeverfahren zu keiner anderen Entscheidung der Kammer geführt. Wegen der ausstehenden Beschwerdebegründung sei ein Zuwarten nicht vertretbar, weil die Abschiebung unmittelbar bevorstehe.

2. Der die Haftanordnung des Amtsgerichts bestätigende Beschluss des Landgerichts ist ergangen, ohne dass eine hier unerlässliche pflichtgemäße Ermessensausübung des Gerichts stattgefunden hat. An demselben Mangel leidet auch die amtsgerichtliche Entscheidung. Beide Gerichte haben ausweislich der für den Senat maßgeblichen Beschlussbegründungen (vgl. § 6 Abs. 1 FreihEntzG) nicht beachtet, dass bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 62 Abs. 2 Satz 2 AufenthG dem Tatrichter ein Ermessen zukommt, ob er die beantragte Haft anordnet oder nicht.

a) Rechtsfehlerfrei sind die Feststellungen zu den sachlichen Voraussetzungen des Haftgrunds. Während bei den Haftgründen des § 62 Abs. 2 Satz 1 AufenthG die Erforderlichkeit der Abschiebungshaft als Mittel der Sicherung der Abschiebung zwingend aus bestimmten, auf die Vereitelung der Abschiebung gerichteten Verhaltensweisen des Betroffenen herzuleiten ist, stellt der Haftgrund des § 62 Abs. 2 Satz 2 AufenthG wegen der Erforderlichkeit der Sicherungshaft gerade nicht auf das Verhalten des Betroffenen, sondern auf den bloßen Ablauf der Ausreisefrist und vor allem auf den Stand der Vorbereitungen der Abschiebung ab (OLG Naumburg Beschluss vom 13.3.2000, 10 Wx 25/99 bei juris, m.w.N.). Ziel der Regelung ist es, den Ausländerbehörden die zügige Durchführung von vollziehbaren Abschiebungen zu erleichtern.

Die Betroffene hielt sich ohne Aufenthaltstitel in der Bundesrepublik Deutschland auf, die ihr gesetzte Ausreisefrist war abgelaufen (§ 4 Abs. 1, § 50 Abs. 1, § 58 Abs. 1 und 2 Satz 2, Abs. 3 Nr. 2 AufenthG). Die Ausländerin konnte sich auch nicht auf eine ausländerbehördliche Duldung berufen (§ 60 a AufenthG), die auch der Haftrichter zu berücksichtigen hätte (Renner Ausländerrecht 8. Aufl. § 62 Rn. 6). Die verwertbaren Akten ergeben insoweit, dass eine solche auch nach dem Vorbringen der Betroffenen allenfalls telefonisch zugesagt worden sein kann. Eine solche - unterstellte - Erklärung ist als Verwaltungsakt formunwirksam (§ 77 Abs. 1 AufenthG) und nichtig (BayVGH BayVBl 1973, 295/296; Kopp/Ramsauer VwVfG 9. Aufl. § 44 Rn. 25; Hailbronner Ausländerrecht § 77 AufenthG Rn. 25). Zu berücksichtigende Vorwirkungen einer beabsichtigten Eheschließung mit einem Deutschen lagen ebenfalls nicht vor.

Zugleich stand bei der Antragstellung fest, dass die für den 18.11.2005 organisierte Abschiebung durchgeführt wird.

b) Der Haftgrund des § 62 Abs. 2 Satz 2 AufenthG ist fakultativ ausgestattet, so dass die darauf gestützte Anordnung in das pflichtgemäße Ermessen des Gerichts gestellt ist. Diese Ermessensausübung hat unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgebots im Hinblick auf den Eingriff in die persönliche Freiheit des Betroffenen unter Abwägung mit dem Zweck der gesetzlichen Vorschrift zu erfolgen, im Allgemeininteresse eine zügige Durchführung der vollziehbaren Abschiebung des Betroffenen zu sichern (OLG Naumburg aaO; OLG Hamm FGPrax 2004, 53/54). Die tatrichterliche Entscheidung muss die für die Ermessensausübung maßgeblichen Gründe erkennen lassen (§ 6 Abs. 1 FreihEntzG; siehe zur vergleichbaren Rechtslage im allgemeinen Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit Bassenge/Herbst/Roth FGG 10. Aufl. § 25 Rn. 2). Das Rechtsbeschwerdegericht kann zwar nicht die sachliche Richtigkeit der tatrichterlichen Ermessensentscheidung nachprüfen. Zu überprüfen ist jedoch, ob der Tatrichter ein Ermessen überhaupt ausgeübt oder die Notwendigkeit dazu verkannt hat (z.B. BayObLG NJW-RR 1990, 52/53; 1992, 1159; Meyer-Holz in Keidel/Kuntze/Winkler FGG 15. Aufl. § 27 Rn. 23). An Erwägungen dazu fehlt es in der Beschwerdeentscheidung. Die Begründung des Landgerichts, im Hinblick auf den Haftgrund des § 62 Abs. 2 Satz 2 AufenthG werde von einer Anhörung der Betroffenen abgesehen, lässt vielmehr erkennen, dass sich das Landgericht seiner Pflicht zur Ermessensausübung gerade nicht bewusst war.

