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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Naumburg
Urteil verkündet am 27.01.2003
Aktenzeichen: 1 U 101/02
Rechtsgebiete: StVG, PflVG, BGB, EGZPO, ZPO


Vorschriften:

StVG §§ 7 ff
StVG § 7 Abs. 2 a.F.
StVG § 8a Abs. 1
PflVG § 3
BGB § 823 Abs. 1
BGB § 844 Abs. 1
EGZPO § 26 Nr. 7
EGZPO § 26 Nr. 8
ZPO § 91 Abs. 1
ZPO § 313 a Abs. 1 S. 1 n.F.
ZPO § 540 Abs. 2
ZPO § 543 Abs. 2 n.F.
ZPO § 708 Nr. 10
ZPO § 711 S. 1
ZPO § 713
1. Voraussetzung für einen Schadensersatzanspruch aus unerlaubter Handlung ist das Vorliegen einer Handlung i. S. eines der Bewusstseinskontrolle und Willenslenkung unterliegenden und mithin beherrschbaren menschlichen Tuns. Die Handlungsqualität einer Lenkbewegung eines Fahrzeugführers nach einer Kollision mit einem Reh kann zweifelhaft sein.

2. Die Darlegungs- und Beweislast für die Handlungsqualität trägt der Geschädigte.

3. Ein unmittelbar vor der Kollision mit dem Reh zwar Schreck bedingtes, aber gleichwohl mehr oder weniger bewusst eingeleitetes "Ausweichmanöver" eines Fahrzeugführers stellt regelmäßig keine fahrlässige Herbeiführung eines Schadenfalls dar. Es entspricht grundsätzlich verkehrsüblicher Sorgfalt, einen bevorstehenden Frontalzusammenstoß mit einem Wildtier, wie hier einem ausgewachsenen Reh, zu vermeiden. Diese Bewertung ist auch nicht deshalb in ihr Gegenteil zu verkehren, wenn der Rettungsversuch mangels ausreichender Reaktionszeit erfolglos geblieben ist.


OBERLANDESGERICHT NAUMBURG IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

1 U 101/02

verkündet am: 27.01.2003

In dem Rechtsstreit

hat der 1. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Naumburg durch den Vizepräsidenten des Oberlandesgerichts Zink und die Richter am Oberlandesgericht Wiedemann und Grimm auf die mündliche Verhandlung vom

27. Januar 2003

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung der Beklagten wird das am 1. Oktober 2002 verkündete Urteil des Landgerichts Dessau, 4 O 444/02, abgeändert und die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits in beiden Instanzen haben die Kläger zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen. Die Beschwer der Kläger übersteigt 20.000,00 EUR nicht.

Von der Darstellung eines Tatbestandes wird nach §§ 540 Abs. 2, 313 a Abs. 1 S. 1 ZPO n.F. abgesehen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Beklagten ist zulässig; insbesondere wurde sie form- und fristgemäß eingelegt und begründet. Sie hat auch in der Sache Erfolg.

Entgegen der Ansicht des Landgerichts haben die Kläger gegen die Beklagten schon dem Grunde nach keinen Anspruch auf Schadenersatz.

1. Der von den Klägern geltend gemachte Anspruch auf Ersatz der Beerdigungskosten ergibt sich nicht aus der Gefährdungshaftung nach §§ 7 ff StVG. Die Haftung des Halters bzw. Fahrzeugführers aus den Vorschriften des StVG ist begrenzt; u.a. haftet ein Halter oder Fahrzeugführer für Personenschäden der Insassen seines Fahrzeuges nach § 8a Abs. 1 StVG in der zum Unfallzeitpunkt geltenden Fassung nur, wenn er diese Personen entgeltlich und geschäftsmäßig befördert hat. Die durch den Verkehrsunfall vom 5. Mai 2001 getötete Tochter der Kläger war Fahrzeuginsassin in dem vom Beklagten zu 1) geführten Pkw, ohne dass es sich hierbei um eine gewerbsmäßige Personenbeförderung gehandelt hätte.

2. Ein Anspruch der Kläger gegen die Beklagten lässt sich - entgegen der Auffassung des Landgerichts - auch nicht aus Deliktsrecht, insbesondere §§ 823 Abs. 1, 844 Abs. 1 BGB, hinsichtlich der Beklagten zu 2) i.V.m. § 3 PflVG begründen.

