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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Naumburg
Beschluss verkündet am 03.08.2007
Aktenzeichen: 6 W 74/07
Rechtsgebiete: EuGVO


Vorschriften:

EuGVO Art. 49
1. Die Bestimmungen der in den Mitgliedstaaten unmittelbar geltenden EuGVO sind teleologisch nach dem Gebot der Integrationsfreundlichkeit auszulegen. Bei der Auslegung europäischer Bestimmungen kann weder auf nationale Gesetzesbestimmungen noch auf den nationalen Wortlaut zurückgegriffen werden (so genannte vertragsautonome Qualifikation der Begriffe).

2. Artikel 49 EuGVO ist dahin zu verstehen, dass Zwischenentscheidungen über die Anordnung eines einer Vertragsstrafe ähnlichen Zwangsgeldes (französischer Text: astreinte, englischer Text: periodic payment by way of a penalty) in einem Mitgliedstaat nur dann im Vollstreckungsmitgliedstaat vollstreckt werden dürfen, wenn das Zwangsgeldverfahren rechtskräftig abgeschlossen ist.

3. Das ist z. B. dann nicht der Fall, wenn das französische Gericht angeordnet hat, dass eine endgültige "astreinte" nicht festgesetzt wird (" Dit n'y avoir lieu à fixation d'une astreinte définitive, ...).


OBERLANDESGERICHT NAUMBURG BESCHLUSS

6 W 74/07 OLG Naumburg

In dem Rechtsbehelfsverfahren

hat der 6. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Naumburg durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht von Harbou, den Richter am Oberlandesgericht Dr. Strietzel und die Richterin am Amtsgericht Koch

am 3. August 2007

beschlossen:

Tenor:

1. Auf den Rechtsbehelf der Antragsgegnerin nach Artikel 43 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 22. Dezember 2000 (EuGVO, Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften L 12/1) wird der Beschluss des Vorsitzenden der 4. Zivilkammer des Landgerichts Halle vom 25. April 2007 (Aktenzeichen 4 O 181/07) aufgehoben.

2. Der Antrag der Antragstellerin, die Entscheidung der Vollstreckungsrichterin bei dem Tribunal de Grande Instance in Bourg en Bresse vom 25. Januar 2007 (Dossier N° 06/03346) für vollstreckbar zu erklären und mit der Vollstreckungsklausel zu versehen, wird zurückgewiesen.

3. Die Antragstellerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

4. Der Beschwerdewert wird für die Gebührenberechnung festgesetzt bis 22.000 €.

5. Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.

Gründe:

1. Der Tribunal de Grande Instance in Bourg en Bresse hat aufgrund mündlicher Verhandlung am 7. Dezember 2006 durch Entscheidung vom 25. Januar 2007 unter anderem bestimmt:

- dass die ursprünglich angeordnete "astreinte" von 550 € je Tag vom 21. Juli 2006 an berechnet wird und

- dass die Antragsgegnerin verurteilt wird, der Antragstellerin den Geldbetrag von 94.000 € auf den Titel der Liquidation der "astreinte" und außerdem 1.500 € gemäß Artikel 700 Nouveau Code de Procédure Civile zu zahlen,

- dass eine endgültige "astreinte" nicht festgesetzt wird (" Dit n'y avoir lieu à fixation d'une astreinte définitive, ...),

- dass die Antragsgegnerin zu den Kosten verurteilt wird.

Der Senat bezieht sich wegen der Einzelheiten auf die zu den Akten gereichte Kopie der Entscheidung (Blatt 2 - 5) und auf die Übersetzung (Blatt 6 - 9).

2. Die Antragstellerin hat mit Schriftsatz vom 19. April 2007 beantragt, diese Entscheidung für vollstreckbar zu erklären und mit der Vollstreckungsklausel zu versehen.

3. Mit Beschluss vom 25. April 2007 hat der Vorsitzende der 4. Zivilkammer des Landgerichts Halle (Saale) antragsgemäß entschieden (Blatt 13).