Auch die amtsgerichtliche Entscheidung leidet an diesem Mangel. Soweit in ihr die Verhältnismäßigkeit (dazu Renner § 62 AufenthG Rn. 21) bejaht wird, kann die dazu vorgenommene Prüfung das Fehlen einer Ermessensausübung schon deshalb nicht ersetzen, weil die Begründung für die Verhältnismäßigkeit sich als rechtsfehlerhaft erweist. Denn der Umstand, dass eine Aufenthaltsgenehmigung fehlt, ist bereits tatbestandliche Voraussetzung für die Ausreisepflicht und die Abschiebung, kann aber nicht darüber hinaus als besondere Voraussetzung für eine Haftanordnung herangezogen werden.

c) Für den Erfolg des Feststellungsantrags kommt es deshalb nicht mehr darauf an, ob das vom Landgericht gewählte Verfahren das rechtliche Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) der Betroffenen verletzt hat, weil die angekündigte Beschwerdebegründung nicht abgewartet wurde.

3. Für die Kostenentscheidung gilt hingegen Folgendes:

a) Eine Entscheidung über die Gerichtskosten ist nicht veranlasst. Die Verwaltungsbehörde ist kraft Gesetzes (§ 15 Abs. 2 FreihEntzG) zur Zahlung gerichtlicher Gebühren nicht verpflichtet. Ob zu Lasten des in der Sache letztlich obsiegenden Ausländers zunächst entstandene Gebühren (§ 14 Abs. 2 FreihEntzG) durch die vom Senat getroffene Rechtswidrigkeitsfeststellung wieder entfallen, kann letzten Endes dahin stehen. Denn die Akten ergeben, dass Kostenabstand erklärt wurde.

Über die außergerichtlichen Kosten ist nach § 16 Satz 1 FreihEntzG zu entscheiden. Für eine Kostenerstattungsanordnung zugunsten des Betroffenen und zu Lasten der Gebietskörperschaft, der die Ausländerbehörde angehört, ist maßgeblich, ob das Verfahren ergeben hat, dass ein begründeter Anlass zur Stellung des Antrags nicht vorlag. Es kommt also darauf an, wie die Behörde den Sachverhalt zur Zeit der Antragstellung beurteilen durfte, wenn sie alle ihr zuzumutenden Ermittlungen angestellt hätte (Marschner/Volckart Freiheitsentziehung und Unterbringung 4. Aufl. § 16 FreihEntzG Rn. 3). Zu prüfen ist nicht, ob die Ausländerbehörde die Abschiebung zu Recht betrieben hat; maßgeblich ist nur, ob sich aus der Sicht der Ausländerbehörde die Notwendigkeit ergab, die Abschiebung gerade mittels einer Haftanordnung durchzusetzen (etwa BayObLGZ 1989, 131/134 m.w.N.).

Nach diesem Prüfungsmaßstab hat eine Erstattungsanordnung nicht zu ergehen. Wie festgestellt lagen die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 62 Abs. 2 Satz 2 AufenthG vor. Insbesondere hat auch die Ausländerbehörde im Rahmen ihrer Antragstellung eine Ermessensausübung zu erkennen gegeben, indem sie darauf abhob, dass die Betroffene, obwohl bereits seit Ende Mai 2005 ausreisepflichtig, ihren vietnamesischen Reisepass längere Zeit vorenthalten hat. Dies ließ im konkreten Fall aus damaliger Sicht der Ausländerbehörde die Befürchtung zu, die Betroffene werde die Abschiebung wesentlich erschweren oder gar vereiteln.

III.

Prozesskostenhilfe sowie die Beiordnung eines anwaltlichen Bevollmächtigten sind für das Rechtsbeschwerdeverfahren wie beantragt zu bewilligen (§ 3 Satz 2 FreihEntzG, § 14 FGG, §§ 114, 117 Abs. 2, § 119 Abs. 1, § 121 Abs. 2 ZPO). Die Rechtsverfolgung war, jedenfalls im aufrechterhaltenen Hauptsacheantrag, hinreichend aussichtsreich.

Ende der Entscheidung

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