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Gericht: Oberlandesgericht München
Beschluss verkündet am 30.01.2006
Aktenzeichen: 5 St RR 206/05
Rechtsgebiete: StGB, StPO


Vorschriften:

StGB § 176
StGB § 176a
StGB § 46
StPO § 170 Abs. 1

Entscheidung wurde am 19.06.2006 korrigiert: der Beschluss wurde wegen Unvollständigkeit und fehlerhafter Numerierung ersetzt
1. Nur die Umgrenzungsfunktion beeinträchtigende Mängel des Anklagesatzes führen zur Unwirksamkeit der Anklage und damit zum Fehlen einer Prozessvoraussetzung. Einzelheiten der insoweit dargestellten Taten können auch noch in der Hauptverhandlung durch gerichtliche Hinweise eingeführt oder klargestellt werden.

2. Die bloße Schätzung der Anzahl von Einzeltaten durch das Tatopfer ohne nähere Kriterien reicht als Grundlage für die Feststellung von Einzeltaten nicht aus.

3. Die Homosexualität als solche darf nach der Bewertung des Gesetzgebers kein Strafzumessungskriterium bei einer Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern sein.


Gründe:

I.

Die zulässige Revision des Angeklagten hat einen vorläufigen Teilerfolg. Im Übrigen ist sie offensichtlich unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

1. Im Hinblick auf die Verfahrensrügen wird auf die Stellungnahme der Staatsanwaltschaft bei dem Revisionsgericht in ihrer Antragsbegründung vom 2.9.2005 Bezug genommen. Soweit darin der Zeuge P als "sachverständiger" Zeuge bezeichnet wird, während er nach den Urteilsgründen als "sachkundiger" Zeuge vernommen worden war, ändert dies am Ergebnis nichts

2. Die Revision hat mit der Sachrüge Erfolg (§ 337 StPO), weil die Urteilsgründe die Verurteilung nur teilweise tragen.

a) Ein Verfahrenshindernis wegen Unwirksamkeit der Anklageschrift besteht nicht.

Die Anklageschrift hat eine doppelte Bedeutung. Sie dient zunächst der Bezeichnung des Prozessgegenstandes und hat insoweit Umgrenzungsfunktion. Der Prozessgegenstand wird durch die Benennung des Angeklagten und die Schilderung der Tat als historischer Lebensvorgang, der dem Angeklagten zur Last gelegt wird, bestimmt. Dabei hat die Anklage die dem Angeklagten zur Last gelegte Tat mit Zeit und Ort ihrer Begehung so genau zu bezeichnen, dass die Identität des geschichtlichen Vorgangs klar gestellt und erkennbar wird, welche bestimmte Tat gemeint ist. Sie muss sich von anderen gleichartigen strafbaren Handlungen desselben Täters unterscheiden lassen. Die weiteren nach § 200 StPO in die Anklageschrift aufzunehmenden Angaben haben nur Informationsfunktion. Der Angeklagte soll durch sie in die Lage versetzt werden, sich sachgerecht zu verteidigen. Nur die Umgrenzungsfunktion beeinträchtigende Mängel des Anklagesatzes führen zur Unwirksamkeit der Anklage und damit zum Fehlen einer Prozessvoraussetzung. Einzelheiten der insoweit dargestellten Taten können auch noch in der Hauptverhandlung durch gerichtliche Hinweise eingeführt oder klargestellt werden (ständige Rechtsprechung vgl. u.a. BGHSt 40, 44.; BayObLGSt 1991, 6/9 ff.; KK/Tolksdorf StPO 5.Aufl. § 200 Rn. 3, 29 ff, 34 f. Meyer-Goßner StPO 48. Aufl. § 200 Rn. 7 ff).

