Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Naumburg
Beschluss verkündet am 17.05.2006
Aktenzeichen: 1 Verg 3/06
Rechtsgebiete: VOF, GWB


Vorschriften:

VOF § 10 Abs. 2
VOF § 17 Abs. 5
GWB § 107
GWB § 107 Abs. 2
GWB § 118
GWB § 124 Abs. 2
1. Für die Zulässigkeit eines Nachprüfungsantrages kann es nicht i.S. einer übergesetzlichen Verfahrensvoraussetzung darauf ankommen, ob die Art und Weise der Rechtsverfolgung von der Nachprüfungsinstanz als zweckmäßig oder konsequent angesehen wird oder nicht. Insbesondere ist es nicht maßgeblich, ob das Unternehmen, welches die Aufhebung einer Ausschreibung zur Nachprüfung stellt, die Neuausschreibung desselben Auftrags gerügt und ebenfalls zur Nachprüfung gestellt hat (entgegen OLG Koblenz, Beschluss vom 10. April 2004, 1 Verg 1/03, und VK Leipzig, Beschlüsse vom 2. September 2005, 1/SVK/108-05, und vom 9. Mai 2006, 1/SVK/035-06).

2. Zur Vergaberechtswidrigkeit des "Abbruchs" eines Verhandlungsverfahrens nach der formellen Prüfung und Bewertung der (ersten) Angebote ohne Aufnahme von Auftragsverhandlungen wegen des Mangels an mehreren Bietern.


OBERLANDESGERICHT NAUMBURG Beschluss

1 Verg 3/06 OLG Naumburg

verkündet am: 17. Mai 2006

In dem Vergabenachprüfungsverfahren (Beschwerdeverfahren)

betreffend die u.a. im Supplement zum Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften vom 24. Februar 2005 (ABl. S-39) ausgeschriebene Vergabe des Dienstleistungsauftrags "Architektenleistungen und Fachingenieurleistungen zum Umbau und zur Umnutzung eines ehemaligen Silo-Getreidespeichers und eines Boden-Getreidespeichers zu einer Denkfabrik (Büronutzung mit bis zu 20 % Wohnnutzung",

hat der Vergabesenat des Oberlandesgerichts Naumburg durch den Vizepräsidenten des Oberlandesgerichts Zink, den Richter am Oberlandesgericht Wiedemann und den Richter am Landgericht Nolte auf die mündliche Verhandlung vom

17. Mai 2006

beschlossen:

Tenor:

Die sofortige Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss der 2. Vergabekammer beim Landesverwaltungsamt des Landes Sachsen-Anhalt vom 3. März 2006, 2 VK LVwA 2/06, wird zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Auslagen der Antragstellerin zu tragen.

Der Geschäftswert des Beschwerdeverfahrens wird auf 50.000,00 EUR festgesetzt.

Gründe:

I.

Die Antragsgegnerin, eine Kapitalgesellschaft privaten Rechts, die mit der Landeshauptstadt Magdeburg einen Entwicklungsträgervertrag geschlossen hat, wonach sie als Entwicklungsträgerin die ihr von der Stadt übertragenen Aufgaben nach deren Beschlüssen und Weisungen im eigenen Namen für die Rechnung der Stadt als deren Treuhänderin ausführt, schrieb im Februar 2005 den oben genannten Dienstleistungsauftrag EU-weit im Verhandlungsverfahren mit vorherigem Teilnahmewettbewerb auf der Grundlage der Verdingungsordnung für freiberufliche Leistungen (VOF) - Ausgabe 2002 - zur Vergabe aus. Der Auftrag hat mindestens einen Netto-Auftragswert von 1 Mio. EUR.

Nach dem Inhalt der Vergabebekanntmachung (Ziffer IV.4.) sollten mindestens drei Unternehmen zur Angebotsabgabe aufgefordert werden.

Bis zum Ende der Bewerbungsfrist gingen 114 Teilnahmeanträge ein, darunter auch eine Bewerbung der Antragstellerin.

