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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Naumburg
Beschluss verkündet am 13.11.2008
Aktenzeichen: 1 Ws 638/08
Rechtsgebiete: StPO, JGG


Vorschriften:

StPO § 112 Abs. 3
StPO § 140 Abs. 1 Nr. 1
StPO § 140 Abs. 1 Nr. 2
StPO § 142 Abs. 1
StPO § 142 Abs. 1 S. 1
StPO § 142 Abs. 1 S. 3, 2. Hs.
StPO § 141 Abs. 4
JGG § 68 Nr. 1
JGG § 109 Abs. 1
1. Bei vollzogener Untersuchungshaft hat eine Abwägung zwischen dem Recht des Angeklagten, in der Hauptverhandlung von dem Verteidiger seines Vertrauens vertreten zu werden, sowie seinem Recht, dass der Vollzug der Untersuchungshaft nicht länger als unbedingt nötig andauert, bei der Bestellung eines Pflichtverteidigers vorrangig stattzufinden. Dies kann dazu führen, dass die Bestellung eines auswärtigen Wahlverteidigers unterbleiben muss, wenn dieser beruflich und terminlich stark eingespannt ist und dies dazu führen könnte, dass nur unter erschwerten Bedingungen mit zeitlichen Verzögerungen Termine zur Durchführung der Hauptverhandlung stattfinden könnten (vgl. OLG Hamm NJW 2006, 2788 [2789]). Als vom Staat zu zahlender Pflichtverteidiger kann aber nur ein Verteidiger beigeordnet werden, der gewährleisten kann, dem Verfahren mit seiner Arbeitskraft weitestgehend zur Verfügung zu stehen (OLG Hamm, NJW 2006, 2788 [2791]).

2. Für die Beurteilung dieser Fragen steht dem Vorsitzenden des Tatgerichts ein Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum zu, der nur eingeschränkt durch das Beschwerdegericht überprüfbar ist (OLG Hamburg, NJW 2006, 2792 [2793]).


OBERLANDESGERICHT NAUMBURG BESCHLUSS

1 Ws 638/08 OLG Naumburg

In dem Ermittlungsverfahren

wegen des Verdachts des versuchten Totschlags

hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Naumburg am 13. November 2008 durch

den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Krüger, den Richter am Oberlandesgericht Sternberg und den Richter am Amtsgericht Sarunski

beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde des Beschuldigten gegen die Entscheidung des Vorsitzenden der 2. Strafkammer - Jugendkammer - des Landgerichts Dessau-Roßlau vom 28. Oktober 2008 (2 AR 9/08) wird als unbegründet verworfen.

Gründe:

Der Beschuldigte befindet sich derzeit aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Dessau-Roßlau vom 25. August 2008 (12 Gs 70/08), der auf den dringenden Tatverdacht des versuchten gemeinschaftlichen Totschlags und den Haftgrund der Schwere der Tat nach § 112 Abs. 3 StPO gestützt ist, in Untersuchungshaft.

Mit der angefochtenen Entdcheidung hat der Vorsitzende der 2. Strafkammer - Jugendkammer - des Landgerichts Dessau-Roßlau den Antrag des Beschuldigten, ihm seinen Wahlverteidiger, Rechtsanwalt F. aus B. , zum Pflichtverteidiger zu bestellen, zurückgewiesen und ihm stattdessen Rechtsanwalt N. aus W. gemäß §§ 68 Nr. 1, 109 Abs. 1 JGG; 140 Abs. 1 Nr. 1, 2 StPO zum Pflichtverteidiger bestellt. Dagegen richtet sich die im Namen des Beschuldigten mit Schriftsatz von Rechtsanwalt F. erhobene Beschwerde vom 31. Oktober 2008, mit der die Entpflichtung von Rechtsanwalt N. als Pflichtverteidiger und statt seiner die Beiordnung von Rechtsanwalt F. als Pflichtverteidiger begehrt wird.

Die Beschwerde ist zulässig; sie hat in der Sache jedoch keinen Erfolg.