4. Gegen diesen Beschluss, welcher der Antragsgegnerin am 11. Mai 2007 zugestellt worden ist, hat die Antragsgegnerin mit dem am 11. Juni 2007 im Oberlandesgericht Naumburg eingegangenen Schriftsatz vom 11. Juni 2007 Beschwerde eingelegt. Der Senat verweist wegen der Einzelheiten der Beschwerdebegründung auf den Inhalt des Schriftsatzes vom 11. Juni 2007 (Blatt 24 - 29).

Die Antragsgegnerin beantragt,

den angefochtenen Beschluss abzuändern und den Antrag der Antragstellerin, das Urteil der Vollstreckungsrichterin vom 25. Januar 2007 für vollstreckbar zu erklären und mit der Vollstreckungsklausel zu versehen, zurückzuweisen.

5. Die Antragstellerin beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Sie verteidigt die angegriffene Entscheidung. Auf die Einzelheiten im Schriftsatz vom 28. Juni 2007 wird Bezug genommen (Blatt 34 - 37).

6. Auf den Hinweis des Senatsvorsitzenden vom 9. Juli 2007 (Blatt 38) hat die Antragstellerin mit Schriftsatz vom 16. Juli 2007 (Blatt 54 - 62) und die Antragsgegnerin mit Schriftsatz vom 1. August 2007 (Blatt 87 - 92) Stellung genommen.

7. Der nach Artikel 43 Absatz 1 EuGVO, §§ 1 Absatz 1 Nr. 2, Absatz 2, 11 Absatz 1 Satz 1 des Gesetzes zur Ausführung zwischenstaatlicher Verträge und zur Durchführung von Verordnungen der Europäischen Gemeinschaft auf dem Gebiet der Anerkennung und Vollstreckung in Zivil- und Handelssachen vom 19. Februar 2001 (AVAG, BGBl. I Seite 288) statthafte Rechtsbehelf (Beschwerde) der Antragsgegnerin ist zulässig. Der Rechtsbehelf wird gemäß Artikel 43 Absatz 2 EuGVO in Verbindung mit Anhang III der EuGVO beim Oberlandesgericht eingelegt. Die Monatsfrist zur Einlegung des Rechtsbehelfs nach Artikel 43 Absatz 5 Satz 1 EuGVO ist gewahrt.

8. Der Rechtsbehelf der Antragsgegnerin hat Erfolg. Er führt zur Aufhebung des Beschlusses des Kammervorsitzenden vom 25. April 2007. Die Erklärung der Vollstreckbarkeit der Entscheidung der Vollstreckungsrichterin bei dem Tribunal de Grande Instance vom 25. Januar 2007 durch das deutsche Gericht nach den Artikeln 38 Absatz 1, 39, 41 Satz 1 EuGVO scheitert an Artikel 49 EuGVO.

9. Bei dem "Jugement", dem Richterspruch, vom 25. Januar 2007 handelt es sich zweifelsfrei um eine Entscheidung im Sinne des Artikel 32 EuGVO. Derartige Entscheidungen, die in einem Mitgliedstaat ergangen sind, werden nach Artikel 33 Absatz 1 EuGVO anerkannt, ohne dass hierfür eines besonderen Verfahrens bedarf. Artikel 38 Absatz 1 EuGVO bestimmt, dass die in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen, die in diesem Staat vollstreckbar sind, in einem anderen Mitgliedstaat vollstreckt werden, wenn sie dort auf Antrag eines Berechtigten für vollstreckbar erklärt worden sind. Der Senat geht davon aus, dass der Vorsitzende der Kammer die Voraussetzungen dieser Bestimmung geprüft und die Vollsteckbarkeit der Entscheidung vom 25. Januar 2007 bejaht hat.