2.1. Die Kläger haben schon nicht bewiesen, dass dem Beklagten zu 1) eine "Handlung", d.h. ein der Bewusstseinskontrolle und Willenslenkung unterliegendes, beherrschbares Verhalten zur Last liegt. Es ist nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht auszuschließen, dass das "Ausweichmanöver" des Beklagten zu 1) als unwillkürlicher Reflex durch die Kollision mit dem Reh ausgelöst worden ist.

Erste Voraussetzung für einen Schadenersatzanspruch aus unerlaubter Handlung, wie er von den Klägern gegen die Beklagten geltend gemacht wird, ist eine Handlung der in § 823 Abs. 1 BGB bezeichneten Art. Das ist ein menschliches Tun, das der Bewusstseinskontrolle und Willenslenkung unterliegt und somit beherrschbar ist. Keine Handlung sind daher körperliche Bewegungen, die unter physischem Zwang ausgeführt oder als unwillkürlicher Reflex durch fremde Einwirkung ausgelöst werden (vgl. nur BGHZ 39, 103 ff m.w.N.).

Ob im vorliegenden Falle dem "Ausweichmanöver" des Beklagten zu 1) ein willensabhängiges selbsttätiges Handeln zugrunde liegt, ist offen. Etwas Anderes ergibt sich insbesondere nicht aus dem Gutachten der D. GmbH vom 6. März 2002, welches im Ermittlungsverfahren 561 Js 14340/01 der Staatsanwaltschaft Dessau eingeholt worden war und im vorliegenden Zivilprozess im Wege des Urkundsbeweises verwertet wird.

Nach dem Inhalt dieses Gutachtens hat - was zwischen den Parteien des Rechtsstreits (entgegen der insoweit nicht eindeutigen Darstellung im Tatbestand des erstinstanzlichen Urteils) auch unstreitig ist - eine Kollision mit einem Reh stattgefunden. Der Sachverständige der D. hat zwar ausgeschlossen, dass der vom Beklagten zu 1) geführte Pkw allein wegen des Zusammenstoßes mit dem Reh instabil geworden sei (vgl. S. 17 des Gutachtens, entspricht Bl. 38 Anlagenband; künftig: vgl. S. 17 / Bl. 38 Anl.Bd.); er konnte hieraus jedoch nur den Schluss ziehen, dass der Beklagte zu 1) eine Lenkbewegung ausgeführt haben muss (vgl. S. 26 / Bl. 47 Anl.Bd.). Ob diese Lenkbewegung nach links evtl. durch den Stoß bewirkt wurde, der mit der rechtsseitigen Kollision des Kfz. mit dem Reh entstanden war, oder ggfs. eine reflexartige Reaktion des Beklagten zu 1) darstellte, war für den Sachverständigen weder positiv feststellbar noch ausschließbar. Denn es entspricht auch allgemeiner Lebenserfahrung, dass selbst ein mechanisch geringes Trauma eine Schreck- bzw. Schutzreflexreaktion, wie hier ggfs. ein Verreißen des Lenkrades, auslösen kann. Im nachfolgenden Gutachten hatte der Sachverständige der D. sodann "zugunsten" des hiesigen Beklagten zu 1) "unterstellt", dass dieser die bevorstehende Kollision durch ein bewusstes Ausweichmanöver nach links habe verhindern wollen (vgl. S. 24 / Bl. 45 Anl.Bd.). Diese bloße Unterstellung liegt letztlich dem Sachvortrag der Kläger und - trotz Bestreitens durch die Beklagten und mithin jedenfalls fehlerhaft - auch der Tatsachenfeststellung im erstinstanzlichen Urteil zugrunde.