Die Anklageschrift führt Folgendes aus:

"Der Angeschuldigte lernte den Geschädigten, geb. 15.8.1979, im Sommer 1989 im Freibad kennen. Hieraus entwickelte sich eine freundschaftliche Beziehung zwischen dem Angeklagten und dem Geschädigten sowie dessen Familie, die beinhaltete, dass der Angeschuldigte bei der Familie des Geschädigten ein und ausging und der Geschädigte häufiger beim Angeschuldigten übernachtete oder mit diesem in Urlaub fuhr. Im Laufe dieser freundschaftlichen Beziehung kam es sodann zu sich steigernden sexuellen Übergriffen seitens des Angeschuldigten auf den Geschädigten, die vorwiegend in der Wohnung des Angeschuldigten in der stattfanden.

1. Zwischen dem 9. und 12.Lebensjahr des Geschädigten, also in den Jahren Sommer 1989 bis 1991 kam es an den oben genannten Orten in mindestens 50 Fällen dazu, dass der Angeschuldigte den Geschädigten dazu veranlasste, dass sie sich gegenseitig am entblößten Glied manipulierten. Zum Teil wurde hierbei auch der Geschlechtsakt nachgestellt, indem sich der Angeschuldigte und der Geschädigte aufeinander legten und entsprechend Bewegungen ausführten.

2. Ab dem 12.Lebensjahr des Geschädigten, also im Sommer 1991 bis zur Vollendung des 14.Lebensjahrs des Geschädigten im Sommer 1993 veranlasste der Angeschuldigte den Geschädigten in mindestens 20 Fällen an den oben genannten Orten dazu, dass diese gegenseitig den Oralverkehr ausführten.

Der Angeschuldigte wird daher beschuldigt, durch 70 selbständige Handlungen sexuelle Handlungen an einer Person unter 14 Jahren (Kind) vorgenommen oder an sich von dem Kind vornehmen gelassen zu haben."

In Fällen des sexuellen Missbrauchs von Kindern, in denen bei einer Serie von Taten einzelne Handlungen überhaupt nicht mehr oder jedenfalls nicht mehr genau voneinander unterschieden werden können, muss (wie die Rechtsprechung wiederholt betont hat) zur Vermeidung erheblicher Lücken in der Strafverfolgung gleichwohl die Möglichkeit gegeben sein, Anklage erheben zu können. In solchen Fällen erfüllt die Anklageschrift bereits dann ihre Umgrenzungsfunktion, wenn sie den Verfahrensgegenstand durch den zeitlichen Rahmen der Tatserie, die Nennung der Höchst- oder Mindestzahl der nach dem Anklagevorwurf innerhalb dieses Rahmens begangenen Taten, das Tatopfer und die wesentlichen Grundzüge des Tatgeschehens bezeichnet (BGHSt 44, 153/155 = NJW 1998, 3788; vgl. auch BGHSt 40, 44/45 ff.; BGH NStZ-RR 2005, 320; NStZ 2005, 282/283).

Diesen Anforderungen wird die Anklageschrift gerecht.

b) Wenn auch an die Konkretisierung bei Serienstraftaten, insbesondere wenn sie an einem noch nicht 14-jährigen Kind vorgenommen werden und schon lange zurückliegen, naturgemäß keine zu hohen Anforderungen gestellt werden können, darf dies nicht dazu führen, dass dem Angeklagten im Urteil eine auf mehr oder weniger ungenauer Schätzung des Tatopfers beruhende Zahl von Taten zur Last gelegt wird. Auch insoweit bleibt es zwingend, dass der Richter im Sinne des § 261 StPO davon überzeugt ist, dass der Angeklagte jede einzelne individuelle Straftat begangen hat. Die unzureichende Konkretisierung darf nicht dazu führen, dass der Angeklagte in seinen Verteidigungsmöglichkeiten beschränkt wird. Lassen sich Einzeltaten nicht durch individualisierte Geschehensabläufe abgrenzen, ist deshalb anhand sonstiger Kriterien, die Rückschlüsse auf die Anzahl der einzelnen Taten zulassen, die Mindestzahl der Taten festzustellen (vgl. BGHSt 42, 107/110; 40, 138/160).