Die Antragsgegnerin hatte zunächst zehn Bewerber zur Beteiligung am Verhandlungsverfahren ausgewählt; die Antragstellerin war nicht darunter. Im Rahmen eines von einem anderen nicht berücksichtigten Bewerber eingeleiteten Nachprüfungsverfahrens ordnete die 2. Vergabekammer beim Landesverwaltungsamt des Landes Sachsen-Anhalt mit Beschluss vom 14. September 2005, 2 VK LVwA 30/05, eine Wiederholung des Auswahlverfahrens an, weil die Antragsgegnerin einerseits unter Verstoß gegen die bekannt gemachten Bewerbungsbedingungen auch nach Ablauf der Bewerbungsfrist nachgereichte Eignungsnachweise einiger Bewerber zugelassen und andererseits das Fehlen von solchen von ihr geforderten Eignungsnachweisen außer Betracht gelassen hatte.

Nach der erneuten und unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung der Vergabekammer durchgeführten Prüfung und Bewertung der Bewerbungsunterlagen verblieben lediglich zwei Bewerber, darunter die Antragstellerin, die die geforderte Eignung aufwiesen.

Am 7. Dezember 2005 forderte die Antragsgegnerin die beiden ausgewählten Bewerber zur Abgabe eines Honorarangebotes auf. Innerhalb der von der Antragsgegnerin gesetzten Angebotsfrist sollten diverse Eigenerklärungen und Nachweise abgegeben werden. Beide Bieter gaben jeweils ein Angebot ab.

Im Rahmen der formalen Angebotswertung schloss die Antragsgegnerin das Angebot des Mitbewerbers der Antragstellerin wegen Unvollständigkeit der Angebotsunterlagen aus. Das Angebot der Antragstellerin bewertete sie als vollständig. Eine inhaltliche Bewertung des Angebots der Antragstellerin nahm sie jedoch nicht mehr vor; auch nahm sie keine Auftragsverhandlungen mit der Antragstellerin auf. Unter Punkt 5.2. der Vergabedokumentation begründete die Antragsgegnerin dies damit, dass dem Angebot nicht zu entnehmen sei, welche Niederlassung sich um den Auftrag beworben habe, und dass Klärungsbedarf bezüglich der Vertretungsregelungen für das qualifizierte Personal bestehe. Die Antragsgegnerin beschloss, das Vergabeverfahren aufzuheben und eine Neuausschreibung vorzunehmen. Bei Vorliegen nur eines wertbaren Angebots finde kein Wettbewerb mehr statt. Im Übrigen lägen weitere Mängel des Angebots vor, so z.Bsp. fehle eine Darstellung der Optimierungsmöglichkeiten für Kosten und Termine; die angebotenen Leistungen der Bauüberwachung erschienen als zu gering.

Die Antragsgegnerin teilte der Antragstellerin mit Schreiben vom 5. Januar 2006 mit, dass sie nach § 17 Abs. 5 VOF die Ausschreibung "abbreche" und das Vergabeverfahren neu einleiten werde. Das mit einfacher Post versandte Schreiben ging der Antragstellerin am 9. Januar 2006 zu.

Am 3. Januar 2006 sandte die Antragsgegnerin die Vergabebekanntmachung für die erneute Ausschreibung desselben Auftrags im beschleunigten Verhandlungsverfahren mit vorherigem Teilnahmewettbewerb ab; diese wurde u.a. Supplement zum Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften vom 6. Januar 2006 (ABl. S-3) veröffentlicht. Die Antragsgegnerin gab an, mindestens mit drei Bewerbern, höchstens mit fünf Bewerbern Auftragsverhandlungen durchzuführen (Ziffer IV.1.2.).

Mit Fax-Schreiben vom 13. Januar 2006 rügte die Antragstellerin gegenüber der Antragsgegnerin, dass die Entscheidung für einen Verzicht auf die Auftragserteilung hier vergaberechtswidrig sei, weil es an einem sachlichen Grund für den Verzicht fehle. Die Antragstellerin wies weiter darauf hin, dass es angesichts der ungeklärten Frage der Wirksamkeit des Verzichts auf die Auftragserteilung "als äußerst problematisch" erscheine, ein neues Vergabeverfahren einzuleiten. Die Antragsgegnerin half dieser Rüge nicht ab.

Mit Schriftsatz vom 30. Januar 2006 hat die Antragstellerin die Einleitung eines Nachprüfungsverfahrens bei der 2. Vergabekammer beim Landesverwaltungsamt Sachsen-Anhalt mit dem Ziel beantragt, dass die Antragsgegnerin verpflichtet werden möge, das am 17. Februar 2005 begonnene Vergabeverfahren unter Beachtung der Rechtsauffassung der Vergabekammer fortzuführen.