10. Allerdings ist es kein Anerkennungshindernis nach Artikel 35 Absatz 1 EuGVO in Verbindung mit Artikel 22 Nr. 5 EuGVO, dass die französische Vollstreckungsrichterin die Entscheidung erlassen hat und nicht ein deutsches Gericht. Der Verstoß gegen die Zuständigkeitsregelung nach den vorgenannten Vorschriften, den die Antragsgegnerin annimmt, liegt nach Auffassung des Senats nicht vor. Nach Artikel 22 Nr. 5 EuGVO ist die deutsche Gerichtsbarkeit ausschließlich zuständig für Verfahren, welche die Zwangsvollstreckung aus Entscheidungen zum Gegenstand haben, wenn die Zwangsvollstreckung in deutschem Hoheitsgebiet durchgeführt werden soll oder durchgeführt worden ist. Diese ausschließliche Zuständigkeit erfasst nach Auffassung des Senats nicht die in einem kontradiktorischen Verfahren ergehenden Entscheidungen, die eine mögliche Zwangsvollstreckung vorbereiten. Dagegen fallen unter diese Bestimmung alle Klagen und Erinnerungen des Vollstreckungsschuldners, mit denen er sich gegen einzelne Vollstreckungsakte oder gegen die Vollstreckbarkeit des Titels überhaupt wehren will (vgl. Zöller / Geimer, Zivilprozessordnung, 26. Auflage 2007, Anhang I Artikel 22 EuGVO Randnummer 27; anderer Meinung Bruns in Zeitschrift für Zivilprozess 118. Band, 2005 Seite 3, 13 ff).

11. Die Antragsgegnerin kann ihren Rechtsbehelf auch nicht darauf stützen, dass die Anerkennung der Entscheidung vom 25. Januar 2007 der öffentlichen Ordnung (ordre public) in Deutschland offensichtlich widersprechen würde. In einem derartigen Fall wird die Entscheidung nach Artikel 34 Nr. 1 EuGVO nicht anerkannt. Nach der vorliegenden Entscheidung der Vollstreckungsrichterin bei dem Tribunal der Grande Instance hat sie den im Termin am 7. Dezember 2006 überreichten Schriftsatz der Antragsgegnerin zur Kenntnis genommen, jedoch die Anlage Nummer 44 und die Schlussanträge der Antragsgegnerin zurückgewiesen. Diese Verfahrensweise und Entscheidung widerspricht nicht dem "ordre public" in Deutschland; denn darin ist weder eine Verletzung des Grundsatzes zu sehen, dass jedermann vor Gericht rechtliches Gehör zu gewähren ist, noch ist dieses prozessuale Vorgehen als unfaires Verfahren zu bewerten; denn die Antragsgegnerin hatte ja ganz offensichtlich Gelegenheit, sich in dem Termin am 7. Dezember 2006 vor Gericht zu verteidigen.

12. Die Entscheidung vom 25. Januar 2007 ist nach Artikel 49 EuGVO nicht vollstreckbar. Nach dieser Norm sind ausländische Entscheidungen, die auf Zahlung eines Zwangsgeldes lauten, im Vollstreckungsmitgliedstaat nur vollstreckbar, wenn die Höhe des Zwangsgelds durch die Gerichte des Ursprungsmitgliedstaats endgültig festgesetzt ist. Das ist nach dem vorletzten Satzteil der Entscheidung hier nicht der Fall.

13. Der Artikel 49 EuGVO lautet im französischen Text: "Les décisions étrangères condamnant à une astreinte ne sont exécutoires dans l'État membre requis que si le montant en a été définitivement fixé par les tribunaux de l'État membre d'origine." (siehe unter http://eur-lex.europa.eu ) Im englischen Text heißt es: "A foreign judgment which orders a periodic payment by way of a penalty shall be enforceable in the Member State in which enforcement is sought only if the amount of the payment has been finally determined by the courts of the Member State of origin." (OJ L 12/1, 16.1.2001 p. 41) Vergleicht man den Wortlaut dieser Texte, wird deutlich, dass die bloße Auslegung der deutschen Begriffe "Zwangsgeld" und "endgültig festgesetzt" nicht zur Lösung des Falles führen kann. Es geht auch nicht an, die in der EuGVO verwendeten Begriffe dadurch zu definieren, dass man auf die nationalen Gesetzesbestimmungen zurückgreift. Es liegt auf der Hand, dass das in § 888 Absatz 1 Zivilprozessordnung geregelte Zwangsgeld nicht identisch ist mit der astreinte nach französischem Recht. (vgl. dazu Bruns, Zwangsgeld zugunsten des Gläubigers - ein europäisches Zukunftsmodell? in Zeitschrift für Zivilprozess 118. Band, 2005 Seiten 3 ff.)