Abgesehen von den im Urteil dargestellten beiden Fällen des Oralverkehrs kurz vor und nach dem ca. vierwöchigen Frankreichurlaub in den Sommerferien 1992 und den zwei Fällen bei denen sich einer auf den anderen legte, wobei beide nackt waren und dann mit Bewegungen den Geschlechtsverkehr nachahmten, enthalten die Urteilsgründe solche zur Abgrenzung bzw. Feststellung der Anzahl der Einzeltaten geeignete Kriterien nicht. Zum Sachverhalt hatte das Gericht Folgendes festgestellt:

"Im Sommer 1989 lernte der Angeklagte in einem Freibad den am 15.8.1979 geborenen Zeugen kennen. Es entwickelte sich rasch eine freundschaftliche Beziehung zu Z., aber auch zu dessen gesamter Familie. Der Angeklagte besuchte die Familie Z. häufig, er passte bei Bedarf auf den Zeugen auf und unternahm mit diesem vieles in der Freizeit, z.B. Schwimmbadbesuche oder andere Ausflüge. Der Zeuge übernachtete auch häufiger bei dem Angeklagten in dessen Wohnung. Weil die Eltern dem Angeklagten vertrauten, erlaubten sie dem Zeugen in den Sommerferien 1992 auch, mit dem Angeklagten für ca. vier Wochen nach Frankreich zu fahren. Die Fahrt wurde mit einem Motorrad ausgeführt. Beide verbrachten ca. zwei Wochen in einem Haus in der Nähe des Atlantiks, Hin- und Rückfahrt wurde für Besichtigungen ausgedehnt. Spätestens ab Frühjahr 1990 begann der Angeklagte an dem Zeugen sexuelle Handlungen vorzunehmen. Der Zeuge ließ diese geschehen, beteiligte sich schließlich auch aktiv; Zwang oder Drohungen setzte der Angeklagte nicht ein. Die Intensität der Übergriffe steigerte sich zunehmend. Vor dem 15.8.1999 (richtig 1993) dem 14.Jahrestag des Zeugen, streichelte der Angeklagte in mindestens 68 Fällen den nackten Zeugen am ganzen Körper, insbesondere auch am nackten Geschlechtsteil. Der Zeuge tat bei dem Angeklagten entsprechendes. In einer nicht feststellbaren Vielzahl dieser Fälle kam es auch zu gegenseitigen Zungenküssen. Ebenfalls in einer nicht feststellbaren Vielzahl dieser Fälle, gegen Ende des Tatzeitraums meistens, masturbierten beide bis zum Samenerguss, teilweise befriedigte auch der eine den anderen wechselseitig bis zum Samenerguss. In zwei der genannten Fälle kam es dazu, dass sich einer auf den anderen legte, wobei beide nackt waren und dann mit Bewegungen den Geschlechtsverkehr nachahmten; zu einer Penetration oder auch nur zum Versuch einer Penetration kam es jedoch nicht. Diese Übergriffe fanden meist in der Wohnung des Angeklagten statt, sei es anlässlich von Übernachtungen des Zeugen, sei es bei sonstigen Besuchen. Auch bei der ca. vierwöchigen Frankreichfahrt in den Sommerferien 1992 kam es nahezu täglich zu derartigen Handlungen.

Kurz vor dieser Frankreichfahrt nahm der Angeklagte in seiner Wohnung das Glied des Zeugen in den Mund und versuchte diesen oral zu befriedigen. Es kam jedoch nicht zum Samenerguss. Kurz nach der Frankreichfahrt führte der Angeklagte bei dem Zeugen wiederum in seiner Wohnung den Oralverkehr durch, wobei (d)es dieses Mal zum Samenerguss kam.

Im Herbst 1992 wurden die sexuellen Handlungen seltener; etwa im Frühjahr 1993 verweigerte sich der Zeuge zunehmend. Im Herbst 1993 wechselte der Angeklagte bis 2000 auf eine Schule in Italien. Mitte 1994 hörten die sexuellen Kontakte endgültig auf. Eine losere freundschaftliche Beziehung setzte sich dennoch fort bis zum Jahresanfang 1998, als der Zeuge beruflich nach England wechselte. Der Angeklagte kannte in allen Fällen das Alter des Geschädigten."