Die Vergabekammer hat dem Nachprüfungsantrag der Antragstellerin nach mündlicher Verhandlung am 22. Februar 2006 durch Beschluss vom 3. März 2006 stattgegeben. Sie stützt ihre Entscheidung im Wesentlichen darauf, dass der Verzicht der Antragsgegnerin auf die Fortführung des Verhandlungsverfahrens durch die Aufnahme von Auftragsverhandlungen gegen vergaberechtliche Grundprinzipien, insbesondere gegen das Diskriminierungsverbot verstoße. Die Antragsgegnerin könne sich insbesondere nicht willkürfrei darauf berufen, dass bei Fortführung des Verhandlungsverfahrens mit nur einem Unternehmen kein Wettbewerb mehr stattfinde.

Gegen diese ihr am 9. März 2006 zugestellte Entscheidung richtet sich die mit Schriftsatz vom 23. März 2006 erhobene und am selben Tage beim Oberlandesgericht Naumburg eingegangene sofortige Beschwerde der Antragsgegnerin.

Die Antragsgegnerin ist u.a. der Meinung, dass die Vergabekammer ihre Kontrollbefugnisse überschritten habe: Im Hinblick auf einen Verzicht auf Fortführung der Ausschreibung sei die Vergabekammer lediglich zur Überprüfung der Ermessensausübung der Antragsgegnerin berechtigt. Unter Berücksichtigung des Leitbildes von § 10 Abs. 2 VOF könne es nicht ermessensfehlerhaft sein, Auftragsverhandlungen abzubrechen, für die nur ein Bieter zur Verfügung stehe. Der Verzicht auf die Fortführung der Ausschreibung sei nicht diskriminierend, weil der Antragstellerin die Chance einer Neubewerbung in dem im Januar 2006 eingeleiteten Vergabeverfahren offen stehe.

Im Übrigen fehle der Antragstellerin die Antragsbefugnis im Nachprüfungsverfahren, weil sie sich nicht zugleich mit einem Nachprüfungsantrag gegen die Neuausschreibung desselben Auftrages gewandt habe.

Wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt der Beschwerdeschrift vom 23. März 2006 (GA Bl. 13 ff.), sowie - ergänzend - auf den Inhalt der Schriftsätze vom 25. April 2006 (GA Bl. 74 ff.) sowie vom 15. Mai 2006 (Fax, GA Bl. 94 ff.) Bezug genommen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Beschluss der 2. Vergabekammer beim Landesverwaltungsamt Sachsen-Anhalt vom 3. März 2006, 2 VK LVwA 2/06, aufzuheben und den Nachprüfungsantrag der Antragstellerin zurückzuweisen.

Die Antragstellerin beantragt,

die sofortige Beschwerde der Antragsgegnerin zurückzuweisen.

Sie verteidigt im Wesentlichen die angefochtene Entscheidung und vertieft u.a. die Ansicht, dass im konkreten Fall der Verzicht auf die Fortführung des Vergabeverfahrens gegen die vergaberechtlichen Grundsätze des Willkür- und Diskriminierungsverbots verstoße. Wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt der Schriftsätze vom 5. April 2006 (GA Bl. 61 ff.) und vom 12. Mai 2006 (GA Bl. 88 ff.) Bezug genommen.

Der Senat hat am 17. Mai 2006 einen Termin der mündlichen Verhandlung durchgeführt; wegen des Inhalts der mündlichen Verhandlung wird auf das Sitzungsprotokokoll vom selben Tage Bezug genommen (vgl. GA Bl. 131 f.).

II.

Die sofortige Beschwerde der Antragsgegnerin ist zulässig; sie hat jedoch in der Sache keinen Erfolg.

Die Vergabekammer ist zu Recht von der Begründetheit des Nachprüfungsantrages der Antragstellerin ausgegangen; die von der Antragstellerin erhobene Rüge, dass der Verzicht auf die Fortführung des im Februar 2005 eingeleiteten Vergabeverfahrens (künftig: ursprüngliches Verfahren) vergaberechtswidrig sei, ist begründet.

