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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Nürnberg
Urteil verkündet am 28.04.2006
Aktenzeichen: 5 U 130/06
Rechtsgebiete: BGB


Vorschriften:

BGB § 276 Abs. 2
BGB § 828 Abs. 3
1) Ein 7 Jahre altes Kind ist jedenfalls dann in der Lage vorherzusehen, dass ein in Richtung eines an einer Hauseingangstür stehenden Kindes abgegebener Schuss mit einem Ball zur Beschädigung der dort angebrachten Außenlampe führen kann, wenn es von seinen Eltern zuvor auf solche Gefahren ausdrücklich hingewiesen worden ist.

2) Darauf, ob auch die weitere Schadensentwicklung - Augenverletzung durch von der Außenlampe herabfallende Glassplitter - vorhersehbar war, kommt es für die Haftung nicht an.


Oberlandesgericht Nürnberg IM NAMEN DES VOLKES ENDURTEIL

5 U 130/06

Verkündet am 28.04.2006

In Sachen

hat der 5. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Nürnberg durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Braun als Vorsitzenden und die Richter am Oberlandesgericht Redel und Kimpel aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 31.03.2006

für Recht erkannt:

Tenor:

I. Die Berufung des Beklagten gegen das Endurteil des Landgerichts Regensburg vom 16.12.2005 wird zurückgewiesen.

II. Der Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Beschluss:

Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird auf 15.277,72 Euro festgesetzt.

Gründe:

I.

Die Parteien streiten um die Verantwortlichkeit des Beklagten für eine Augenverletzung des Klägers.

Der Kläger, geb. am 1996, und der Beklagte, geb. am ...1995, bewohnen, jeweils gemeinsam mit ihren Eitern, je eine Doppelhaushälfte in ..., ...straße. Gemeinsam mit anderen Nachbarskindern hatten sie des öfteren im Bereich der neben den Häusern gelegenen Abfahrt zu den etwas unterhalb des Straßenniveaus gelegenen Garagen Fußball gespielt. Der Vater des Beklagten hatte ihnen jedoch das Fußballspielen an dieser Stelle mit der Begründung untersagt, die an der Garage befindliche Außenbeleuchtung könne dabei beschädigt werden. Am 05.10.2002 spielte der Beklagte daher mit einigen anderen Kindern auf einer Freifläche vor den beiden Anwesen. Sie benutzten dabei einen dem Kläger gehörenden Ball - ob der Kläger selbst mitspielte, blieb streitig. Als der Kläger von seiner Mutter ins Haus gerufen wurde, wollte er seinen Ball mitnehmen und verlangte diesen zurück. Der Beklagte schoss den Ball darauf nach einigem Zögern in die Richtung des bereits unmittelbar an der Hauseingangstür stehenden Klägers. Der Ball traf nach Auskunft des Beklagten zunächst das Treppengeländer des dortigen Hauszugangs und prallte dann an die neben der Türe angebrachte Außenleuchte. Aufgeschreckt durch das Geräusch des splitternden Glases schaute der Kläger nach oben. In diesem Moment traf ein von der Lampe herab fallender Glassplitter genau in das rechte Auge des Klägers und verletzte dieses schwer.

Der Kläger erlitt eine perforierende Hornhaut/Irisverletzung und musste in der Universitäts-Augenklinik Regensburg operiert werden. Die stationäre Behandlung dauerte vom 05. bis zum 11.10.2002; am 24.06.2003 wurden die Fäden unter Vollnarkose entfernt. Seit dem streitgegenständlichen Vorfall muss der Kläger regelmäßig augenärztlich behandelt werden und eine Brille tragen. Am 15.09.2005 wurde ein beginnender Cataract festgestellt. Es besteht die Gefahr einer Netzhautablösung und des Entstehens einer Nachtblindheit.

Der Kläger hat die Auffassung vertreten, der Beklagte sei bei der Verletzungshandlung im Rechtssinne einsichtsfähig gewesen und habe auch schuldhaft gehandelt. Er hat die Bezahlung eines Schmerzensgeldes, den Ersatz von Heilbehandlungskosten sowie die Feststellung begehrt, dass der Beklagte verpflichtet sei, ihm allen künftigen materiellen und immateriellen Schaden zu ersetzen.

Der Beklagte hat dagegen gemeint, im Tatzeitpunkt noch nicht deliktsfähig gewesen zu sein, zumindest aber nicht fahrlässig gehandelt zu haben, weil er die unglücklichen Folgen seines Schusses nicht habe vorhersehen können.

Das Erstgericht hat den Beklagten mit Endurteil vom 16.12.2005, auf das zur näheren Sachdarstellung verwiesen wird, antragsgemäß u. a. zu einem Schmerzensgeld in Höhe von 10.000 Euro verurteilt. Es hat den Beklagten sowohl für einsichtsfähig gehalten, wie sein Verhalten als fahrlässig eingestuft.