Die Kläger haben für ihre Behauptung weiteren Beweis nicht angeboten; eine weitere Sachaufklärung dieser Frage ist aber ohnehin nicht möglich. Die Zeugen des Verkehrsunfalls sind unmittelbar nach dem Unfall polizeilich vernommen worden; sie haben damals keinerlei Angaben dazu machen können, ob der Beklagte zu 1) bewusst auf das plötzlich vor seinem Pkw auftauchende Reh reagiert habe. Der Beklagte zu 1) hatte auf anwaltlichen Rat von seinem Aussageverweigerungsrecht als Beschuldigter Gebrauch gemacht; inzwischen bestreitet er die Handlungsqualität des "Ausweichmanövers". Der Sachverständige der D. hat einerseits festgestellt, dass die Kollision mit dem Reh mangels vorheriger Erkennbarkeit und mithin mangels Reaktionszeit zur bewussten Reaktion objektiv unvermeidbar war (vgl. S. 15 f. und 25 / Bl. 36 f. und 45 Anl.Bd.); andererseits hat er bekundet, dass die Reaktion des Beklagten auf die Kollision nicht rekonstruierbar sei, weil es an verwertbaren Spuren über die Fahrzeugbewegung im Bereich zwischen dem Kollisionspunkt und dem Beginn der Schleuderspurzeichnung (Punkt 10 in den Unfallrekonstruktionsskizzen des Sachverständigen, Bl. 53, 55, 56 Anl.Bd.) fehlt (vgl. S. 19 / Bl. 40 Anl.Bd.).

Kann sich der Tatrichter, wie hier der Senat, nicht davon überzeugen, dass ein selbsttätiges Handeln des angeblichen Schädigers, hier des Beklagten zu 1), vorgelegen hat, so muss dass zum Nachteil des Geschädigten, hier der Kläger, ausfallen, weil diese die Beweislast für das Vorhandensein der Voraussetzungen tragen, an die das Gesetz die von den Klägern geltend gemachte Rechtsfolge einer Schadenshaftung der Beklagten knüpft (vgl. auch BGHZ 39, 103 ff; BGHZ 98, 135 ff.).

2.2. Selbst wenn dem "Ausweichmanöver" des Beklagten zu 1) Handlungsqualität beizumessen wäre, wovon der Senat - wie zuvor ausgeführt - nicht ausgeht, hätten die Kläger jedenfalls ein schuldhaftes, d.h. mindestens fahrlässiges Verhalten des Beklagten zu 1) nicht bewiesen. Denn selbst ein unmittelbar vor der Kollision mit dem Reh zwar Schreck bedingtes, aber gleichwohl mehr oder weniger bewusst eingeleitetes "Ausweichmanöver" des Beklagten zu 1) stellt keine fahrlässige Herbeiführung eines Schadenfalls dar (vgl. LG Coburg, Urt. V. 19.12.2000, 22 O 709/00 - zitiert nach juris). Vielmehr entspricht es verkehrsüblicher Sorgfalt, einen bevorstehenden Frontalzusammenstoß mit einem Wildtier, wie hier einem ausgewachsenen Reh, grundsätzlich zu vermeiden. Diese Bewertung ist auch nicht deshalb in ihr Gegenteil zu verkehren, weil der Rettungsversuch mangels ausreichender Reaktionszeit erfolglos geblieben ist.

Dem steht die Feststellung des Sachverständigen der D. im Ermittlungsverfahren nicht entgegen, dass die Kollision des Kfz. mit dem Baum objektiv nur dadurch hätte vermieden werden können, dass der Beklagte zu 1) eine Vollbremsung ohne Lenkmanöver vollzogen hätte (vgl. S. 26 und 29 / Bl. 47 und 50 Anl.Bd.). Daraus ist rechtlich zwar zu folgern, dass der Unfall kein unabwendbares Ereignis i.S.v. § 7 Abs. 2 StVG a.F. ist, worauf es nach den Ausführungen unter Abschnitt 2.1. dieser Entscheidungsgründe nicht ankommt. Die Nichterfüllung der Anforderungen an einen so genannten "Idealfahrer" steht jedoch einer Nichterfüllung verkehrsüblicher Sorgfaltspflichten nicht gleich.

3. Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsstreits beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO.

Die weiteren Nebenentscheidungen ergeben sich aus § 26 Nrn. 7 und 8 EGZPO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 S. 1, 713 sowie 543, 544 Abs. 1 S. 1 ZPO n.F.. Da die mündliche Verhandlung im Berufungsverfahren nach dem 01. Januar 2002 erfolgte, richtet sich die Zulässigkeit von Rechtsmitteln gegen diese Entscheidung nach der nunmehr geltenden Fassung der ZPO, was bereits bei Abfassung des Berufungsurteils zu berücksichtigen war.

Die Revision nach § 543 Abs. 2 ZPO n.F. war nicht zuzulassen, da die Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung hat noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert.

Ende der Entscheidung

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