Im Rahmen der Beweiswürdigung führt die Strafkammer hinsichtlich Art und Zahl der Einzelakte der sexuellen Handlungen an Hand der Aussage des Geschädigten Folgendes aus:

"Etwa ab Frühjahr 1990 sei es dann in der Wohnung des Angeklagten zu sexuellen Handlungen gekommen. Diese hätten sich im Laufe der Zeit immer häufiger wiederholt und auch in ihrer Intensität gesteigert. Sie seien zunächst ausschließlich und auch später meist vom Angeklagten ausgegangen. Teilweise habe der Angeklagte ihn (den Zeugen) auch veranlasst, an sich selbst sexuelle Handlungen vorzunehmen. In einigen Fällen sei die Initiative jedoch auch von ihm selbst ausgegangen. Der Angeklagte habe ihn dann stets am gesamten nackten Körper gestreichelt, insbesondere jedoch an seinem nackten Geschlechtsorgan. Im Laufe der Zeit sei es häufiger zusätzlich zu Zungenküssen gekommen. Auf Vorschlag des Angeklagten hätten sie sich auch selbst befriedigt, zum Teil gegenseitig; schließlich hätten sie auch in zwei Fällen aufeinander gelegen und den Geschlechtsverkehr nachgeahmt, wobei der Angeklagte jedoch nicht versucht habe in ihn einzudringen. Insbesondere in den fast vier Wochen des Frankreichurlaubs im Sommer 1992 sei es fast täglich zu derartigen sexuellen Handlungen gekommen. Wenige Wochen vor der Frankreichfahrt habe der Angeklagte in M. seinen Penis in den Mund genommen und versucht ihn oral zu befriedigen; es sei jedoch nicht zum Samenerguss gekommen. Wenige Wochen nach der Frankreichfahrt habe der Angeklagte ihn ebenfalls in M. erneut oral befriedigt, diesmal bis zum Samenerguss. Zu der Anzahl der Vorfälle gab der Zeuge an, es sei vor dem 15.8.1993 mindestens 70 Mal zu sexuellen Handlungen gekommen. In allen Fällen habe der Angeklagte ihn am ganzen Körper gestreichelt, insbesondere am nackten Geschlechtsteil. Meist habe er auch selbst den Angeklagten entsprechend gestreichelt. Sehr oft hätten sie sich auch voreinander selbst befriedigt; die Anzahl konnte der Zeuge nicht mehr angeben. In ca. sieben bis zehn Fällen habe er den Angeklagten per Hand auf dessen Bitten befriedigt, der Angeklagte im Gegenzug ihn selber in mindestens 35 bis 40 Fällen. Sehr bald nach Beginn der sexuellen Handlungen habe es immer wieder Zungenküsse gegeben; auch die Zahl dieser Vorfälle konnte der Zeuge nicht abschätzen. Der Zeuge wies von sich aus darauf hin, dass es sich bei diesen Zahlenangaben um Schätzungen handle. Es seien jedoch die Mindestzahlen. Er sei sich sicher, dass es so häufig wie angegeben zu den entsprechenden Handlungen gekommen sei; die tatsächlichen Zahlen lägen jedoch vermutlich wesentlich höher. Der Zeuge gab weiter an, er habe einige Wochen nach der Frankreichfahrt die sexuellen Handlungen zunehmend zu vermeiden versucht; ab etwa Frühjahr 1993 sei es nur noch vereinzelt zu sexuellen Handlungen gekommen, letztmals im ersten Halbjahr 1994. Auf Nachfrage gab der Zeuge an, die von ihm gemachten Zahlenangaben bezögen sich ausschließlich auf Taten vor seinem 14. Geburtstag am 15.8.1993; er wies erneut darauf hin, dass es sich um Mindestzahlen handle".