1. Das Rechtsmittel der Antragsgegnerin ist zulässig. Es wurde frist- und formgerecht (§ 117 Abs. 1 bis 3 GWB) beim zuständigen Gericht (§ 116 Abs. 3 S. 1 GWB) eingelegt. Die auch im Beschwerdeverfahren von Amts wegen zu prüfenden allgemeinen Voraussetzungen für die Durchführung eines Nachprüfungsverfahrens (§§ 98 bis 100, 102, 107 Abs. 1, 108 GWB) liegen vor.

2. Der Nachprüfungsantrag der Antragstellerin ist entgegen dem Vorbringen der Antragsgegnerin im Beschwerdeverfahren zulässig. Der Antragstellerin fehlt es insbesondere nicht an einem Rechtsschutzbedürfnis für ihren Nachprüfungsantrag.

Für die Frage nach dem Rechtsschutzbedürfnis für eine vergaberechtliche Nachprüfung ist vor allem auf die Regelungen des § 107 GWB abzustellen. Auch die Antragsgegnerin stellt nicht in Abrede, dass die Antragstellerin ein Interesse am Auftrag aus der ursprünglichen Ausschreibung hat, dass sie eine subjektive Rechtsverletzung durch den vermeintlich vergaberechtswidrigen Verzicht auf die Fortführung des ursprünglichen Vergabeverfahrens geltend macht und dass der Verzicht ihre Chancen auf Auftragserteilung im ursprünglichen Vergabeverfahren zunichte macht. Unzweifelhaft hat die Antragstellerin im Hinblick auf das ursprüngliche Vergabeverfahren auch ihrer Rügeobliegenheit genügt. Das von ihr verfolgte Antragsziel ist im Rahmen des Primärrechtsschutzes statthaft.

Jede weitere Beschränkung des Zugangs zum Primärrechtsschutz ohne gesetzliche Grundlage begegnet erheblichen Bedenken des Senats.

Die Unzulässigkeit eines Nachprüfungsantrags kann grundsätzlich und so auch hier nicht aus dem Verhalten in einem anderen Vergabeverfahren hergeleitet werden. Gegenstand dieser Nachprüfung ist das ursprüngliche Vergabeverfahren; dieses bildet auch den Maßstab für die Zulässigkeitsprüfung.

Jedenfalls kann es für die Zulässigkeit eines Nachprüfungsantrages nicht i.S. einer Verfahrensvoraussetzung darauf ankommen, ob die Art und Weise der Rechtsverfolgung von der Nachprüfungsinstanz als zweckmäßig oder konsequent angesehen wird oder nicht. Es fällt in die Risikosphäre der Antragstellerin, falls sie keinen sicheren Weg der Rechtsverfolgung wählt; dies macht die Rechtsgewährung hinsichtlich des u.U. mit Unwägbarkeiten verbundenen Rechtsbegehrens jedoch nicht entbehrlich. Schließlich ist die Zulässigkeit eines Nachprüfungsantrags bzw. einer sofortigen Beschwerde auch nicht davon abhängig, ob der Antragsteller bzw. Beschwerdeführer die Möglichkeiten des einstweiligen Rechtsschutzes überhaupt oder gar in optimaler Weise ausnutzt.

Dem gegenüber fällt es in die Risikosphäre des öffentlichen Auftraggebers, wenn er denselben Auftrag mehrfach ausschreibt. Zivilrechtlich ist selbst ein doppelter Vertragsschluss nicht zu beanstanden. Es ist - insbesondere im hier betroffenen Bereich der Planungs- und Bauüberwachungsleistungen von Architekten oder Ingenieuren - sogar vorstellbar, dass zwei Unternehmen die gleichen Leistungen ausführen und dem Auftraggeber dann mehrere Planentwürfe vorliegen bzw. eine doppelte Bauüberwachung stattfindet. Darauf kommt es aber nicht an. Vergaberechtlich ist - bis auf Fälle der missbräuchlichen Parallelausschreibung - eine zweifache Ausschreibung zulässig, weil die Frage des tatsächlichen Bedarfs bzw. der Zweckmäßigkeit und Sinnhaftigkeit der Ausschreibung grundsätzlich nur haushaltsrechtlich von Bedeutung sind und das Vergaberecht lediglich die Art und Weise und die Spielregeln einer Ausschreibung regelt. Will der Auftraggeber den Auftrag nur einmal erteilen, so muss er gewärtigen, bei Aufhebung bzw. Verzicht im zweiten Vergabeverfahren berechtigten Schadenersatzforderungen eines oder mehrerer Bieter oder Bewerber ausgesetzt zu sein.