Der Senat hat den Sachverhalt erneut geprüft und kommt zum gleichen Ergebnis wie das Landgericht in seiner angefochtenen Entscheidung. Weil das Beschwerdevorbringen die Gründe dieser Entscheidung nicht entkräftet oder wesentlich abschwächt, nimmt der Senat zunächst auf diese Bezug, um Widerholungen zu vermeiden und führt ergänzend aus:

Die Pflichtverteidigung dient dem Zweck, im öffentlichen Interesse dafür zu sorgen, dass der Beschuldigte in schwerwiegenden Fällen rechtskundigen Beistand erhält und der prozessordnungsgemäße Verfahrensablauf gewährleistet ist, zu dem auch eine wirksame Verteidigung gehört. Die Vorschriften über die notwendige Mitwirkung und die Bestellung eines Verteidigers stellen sich damit als Konkretisierung des Rechtsstaatsprinzips in seiner Ausgestaltung als Gebot fairer Verfahrensführung dar. Der verfassungsrechtlich verbürgte Anspruch des Beschuldigten, nicht nur Objekt des Verfahrens zu sein, sondern auch die Möglichkeit zu haben, zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen, umfasst auch das der "Waffengleichheit" dienende Recht des Beschuldigten, sich im Strafverfahren von einem Rechtsanwalt als gewähltem Verteidiger seines Vertrauens verteidigen zu lassen (vgl. BVerfG, StV, 2001, 601 [602]). Durch die Beiordnung eines Pflichtverteidigers soll der Beschuldigte nach dem Willen des Gesetzgebers grundsätzlich gleichen Rechtschutz erhalten wie ein Beschuldigter, der auf eigene Kosten die Dienste eines Wahlverteidigers in Anspruch nimmt. Dies gebietet bereits das verfassungsrechtliche Gleichheitsgebot, folgt aber auch aus Artikel 6 Abs. 3 Buchst. c MRK. Diese verfassungsrechtlichen Vorgaben sind bei der Beiordnung eines Pflichtverteidigers - vor den einfachgesetzlichen Regelungen der Strafprozessordnung - zu beachten (BVerfG, StV 2001, 601 [603]).

Über die Bestellung des Pflichtverteidigers entscheidet gemäß § 141 Abs. 4 StPO der Vorsitzende des Gerichts, das für das Hauptverfahren zuständig oder bei dem das Verfahren anhängig ist. Nach § 142 Abs. 1 S. 1 StPO wählt dieser den Verteidiger aus. Daraus ergibt sich, dass die Bestimmung des Pflichtverteidigers grundsätzlich im Ermessen des Vorsitzenden liegt (BGHSt 43, 153 [154]). Dabei hat er die verfassungs- und einfachrechtlichen Regelungen zu beachten, insbesondere also die öffentlichen Interessen gegenüber den Interessen des Beschuldigten abzuwägen. Unter Beachtung dieser Grundsätze hat der Beschuldigte somit aus § 142 Abs. 1 StPO grundsätzlich nur einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung, nicht jedoch einen Anspruch auf Beiordnung einer bestimmten von ihm auserwählten Person als Pflichtverteidiger (BVerfGE 39, 238 [243]). Aus den verfassungsrechtlichen Vorgaben ergibt sich allerdings, dass bei der Auswahl des Verteidigers auch dem Interesse des Beschuldigten, von einem Anwalt seines Vertrauens verteidigt zu werden, ausreichend Rechnung getragen werden muss, was bei der Auswahlentscheidung zu einer Ermessenreduzierung "auf Null" führen kann. Macht der Beschuldigte - wie hier - daher von seinem Bezeichnungsrecht Gebrauch und benennt einen Anwalt seines Vertrauens, so ist dieser ihm grundsätzlich als Pflichtverteidiger beizuordnen, wenn dem nicht wichtige Gründe entgegenstehen (BVerfG StV 2001, 601 [602]).