In der rechtlichen Würdigung gibt die Strafkammer ohne nähere Erläuterungen an,

"Die Kammer nimmt eine Mindestzahl von 70 Fällen an, in denen es zum sexuellen Missbrauch gekommen ist. Diese Anzahl wurde dem Angeklagten auch in der Anklageschrift zur Last gelegt."

Nach diesen Ausführungen beruht die Feststellung der Anzahl der Einzeltaten insgesamt allein auf der Schätzung des Tatopfers, der die Kammer folgte. Über die Schilderung allgemeiner, teilweise zu mehreren Fällen zusammengefasster Sexualpraktiken hinaus weisen die Angaben des Geschädigten aber lediglich hinsichtlich vier näher geschilderter Taten (zwei Mal Nachahmung des Geschlechtsverkehrs, ein Mal Oralverkehr ohne, ein Mal mit Samenerguss) konkretere, zur Abgrenzung geeignete Merkmale auf.

Der Senat übersieht nicht, dass bei wenig konkretisierbaren, lange zurückliegenden Taten, die in vielen Fällen weitgehend gleichartig verlaufen sind, das Gericht auf Schätzungen angewiesen ist. Gleichwohl müssen Schätzungsgrundlagen unter Angabe von Anhaltspunkten vorhanden sein und dargelegt werden (vgl. KK/Engelhardt § 267 Rn.9; Meyer-Goßner § 267 Rn.5, 6a), die es ausschließen, dass eine noch geringere Anzahl von Einzeltaten vorliegen könnte. Außer den vier genannten Taten die anhand besonderer Kriterien konkretisiert sind, hat das Gericht für die Anzahl der Einzeltaten die nicht weiter auf bestimmte Anhaltspunkte gestützte sondern im Wesentlichen freie Schätzung des Tatopfers übernommen. Zwar zeigen die Urteilsgründe deutlich, dass die Strafkammer sich ersichtlich erhebliche Mühe gegeben hat, durch die Befragung des Geschädigten eine Mindestanzahl feststellen zu können. Da aber keine dessen Schätzung nachvollziehbar belegende, differenzierende Angaben vorliegen, lässt sich nach diesen Angaben auch nicht ausschließen, dass es statt der angenommenen Zahl von insgesamt mindestens 70 Fällen tatsächlich nur 60 oder 65 oder eine andere Mindestzahl an Fällen gewesen war.

Nach ständiger Rechtsprechung reicht deshalb die bloße Schätzung der Anzahl durch das Tatopfer ohne nähere Kriterien als Grundlage für die Feststellung von Einzeltaten nicht aus (BGH NStZ-RR 1999, 79, NStZ 1998, 208; vgl. auch BGHSt 42, 107/109 f.; BGH NStZ 1994, 352; 1994, 393). Das Gericht darf nicht nur die mehr oder weniger verbindliche Schätzung des Tatopfers übernehmen, sondern muss eigenständig anhand bestimmter Kriterien die Mindestzahl nachvollziehen, feststellen und nachvollziehbar darlegen (vgl. auch BGH StV 1995, 116).

Soweit die Strafkammer die Aussage des Geschädigten wiedergibt, dass, nachdem zuvor die sexuellen Praktiken zusammengefasst geschildert worden waren, " insbesondere in den fast vier Wochen des Frankreichurlaubs im Sommer 1992 es fast täglich zu derartigen Handlungen gekommen (sei)", in "ca. sieben bis zehn Fällen er den Angeklagten per Hand auf dessen Bitten befriedigt (habe), der Angeklagte im Gegenzug ihn selber in mindestens 35 bis 40 Fällen" , Fälle mit und ohne Zungenküsse vorkamen, sind diese Angaben nicht geeignet, die festgestellte Mindestzahl tatsächlich zu belegen. So hat die Strafkammer im Rahmen der Strafzumessung selbst ausgeführt:

"Die Kammer konnte nicht mit der erforderlichen Sicherheit feststellen, in wie vielen Fällen und vor allem in welchen Fällen es (über das Streicheln des nackten Penis hinaus) zusätzlich zu weiteren Handlungen wie Zungenküssen oder Masturbation oder gegenseitige(r) Handbefriedigung gekommen ist"

Es kann nämlich nicht ausgeschlossen werden, dass sich unterschiedliche sexuelle Handlungen mit anderen im Rahmen einer natürlichen Handlungseinheit überdecken, Handlungen teilweise auch im Rahmen der oben näher dargestellten vier konkretisierten Fällen ausgeführt worden waren und deshalb davon zum Teil umfasst sind. Dies gilt insbesondere soweit im Sachverhalt geschildert wechselseitige Befriedigungen stattfanden. Nach den bisherigen Feststellungen ist zwar davon auszugehen, dass es zu weit mehr Taten als den vier genannten Fällen gekommen ist, die bisherigen Feststellungen reichen insoweit aber nicht aus, dass durch das Revisionsgericht selbst eine bestimmte Zahl an weiteren Fällen als Mindestanzahl festgelegt werden könnte. Da nähere Feststellungen durch das Tatgericht dazu noch als möglich erscheinen, würde dadurch im Übrigen unter Umständen auch der Weg für die Feststellung weiterer Fälle und damit des tatsächlichen Schuldumfangs verbaut werden.

Es muss deshalb dem Tatgericht überlassen bleiben, nähere Feststellungen unter Anwendung des Grundsatzes "in dubio pro reo" zu treffen, die Grundlage für eine weitere Schätzung (Berechnung) der Mindestanzahl der Einzeltaten sein können, etwa durch Vernehmungen der Eltern zur Anzahl der Besuche bei oder von dem Angeklagten und des Geschädigten durch Eingrenzung der Circa-Angaben, z.B. hinsichtlich der Mindestdauer des Frankreichurlaubs und der Mindestzahlen zu der Angabe "fast täglich".

c) Die Aufhebung des Schuldspruchs in dem bezeichneten Umfang bedingt die Aufhebung des Strafausspruchs insgesamt, weil der Senat nicht ausschließen kann, dass die Strafzumessung der im Übrigen rechtsfehlerfrei dargestellten vier Fälle (zwei minder schwere Fälle, ein Regelfall, ein besonders schwerer Fall) durch die Anzahl der Taten insgesamt beeinflusst worden ist.

3. Im Übrigen weist der Senat auf Folgendes hin:

a) Die Annahme eines besonders schweren Falles nach § 176 Abs.3 StGB a.F. in dem Fall des Oralverkehrs mit Samenerguss ist grundsätzlich nicht zu beanstanden. Die von der Verteidigung zitierte Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 26.7.2005 - 5 StR 256/05 - steht dem nicht entgegen. In dieser Entscheidung weist der Bundesgerichtshof lediglich darauf hin, dass als benannter Strafschärfungsgrund nach § 176 Abs.3 a. F. nur der Beischlaf genannt ist. Das schließt aber nicht aus, den Oralverkehr, so wie bisher schon in Rechtsprechung und Literatur angenommen, als unbenannten besonders schweren Fall zu beurteilen (vgl. Lackner/Kühl StGB 22.Aufl. § 176 Rn.8; Tröndle StGB 48. Aufl. § 176 Rn. 15 a.E.; BGHR StGB §176 Abs.3 Strafrahmenwahl 8).