14. Der Rat der Europäischen Union hat folgende Gründe für den Erlass der EuGVO erwogen:

(1) Einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in dem der freie Personenverkehr gewährleistet ist, zu erhalten und weiterzuentwickeln Dazu soll die Gemeinschaft unter anderem im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen die für das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts erforderlichen Maßnahmen erlassen (siehe Absatz 1 der Präambel der EuGVO).

(2) In Absatz 15 der Präambel der EuGVO wird gefordert, dass im Interesse einer abgestimmten Rechtspflege Parallelverfahren so weit wie möglich vermieden werden, damit nicht in zwei Mitgliedstaaten miteinander unvereinbare Entscheidungen ergehen.

Das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes wird einerseits durch das einheitliche und geschlossene System des Vollstreckbarkeitsverfahrens sichergestellt (vgl. auch Absatz 17 der Präambel der EuGVO). Andererseits vermeidet die EuGVO durch Artikel 49 EuGVO einander widersprechende Parallelverfahren. Deshalb muss Artikel 49 EuGVO nach Auffassung des Senats dahin verstanden werden, dass Zwischenentscheidungen wie die Anordnung eines Zwangsgeldes in einem Mitgliedstaat dann und nur dann im Vollstreckungsmitgliedstaat vollstreckt werden dürfen, wenn das Zwangsgeldverfahren rechtskräftig abgeschlossen ist. Wenn wie im vorliegenden Fall das Zwangsgeldverfahren im Ursprungsmitgliedstaat noch nicht endgültig abgeschlossen ist, weil der Vollstreckungsrichter noch keine "astreinte définitive" festgesetzt hat, wären womöglich divergierende Entscheidungen zu befürchten, falls die Zwischenentscheidung im Vollstreckungsmitgliedstaat für vollstreckbar erklärt werden würde. Außerdem würde dem Vollstreckungsschuldner das Insolvenzrisiko des Vollstreckungsgläubigers überbürdet werden, wenn er nach abgeschlossenem Rechtsbehelfsverfahren nicht mehr den Schutz des Artikels 47 Absatz 3 EuGVO genießt.

15. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO. Den Wert des Beschwerdegegenstandes hat der Senat gemäß § 3 ZPO bis 22.000 € festgesetzt, weil er das Interesse der Antragstellerin an der Vollstreckungsmöglichkeit auf rund ein Fünftel der in der Entscheidung vom 25. Januar 2007 errechneten Beträge schätzt.

16. Da nach Artikel 68 Absatz 1 EGV Artikel 234 EGV (Vorabentscheidungsersuchen) nur dann Anwendung findet, wenn die Entscheidungen des einzelstaatlichen Gerichts nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, kann das Oberlandesgericht Naumburg kein Ersuchen um eine Vorabentscheidung an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften richten. Falls es im innerstaatlichen Recht für die Anrufung des obersten Gerichts ein Zulassungssystem gibt, ist das deutsche Oberlandesgericht, das einen weiteren Rechtsbehelf zulassen oder ausschließen kann, nicht als "Höchstgericht" anzusehen (vgl. EuGH 4. Juni 2002 C-99/00 Lyckeskog). Nach Artikel 44 EuGVO kann gegen die Entscheidung, die über den Rechtsbehelf ergangen ist, ein Rechtsbehelf nach Anhang IV eingelegt werden. Das ist in Deutschland die Rechtsbeschwerde, die der Senat gemäß § 574 Absatz 1 Nr. 2 ZPO zugelassen hat. Der Senat hält die Voraussetzungen des § 574 Abs. 2 ZPO für gegeben.

Ende der Entscheidung

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