Gründe, nicht den vom Beschuldigten gewünschten Verteidiger zu bestellen, ergeben sich vorrangig aus § 142 Abs. 1 S. 1 und S. 3, 2. Hs. StPO. § 142 Abs. 1 S. 1 StPO bestimmt als gesetzlich normiertes Regelbeispiel für einen wichtigen Grund im Sinne des § 142 Abs. 1 S. 3, 2. Hs. StPO (vgl. BGHSt 43, 153 [155]), dass der zu bestellende Verteidiger möglichst aus der Zahl der bei einem Gericht des Gerichtsbezirks zugelassene Rechtsanwälte auszuwählen ist. Dem liegt die Erwägung zugrunde, dass die Gerichtsnähe des Verteidigers in der Regel eine wesentlich Voraussetzung für eine sachdienliche Verteidigung sowohl für den Beschuldigten als auch für den Verfahrensablauf ist. Aus § 142 Abs. 1 S. 1 StPO folgt jedoch nicht, dass der Pflichtverteidiger zunächst in dem jeweiligen Gerichtsbezirk ansässig sein muss und die Bestellung eines auswärtigen Verteidigers schlechthin ausgeschlossen ist (BGHSt 43, 153 [155]). So kann die Beiordnung eines auswärtigen Pflichtverteidigers aufgrund besonderer Umstände geboten sein, wenn zum Beispiel bei Vollzug von Untersuchungshaft der Verteidiger seinen Kanzleisitz zwar nicht im Gerichtsbezirk, aber in der Nähe der Haftanstalt hat, der Verteidiger über besondere Fach- oder Sprachkenntnisse verfügt, die in dem Verfahren benötigt werden oder wenn ein besonderes Vertrauensverhältnis zwischen dem Beschuldigten und dem auswärtigen Verteidiger besteht. Ein solches Vertrauensverhältnis kann etwa gegeben sein, wenn der auswärtige Verteidiger den Beschuldigten bereits in früheren Strafverfahren verteidigt hat, unter Umständen auch dann, wenn er ihn in anderen Zivil-, Familien-, ausländerrechtlichen oder ähnlichen Verfahren vertritt oder vertreten hat. Auch persönliche Beziehungen können eine Rolle spielen, ebenso kulturelle oder landsmannschaftliche Verbundenheit. Der Umstand, dass der als Pflichtverteidiger gewünschte Rechtsanwalt in dem betreffenden Verfahren bereits zuvor, gegebenenfalls seit längerer Zeit als Wahlverteidiger für den Beschuldigten tätig war, ist ebenfalls in die Auswahlkriterien einzubeziehen (OLG Rostock, Beschluss vom 18. Dezember 2001, I Ws 548/01 - zitiert nach JURIS-Datenbank). Allerdings sind Tatsachen, die ein solches besonderes Vertrauensverhältnis begründen, von dem Beschuldigten substantiiert und nachvollziehbar darzulegen, soweit sie nicht auf der Hand liegen oder sich offensichtlich aus der Akte ergeben (Meyer-Goßner, StPO, 51. Auflage 2008, § 143 Rdn. 12 m. w. Nachw.).

Ein solcher ausreichender Tatsachenvortrag ist vorliegend nicht ersichtlich. Zwar hat der Beschuldigte über seinen auswärtigen Verteidiger erklären lassen, dass dieser ihn bereits zweimal in der Untersuchungshaft aufgesucht und Gespräche mit ihm geführt habe und ferner die Wahl von Rechtsanwalt F. als Verteidiger das besondere Vertrauen belege. Dies genügt aber den Vortragserfordernissen nicht in ausreichendem Maße, zumal Tätigkeiten eines Wahlverteidigers im Ermittlungsverfahren, welches - wie hier - noch am Anfang steht, ein besonderes Vertrauensverhältnis nicht begründen und erkennen lässt (vgl. OLG Oldenburg, NStZ-RR 2004, 115 [116]).