Die entgegen gesetzte Auffassung der Vergabekammer des Freistaats Sachsen in ihren Beschlüssen vom 2. September 2005, 1/SVK/108/05, und vom 9. Mai 2006, 1/SVK/035-06, überzeugt nicht. Nach der gefestigten Rechtsprechung der Vergabesenate wäre es der Antragstellerin verwehrt gewesen, die neue Ausschreibung allein mit dem Begehren ihrer Aufhebung anzugreifen, weil ihr mangels Interesses am neu ausgeschriebenen Auftrag die Antragsbefugnis i.S.v. § 107 Abs. 2 GWB fehlte (vgl. Brandenburgisches OLG, Beschluss v. 05.10.2004, Verg W 12/04 - VergabeR 2005, 138 = ZfBR 2005, 84; OLG Celle, Beschluss v. 12.05.2005, 13 Verg 6/05 "Betriebsführungsvertrag" - VergabeR 2005, 654; OLG Dresden, Beschluss v. 11.04.2005, W Verg 0005/05 "Eissport- und Ballspielhalle" - VergabeR 2005, 646).

Der Senat kann diese Frage auch entscheiden, ohne zu einer Divergenzvorlage nach § 124 Abs. 2 GWB verpflichtet zu sein. Der von der Antragsgegnerin angeführten Entscheidung des Oberlandesgerichts Koblenz vom 10. April 2004, 1 Verg 1/03, lag zunächst tatsächlich eine andere Konstellation zugrunde, denn dort war die Antragstellerin zuerst über die Aufhebung der Ausschreibung in Kenntnis gesetzt worden und zeitlich nachlaufend war eine Neuausschreibung erfolgt, die die dortige Antragstellerin nicht gerügt hatte. Hier erfolgte hingegen die Bekanntmachung des Verzichts erst, nachdem die Neuausschreibung bereits durch Absenden der Vergabebekanntmachung eingeleitet war, und die Antragstellerin hat diesen Umstand gegenüber der Antragsgegnerin auch angesprochen. Im Übrigen hat der Vergabesenat die Frage des fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses lediglich in der Funktion eines gerichtlichen Hinweises diskutiert, ohne sich bereits festzulegen. Die abweisende Entscheidung beruhte auf einem anderen Grund, sie wurde auf die offensichtliche Unbegründetheit des Nachprüfungsantrags gestützt. Schließlich aber handelte es sich bei der Entscheidung um eine Entscheidung im Verfahren nach § 118 GWB und mithin um eine vorläufige Bewertung des Sach- und Rechtsstandes.

3. Die Vergabekammer hat zu Recht darauf erkannt, dass der Nachprüfungsantrag der Antragstellerin begründet ist.

Der Senat nimmt zur Vermeidung von Wiederholungen zunächst auf die zutreffenden und durch das Beschwerdevorbringen nicht entkräfteten Gründe der angefochtenen Entscheidung Bezug. Die Antragsgegnerin interpretiert die Entscheidung z.T. verfälschend. Die Vergabekammer hat keineswegs einen Rechtssatz des Inhalts aufgestellt, dass jedem Verzicht auf die Fortführung eines Verhandlungsverfahrens nach VOF eine Auftragsverhandlung vorausgehen müsse oder dass es einem öffentlichen Auftraggeber generell verwehrt sei, die Verhandlungen mit einem Bieter zu beenden, ohne eine Auftragserteilung vorzunehmen. Die Vergabekammer hat lediglich postuliert, dass es vergaberechtswidrig ist, ein eingeleitetes Verhandlungsverfahren aus sachwidrigen Gründen aufzuheben bzw. auf seine Fortführung zu verzichten. In Gesamtschau aller Umstände erscheint der Verzicht auf die Fortführung des ursprünglichen Verhandlungsverfahrens als Scheinaufhebung, weil die Antragsgegnerin nach wie vor denselben Auftrag an einen Dritten vergeben will, wie die erneute Ausschreibung zeigt. Die Vergabekammer hat zu Recht festgestellt, dass die von der Antragsgegnerin angeführten Gründe für den Verzicht sachwidrig sind. Es ist mit den vergaberechtlichen Verfahrensgrundsätzen, insbesondere des Diskriminierungs- und des Willkürverbots nicht vereinbar, ein Vergabeverfahren wegen des Mangels an mehreren geeigneten Bewerbern aufzuheben. Die Antragsgegnerin hat durch die von ihr vorgenommene Auswahl der Eignungsanforderungen und der hierfür verbindlich geforderten Eignungsnachweise den Schwerpunkt des Wettbewerbs in den Bereich der bieterbezogenen Eignungsprüfung verlagert, was bei einer Ausschreibung freiberuflicher Leistungen nach VOF durchaus sinnvoll sein kann, zulässig erscheint und jedenfalls von keinem Bewerber gerügt worden ist. Die geringe Zahl der Verhandlungspartner - hier sogar die Reduzierung auf einen einzigen Bieter - ist notwendige, jedenfalls vorhersehbare Folge dieser Vergabestrategie und rechtfertigt daher nicht, auf die Fortführung des Verhandlungsverfahrens zu verzichten.

