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Gericht: Oberlandesgericht Nürnberg
Beschluss verkündet am 09.02.2009
Aktenzeichen: 14 U 1786/08
Rechtsgebiete: BGB


Vorschriften:

BGB § 242
BGB § 253 Abs. 2
BGB § 254 Abs. 1
BGB § 823 Abs. 1
Die für die Teilnahme an sportlichen Kampfspielen geltenden Haftungsgrundsätze sind nicht auf das Kinderspiel "Bockspringen" übertragbar.
Gründe:

Der Senat beabsichtigt, die Berufung des Beklagten gegen das Endurteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 21. August 2008 (9 O 9984/07) durch einstimmigen Beschluss gem. § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, weil das Rechtsmittel keine Aussicht auf Erfolg hat, der Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung zukommt und weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordern.

I.

Am 20. Januar 2006 hielten sich die damals 15-jährigen Parteien auf einer Eislaufbahn in Neumarkt auf. Die beiden Jugendlichen waren übereingekommen, auf der Eisbahn "Bockspringen" zu spielen. Während dieses Spiels rutschte der als "Bock" dienende Kläger aus, so dass ihm der Beklagte, während er über den Kläger springen wollte, mit seinen Schlittschuhen über beide Hände fuhr. Durch den Unfall wurde ein ca. 1 cm langes Stück der Fingerkuppe des linken Zeigefingers des Klägers abgetrennt.

Das Landgericht Nürnberg-Fürth verurteilte den Beklagten zur Zahlung eines Schmerzensgeldes von 2.500,- EUR und stellte fest, dass der Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger 50% jedes weitergehenden künftigen immateriellen und materiellen Schadens zu ersetzen. Hiergegen wendet sich die Berufung des Beklagten. Eine Haftung des Beklagten komme nicht in Betracht, da er sich an die Regeln des vereinbarten Spiels gehalten habe.

II.

1. Rechtsfehlerfrei ist das Landgericht aufgrund der durchgeführten Beweisaufnahme zu dem Ergebnis gekommen, dass der Beklagte den Sturz des Klägers verursacht hat, als er beim Bockspringen über den Kläger sprang. Dies haben sowohl der Zeuge D. als auch die Zeugin W. bestätigt. Der Senat hat an der Richtigkeit der Aussagen der beiden Zeugen keinen Zweifel, zumal auch nach allgemeiner Lebenserfahrung das Bockspringen dazu führen kann, dass die als "Bock" dienende Person beim Bocksprung das Gleichgewicht verliert.

2. Auch der Hinweis des Beklagten auf die Entscheidung des Oberlandesgerichts Bamberg vom 19. April 1972 (NJW 1972, 1820) ist nicht geeignet, die Tatbestandsmäßigkeit der Verletzungshandlung in Zweifel zu ziehen. Die Entscheidung des OLG Bamberg betrifft die Frage der Haftung im Falle von Sportunfällen, bei denen die anerkannten Regeln der betreffenden Sportart verletzt wurden. Um einen Unfall bei Ausübung eines Sports mit anerkannten Regeln geht es hier jedoch nicht (vgl. 3.).

3. Die vom Beklagten zitierte Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 5. November 1974 (NJW 1975, 109 ff.), wonach der Teilnehmer eines Fußballspiels nicht für solche einem Mitspieler zugefügte Verletzungen haftet, die trotz Einhaltung der Spielregeln eingetreten sind, ist auf den vorliegenden Fall nicht übertragbar.

In seiner Entscheidung vom 21. Februar 1995 (VI ZR 19/94, Rn. 14, zitiert nach juris) hat der Bundesgerichtshof ausdrücklich betont, dass es sich bei der Beteiligung an Kampfspielen wie Fußball um eine eigenständige Fallgruppe mit haftungsrechtlichen Besonderheiten handelt, die nicht auf anders gelagerte Sachverhalte Übertragen werden können. Bei sportlichen Kampfspielen findet die entschädigungslose Inkaufnahme von Verletzungen ihre innere Rechtfertigung darin, dass dem Spiel bestimmte, für jeden Teilnehmer verbindliche Regeln zu Grunde liegen, die von vornherein feststehen, unter denen die Teilnehmer zum Spiel antreten und die insbesondere durch das Verbot von sog. "fouls" auch auf den Schutz der körperlichen Unversehrtheit der Spieler selbst ausgerichtet sind.

Derart feste und anerkannte Regeln liegen dem "Bockspringen" nicht zugrunde. Soweit der Beklagte meint, die klare Regel des Bockspringens bestehe darin, dass einer der Spieler über den Rücken des anderen springt und sich dabei auf dessen Rücken abstützt, verkennt er, dass dies allein nicht ausreicht, um von festen und anerkannten Regeln ausgehen zu können. Die sportlichen Kampfspielen zugrunde liegenden Regeln sind - wie bereits ausgeführt - auf den Schutz der körperlichen Unversehrtheit der Spieler ausgerichtet. Die bloße Einigkeit darüber, wie der Vorgang des Bockspringens technisch auszuführen ist, kann nicht als anerkannte Regel im Sinne der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bezeichnet werden. So fehlt es etwa an einer für jeden Mitspieler verbindlichen Regel zur Frage, ob das Bockspringen auch mit Schlittschuhen erlaubt ist.