Der Senat folgt dabei nicht der Rechtsprechung des BayObLG (StV 2006, 6 ff.), wonach allein der Antrag auf Benennung des von ihm mandatierten auswärtigen Wahlverteidigers zum Pflichtverteidiger das besondere Vertrauensverhältnis zwischen dem Beschuldigten und diesem Verteidiger belegt, denn die vorgenannte Entscheidung erging in einem ersichtlich anders gelagerten Sachverhalt. Dort befand sich der Wohnsitz des Mandanten am Kanzleisitz des auswärtigen Verteidigers. Ferner befand sich der Mandant nicht - wie hier der Beschuldigte - in Untersuchungshaft.

Im übrigen hat auch das BayObLG entschieden, dass die Benennung eines auswärtigen Wahlverteidigers zum Pflichtverteidiger nur dann in Betracht kommt, wenn der vorgeschlagene Verteidiger die Voraussetzungen der Sicherung eines ordnungsgemäßen Verfahrensablaufes erfüllt (BayObLG, StV 2006, 6 [7]). Gerade in den Fällen, in denen sich Beschuldigte in Untersuchungshaft befinden, hat eine Abwägung zwischen dem Recht des Angeklagten, in der Hauptverhandlung von dem Verteidiger seines Vertrauens vertreten zu werden, sowie seinem Recht, dass der Vollzug der Untersuchungshaft nicht länger als unbedingt nötig andauert, bei der Bestellung eines Pflichtverteidigers vorrangig stattzufinden. Dies kann dazu führen, dass die Bestellung eines auswärtigen Wahlverteidigers unterbleiben muss, wenn dieser beruflich und terminlich stark eingespannt ist und dies dazu führen könnte, dass nur unter erschwerten Bedingungen mit zeitlichen Verzögerungen Termine zur Durchführung der Hauptverhandlung stattfinden könnten (vgl. OLG Hamm NJW 2006, 2788 [2789]). Als vom Staat zu zahlender Pflichtverteidiger kann aber nur ein Verteidiger beigeordnet werden, der gewährleisten kann, dem Verfahren mit seiner Arbeitskraft weitestgehend zur Verfügung zu stehen (OLG Hamm, NJW 2006, 2788 [2791]).

Für die Beurteilung dieser Fragen steht dem Vorsitzenden des - wie hier - in Aussicht genommenen Tatgerichts ein Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum zu, der nur eingeschränkt durch das Beschwerdegericht überprüfbar ist (OLG Hamburg, NJW 2006, 2792 [2793]).

Nach den vorgenannten Grundsätzen hat der Vorsitzende der 2. großen Strafkammer des Landgerichts Dessau-Roßlau zu Recht und ermessensfehlerfrei die Bestellung von Rechtsanwalt F. aus B. als Pflichtverteidiger zurückgewiesen und statt seiner dem Beschuldigten Rechtsanwalt N. aus W. zum Pflichtverteidiger bestellt. Zum einen liegt der Kanzleisitz des Rechtsanwalts N. in Gerichts-, wie auch Untersuchungshaftanstaltsnähe. Darüber hinaus befindet sich das gegen den Beschuldigten gerichtete Ermittlungsverfahren noch im Anfangsstadium, so dass es Rechtsanwalt N. als bestelltem Verteidiger ohne zeitliche Schwierigkeiten möglich ist, sich in das Verfahren einzuarbeiten und eine ordnungsgemäße Verteidigung zu garantieren. Ferner hat der Vorsitzende in seinem Beschluss vom 28. Oktober 2008 in nicht zu beanstandender Weise auf die berufliche und terminliche Belastung des Rechtsanwaltes F. , die auch dem Senat aus einer Vielzahl von Entscheidungen in anderen Strafverfahren bekannt ist, hingewiesen. Gerade die terminliche Eingebundenheit und berufliche Auslastung eines in Aussicht genommenen Pflichtverteidigers, die die Gefahr besorgen lassen, dass es ihm unmöglich sein könnte, unter Beachtung des verfassungsrechtlich garantierten Beschleunigungsgebots in Haftsachen die Strafsache zu fördern, geben dem Gericht die Pflicht, nach Alternativen zu suchen und notfalls einen anderen Rechtsanwalt zum Pflichtverteidiger zu bestellen (vgl. OLG Celle, NStZ 2008, 583).

Ende der Entscheidung

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