Hinzweisen ist allerdings darauf, dass diese Verhaltensweise nunmehr in § 176a Abs. 1 Nr.1 StGB n.F. als dem Beischlaf ähnliche sexuelle Handlung, die mit einem Eindringen in den Körper verbunden ist, erfasst ist (Tröndle/Fischer 53. Aufl. § 176a Rn.7; BGHSt 45,131 = BGH NJW 1999, 2977). Nach § 176a Abs. 4 StGB ist in minderschweren Fällen des Absatzes 1 ein Strafrahmen von drei Monaten bis zu fünf Jahren vorgesehen. In diesem Fall wäre deshalb - soweit ein minderschwerer Fall des Oralverkehrs anzunehmen wäre - nach der vorzunehmenden konkreten Betrachtung des Einzelfalls gemäß § 2 Abs.3 StGB diese Vorschrift gegenüber § 176 Abs.3 StGB a. F. das mildere Gesetz (vgl. dazu auch BGH NStZ-RR 1999, 321; 1999, 323; NStZ 2000, 49/50).

b) Dies gilt auch soweit die Strafkammer im Fall des Oralverkehrs ohne Samenerguss einen Regelfall nach § 176 Abs. 1 StGB a. F. angenommen hat, der einen Strafrahmen von sechs Monaten bis zu zehn Jahren, in minderschweren Fällen Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe vorsieht. Der Oralverkehr ist auch ohne Samenerguss in § 176a Abs. 1 StGB n. F. als schwerer sexueller Missbrauch ausgestaltet, der wiederum in minderschweren Fällen des Absatzes 1 nach § 176a Abs. 4 StGB einen Strafrahmen von drei Monaten bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe aufweist. Bei dieser Fallgestaltung wäre deshalb, soweit kein minderschwerer Fall des § 176 Abs. I StGB a.F. anzunehmen ist, § 176a Abs.4 i.V.m. Abs. 1 StGB n. F. das mildere Gesetz.

c) Im Rahmen der Strafzumessung hat die Strafkammer wiederholt auf das Vorliegen eines "homosexuellen Verhältnisses" abgestellt. So führt sie bei der Strafrahmenwahl aus: "Die orale Befriedigung, auch wenn es nicht zum Samenerguss gekommen ist, stellt einen erheblichen Eingriff dar. Dies gilt erst recht, wenn dies in einer den Jungen prägenden Phase in einem homosexuellen Verhältnis passiert" sowie "in der oralen Befriedigung bis zum Samenerguss, zumal in einem homosexuellen Verhältnis, sieht die Kammer einen Fall des Missbrauchs, der dem vollzogenen Beischlaf gleichzustellen ist". Bei der Gesamtstrafenbildung führt die Strafkammer aus "es handelte sich um ein homosexuelles Verhältnis, zudem in einer Phase, in der die Sexualität des Geschädigten geprägt wird."

Diese Formulierungen lassen besorgen, dass die Homosexualität selbst als straferschwerend gewertet wurde. Rechtsgut des § 176 StGB ist zwar die ungestörte Entwicklung der sexuellen Identität und damit die Fähigkeit einer Person, über ihr Sexualverhalten selbst zu bestimmen. Die Tat ist insoweit abstraktes Gefährdungsdelikt (BGHSt 38, 69; Tröndle/Fischer § 176 Rn. 2; siehe auch § 182 Rn. 3). Die allgemeine Gefahr der Störung der sexuellen Entwicklung, die Strafzweck ist, darf deshalb im Rahmen der Strafzumessung nicht zu Lasten des Angeklagten gewertet werden (§ 46 Abs. 3 StGB; Tröndle Fischer § 176 Rn. 36; BGH bei Pfister NStZ 2000, 363 Nr. 68; BGH Beschluss v. 20.8.2003 - 2 StR 285/03). Strafzumessungsrelevant kann danach nur ein verursachter konkreter Folgeschaden sein (Tröndle/Fischer aaO). Insbesondere gilt, nachdem durch das 29.Strafänderungsgesetz vom 31.5.1994 § 175 StGB aufgehoben worden ist, dass die Homosexualität als solche nach der Bewertung des Gesetzgebers kein Strafzumessungskriterium sein darf (Tröndle/Fischer § 176 Rn. 37; /SchönkeSchröder/Lenckner/ Perron StGB 26.Aufl. § 176 Rn. 21; vgl. auch BGHR StGB § 182 Unrechtskontinuität 1), weil auch insoweit nur die ungestörte sexuelle Entwicklung angesprochen wird.

Ende der Entscheidung

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