Allerdings muss sich das Verhalten des Klägers, worauf der Beklagte zutreffend hinweist, mit Blick auf sein eigenes Verhalten am Grundsatz von Treu und Glauben messen lassen (BGH, Urteil vom 21. Februar 1995, VI ZR 19/94, Rn. 16, zitiert nach juris); denn der Kläger war mit dem "Bockspringen" ausdrücklich einverstanden. Dies führt jedoch nicht zu einer gänzlichen Haftungsfreistellung des Beklagten. Soweit die Rechtsprechung das bewusste Sich-Begeben in eine Situation drohender Eigengefährdung als Grundlage für eine vollständige Haftungsfreistellung des Schädigers in Betracht gezogen hat, handelt es sich um eng begrenzte Ausnahmefälle wie etwa bei der Teilnahme an Boxkämpfen oder anderen besonders gefährlichen Sportarten. Nur bei derartiger Gefahrexponierung kann von einer Einwilligung des Geschädigten in die als möglich vorgestellte Rechtsgutverletzung mit der Folge einer Nichthaftung des Schädigers ausgegangen werden (BGH, Urteil vom 21. Februar 1995, VI ZR 19/94, Rn. 18, zitiert nach juris). Eine solche Einwilligung kann im vorliegenden Fall nicht angenommen werden.

Eine völlige Haftungsfreistellung des Beklagten kann auch nicht unter Heranziehung von § 254 BGB gerechtfertigt werden. Die vollständige Überbürdung des Schadens auf einen der Beteiligten kommt im Rahmen des § 254 BGB nur ausnahmsweise in Betracht. Im vorliegenden Fall haben beide Parteien durch die gemeinsame Verabredung zum Bockspringen in gleicher Weise zum Schaden des Klägers beigetragen. Es liegen keine Anhaltspunkte vor, die für ein weit überwiegendes Verschulden des Klägers sprechen. Zutreffend hat das Landgericht das Mitverschulden des Klägers daher (nur) mit 50% bewertet. Sonstige Umstände, die eine Haftung des Beklagten für den von ihm verursachten Schaden als unbillig erscheinen lassen, sind nicht ersichtlich.

4. Der Beklagte hat die Verletzung des Klägers auch schuldhaft (§ 276 BGB) verursacht. Dadurch dass er beim Bockspringen Schlittschuhe an den Füßen trug, hat er die - auch im Rahmen eines Spieles - zu beachtende erforderliche Sorgfalt außer acht gelassen. Im Falle eines Sturzes des als "Bock" dienenden Mitspielers kann es zu erheblichen Verletzungen des Mitspielers durch die scharfen Kanten der Schlittschuhe kommen. Dies ist für den springenden Teilnehmer auch vorhersehbar.

Dem Vortrag des Beklagtenvertreters, dass die Parteien nicht in der Lage gewesen seien, die Gefährlichkeit ihres Tuns zu erkennen und dementsprechend zu handeln (§ 828 Abs. 3 BGB), vermag sich der Senat nicht anzuschließen. Es trifft zwar zu, dass es sich bei dem von den Parteien veranstalteten Bockspringen um ein alterstypisches Spielverhalten handelt. Dies rechtfertigt jedoch nicht die Annahme, die Parteien hätten nach dem Entwicklungsstand ihrer Altersstufe die Gefährlichkeit ihrer Handlungsweise weder erkannt noch erkennen können. Ein normal entwickelter 15-jähriger Junge ist in der Lage, zu erkennen, welche Gefahren von den Kufen seiner Schlittschuhe beim Bockspringen ausgehen. Es mag sein, dass sich Jugendliche dieses Alters aus einem gewissen Übermut heraus solchen Überlegungen verschließen. Dies ändert jedoch nichts daran, dass die Fähigkeit, die Gefährlichkeit ihres Handelns zu erkennen und das Handeln darauf einzustellen, bei 15-Jährigen durchaus vorhanden ist. Der Einholung eines Sachverständigengutachtens bedarf es nicht, da es sich nicht um einen Grenzfall handelt, bei dem die Frage der Einsichtsfähigkeit zweifelhaft sein und nur durch einen psychologischen Sachverständigen beurteilt werden könnte.

5. Die Entscheidung des Landgerichts, wonach die dem Kläger zugesprochenen 2.500,- EUR einen angemessenen Ausgleich für die erlittenen Beeinträchtigungen des Klägers darstellen, ist nicht zu beanstanden. Auch der Senat hält in Anbetracht der Gesamtumstände ein Schmerzensgeld in Höhe von 2.500,- EUR für angemessen und erforderlich.