Dem steht die von der Antragsgegnerin zitierte Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 16. September 1999, Rs. C-27/98 "Metalmeccanica Fracasso SpA u.a. ./. Amt der Salzburger Landesregierung ..." (NZBau 2000, 153) nicht entgegen. Denn auch der Europäische Gerichtshof vertritt darin die Auffassung, dass zwar der Richtliniengeber das Vergabeverfahren so auszugestalten sucht, dass der Auftraggeber in der Lage ist, verschiedene Angebote miteinander zu vergleichen (Rn. 31), und dass der Auftraggeber jedenfalls nicht verpflichtet ist, den Auftrag dem einzigen Bieter zu erteilen, der für geeignet gehalten wurde, an der Ausschreibung teilzunehmen (Rn. 33). Der Entscheidung kann jedoch nicht entnommen werden, dass der Auftraggeber jederzeit und auch ohne sachliche Gründe berechtigt ist, das Vergabeverfahren aufzuheben, ohne damit gegen vergaberechtliche Grundsätze zu verstoßen. Im Übrigen handelte es sich im entschiedenen Fall um ein nicht offenes Verfahren, in dem Nachverhandlungen zum Inhalt des Angebots gerade unzulässig gewesen wären.

Die Chance der Bewerbung im Rahmen der Neuausschreibung ist gegenüber der Chance auf Auftragserteilung im ursprünglichen Verfahren nicht gleichzusetzen. Dies gilt im vorliegenden Fall umso mehr, als die Antragstellerin ohne eine unverzügliche Nachricht über den Verzicht und die Neuausschreibung nicht mit einer Neuausschreibung rechnen musste und nach Zugang der entsprechenden Benachrichtigung ihre Bewerbungsfrist bereits verkürzt war.

Die Antragsgegnerin kann sich insoweit nicht mit Erfolg auf das Leitbild des § 10 Abs. 2 VOF berufen - sie selbst hat durch die konkrete Gestaltung des Vergabeverfahrens dessen Verlauf vorbestimmt. Entgegen der Behauptung der Antragsgegnerin ist auch eindeutig, dass sich die Antragstellerin mit ihrer Niederlassung Magdeburg beworben hat. Diese Niederlassung hat die Unterlagen abgefordert, ihre Eignung ist geprüft worden und sie ist auch Absender des Angebots. Soweit sich die Antragstellerin z.T., z. Bsp. für das geforderte Vertretungskonzept, auf Ressourcen ihrer Niederlassung in Halle beruft, ist dies zulässig und erfordert dann auch den Nachweis der Verfügbarkeit und der fachlichen Eignung dieser Ressourcen. Alle anderen von der Antragsgegnerin angeführten angeblichen Mängel oder Schwachstellen des vorläufigen Angebots der Antragstellerin können in einem Verhandlungsverfahren regelmäßig und so auch hier nicht ohne Anhörung des Bieters und ohne Einräumung einer Gelegenheit zur Nachbesserung im Rahmen von Auftragsverhandlungen zur Grundlage einer Ausschlussentscheidung gemacht werden.

4. Die Kostenentscheidung im Beschwerdeverfahren beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.

Die Festsetzung des Gegenstandswertes des gerichtlichen Beschwerdeverfahrens erfolgt nach § 50 Abs. 2 GKG. Der Senat legt dabei die Schätzung des Auftragswerts durch die Vergabekammer zugrunde.

Ende der Entscheidung

Zurück