Für die Bemessung des Schmerzensgeldes sind in erster Linie die Höhe und das Maß der Lebensbeeinträchtigung zu berücksichtigen. Maßgeblich sind Größe, Heftigkeit und Dauer der Schmerzen, Leiden, Entstellungen und physischen wie psychischen Beeinträchtigungen, wobei Leiden und Schmerzen wiederum durch die Art der Primärverletzung, die Zahl und Schwere der Operationen, die Dauer der stationären und der ambulanten Heilbehandlung, den Zeitraum der Arbeitsunfähigkeit und die Höhe des Dauerschadens bestimmt werden (vgl. Küppersbusch, Ersatzansprüche bei Personenschäden, 9. Aufl., Rn. 274 ff.).

Bei der Bemessung der Schmerzensgeldhöhe ist das erhebliche Mitverschulden des Klägers als Bewertungsfaktor heranzuziehen. Zudem trifft den Beklagten nur der Vorwurf einfacher Fahrlässigkeit. Andererseits sind die Unfallfolgen nicht unerheblich. Durch den Unfall wurde - neben einer Platzwunde an der rechten Hand - ein ca. 1 cm langes Stück der Fingerkuppe des linken Zeigefingers des Klägers abgetrennt und der Fingernagel, der sich komplett am abgetrennten Stück befand, auf das Restfingerglied transplantiert. Nach Aussage des behandelnden Arztes Dr. C. befand sich der Kläger deswegen nach einer Primärversorgung im Krankenhaus fünfmal in ärztlicher Behandlung. Der Substanzverlust ist irreparabel und führt auf Dauer zu einer optischen Beeinträchtigung des noch sehr jungen Geschädigten. Der Kläger litt eine Woche lang an starken Schmerzen. Zudem sind immer noch Sensibilitätsstörungen vorhanden, bei denen nicht auszuschließen ist, dass sie auf Dauer bestehen bleiben. Unter Berücksichtigung aller Gesamtumstände erscheint dem Senat die Zuerkennung eines Schmerzensgeldes von 2.500,- EUR auch im Hinblick auf die Entscheidungen anderer Gerichte in vergleichbaren Fällen als angemessen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass eine absolute Vergleichbarkeit nie gegeben sein kann, weil jeder Schadensfall aufgrund der Vielzahl der bei der Schmerzensgeldbemessung zu berücksichtigenden Umstände, insbesondere der nie völlig identischen Verletzungen und Verletzungsfolgen, spezielle Zumessungskriterien aufweist. Die Frage der Vergleichbarkeit ist daher auch nicht einem Sachverständigenbeweis zugänglich, sondern ist vom Gericht selbst zu beantworten. Die Rechtsprechung im Fall eines Fingergliedverlusts kann - angesichts der unterschiedlichen Fallgestaltungen -nicht als einheitlich bezeichnet werden. So hatte das Landgericht Duisburg im Jahr 1986 einem verletzten Mann, dessen Endglied des linken Ringfingers im Rahmen einer Auseinandersetzung vom Schädiger abgebissen worden war, ein Schmerzensgeld von 1.500,- EUR zugebilligt (Hacks/Ring/Böhm, 27. Auflage, Nr. 474). In einer Entscheidung aus dem Jahr 2005 sprach das Landgericht Gera einer jungen Frau, die das Mittelglied des linken Zeigefingers verloren hatte, ein Schmerzensgeld von 5.000,- EUR zu (Hacks/Ring/Böhm, 27. Auflage, Nr. 1156). Ebenfalls 5.000,-- EUR erhielt ein Mann durch Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth zugesprochen, der anlässlich eines Hundebisses das Ringfingerendglied verloren hatte (Quelle: Beck'sche Schmerzensgeldtabelle, beck-online, Urteil vom 20.12.1990, 1 O 5683/90). Das Landgericht Düsseldorf erkannte im Fall eines 6-jährigen Mädchens, das einen Zeigefingerendgliedteilverlust an der linken Hand erlitten hatte, im Jahr 2001 auf ein Schmerzensgeld von 6.135,- EUR (Quelle: Beck'sche Schmerzensgeldtabelle, beck-online, Urteil vom 10.8.2001,13 O 284/98). Bei Berücksichtigung dieser Entscheidungen und der den vorliegenden Fall prägenden Gesamtumstände hält der Senat ein Schmerzensgeld von 2.500,-EUR für angemessen.

III.

Der Senat legt zur Vermeidung der Rechtsfolgen des § 522 Abs. 2 und 3 ZPO und aus Kostengründen die Rücknahme der Berufung nahe; denn in diesem Fall ermäßigen sich die Gerichtsgebühren von 4,0 (KV 1220) auf 2,0 (KV 1222).

Vor einer Entscheidung des Senats wird dem Beklagten Gelegenheit gegeben, zu diesem Hinweis binnen zwei Wochen nach Zugang Stellung zu nehmen.

Ende der Entscheidung

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