Gegen dieses ihm am 21.12.2005 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 17.01.2006 Berufung eingelegt und sein Rechtsmittel am 21.02.2006 begründet.

Der Beklagte macht geltend, ihm habe die notwendige Einsichtsfähigkeit gefehlt, weil seine allenfalls allgemein vorhandene Kenntnis von der möglichen Gefährlichkeit seines Schusses durch die Konzentration auf das Spiel und den hiermit einhergehenden kindlichen Übermut überlagert worden sei. Auch habe er nicht fahrlässig gehandelt. Das schädigende Verhalten sei, bedingt durch die Motorik des Spieltriebes, für ihn nicht vermeidbar, das schädigende Ereignis nicht vorhersehbar gewesen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Berufungsvorbringens des Beklagten wird auf die Berufungsbegründung vom 20.02.2006 Bezug genommen.

Der Beklagte stellt folgenden Antrag:

Das Urteil des Landgerichts Regensburg vom 16.12.2005, Az.: 6 O 2259/05, wird aufgehoben, die Klage wird abgewiesen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt das erstinstanzliche Urteil und weist insbesondere darauf hin, dass der schadensverursachende Schuss keineswegs "aus dem Spiel heraus" abgegeben worden sei. Die Kenntnis des Beklagten von der Gefährlichkeit seines Schusses sei daher auch nicht durch die Konzentration auf das Spiel überlagert worden. Gleiches gelte für die Fahrlässigkeit. Auch hier habe das zu diesem Zeitpunkt längst beendete Spielgeschehen keine Rolle gespielt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Berufungsvorbringens des Klägers wird auf die Berufungserwiderung vom 20.03.2006 verwiesen.

II.

Das Rechtsmittel des Beklagten ist zulässig, hat aber in der Sache keinen Erfolg.

Das Erstgericht hat zu Recht die Haftung des Beklagten für die Folgen seines Schusses vom 05.10.2002 bejaht. Zur Begründung kann zunächst auf die zutreffenden Ausführungen in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils Bezug genommen werden.

1. Die von der Berufung hiergegen erhobenen Einwendungen vernachlässigen zwei wesentliche Umstände, die sowohl für die Beurteilung der Einsichtsfähigkeit wie der Fahrlässigkeit des Beklagten von entscheidender Bedeutung sind. Der Beklagte gibt zum einen bei seiner Anhörung selbst an, dass er dem Kläger den Ball zugeschossen habe, damit ihn dieser mit ins Haus nehmen könne. Das Spiel war also zum Zeitpunkt des Schusses bereits beendet. Zum anderen war der Beklagte von seinem Vater sogar ausdrücklich darauf hingewiesen worden, dass beim' Fußballspielen Schäden gerade auch an Außenlampen entstehen können. Berücksichtigt man diese beiden Besonderheiten des Streitfalls, muss die Haftung des Beklagten bejaht werden.

2. Entgegen der Auffassung der Berufung steht § 828 Abs. 3 BGB einer haftungsrechtlichen Verantwortung des. Beklagten nicht entgegen.

a) Nach der Rechtsprechung des BGH, der sich der Senat anschließt, besitzt derjenige die zur Erkenntnis seiner Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht im Sinne dieser Vorschrift, der nach seiner individuellen Verstandesentwicklung fähig ist, das Gefährliche seines Tuns zu erkennen und sich der Verantwortung für die Folgen seines Tuns bewusst zu sein. Auf die individuelle Fähigkeit, sich dieser Einsicht gemäß zu verhalten, kommt es insoweit nicht an (BGHZ 161, 180 m.w.N.).

b) Ab dem Alter von 7 Jahren wird das Vorliegen dieser Einsichtsfähigkeit vom Gesetz widerlegbar vermutet.

Der insoweit darlegungspflichtige Beklagte hat nicht vorgetragen, nicht in der Lage gewesen zu sein, das Gefährliche seines Tuns zu erkennen und sich der Verantwortung für sein Tun bewusst zu sein. Sein Vorbringen zum alles überlagernden Spieltrieb findet nicht nur keine Stütze im festgestellten Sachverhalt, er betrifft - wie auch die Frage der Erkennbarkeit der konkreten Gefahr - weniger die Einsichtsfähigkeit als die Frage, ob schuldhaft gehandelt wurde (Staudinger/Oechsler, 2003, § 828 BGB, Rdnr. 9).

Dies wird besonders deutlich an der ebenfalls die Folgen eines Ballspieles betreffende Entscheidung des BGH vom 27.01.1970 (VersR 1970, 374). Auch dort ging es um den Einfluss von Spieltrieb und Bewegungsfreude, die unter Umständen alle vernünftigen Erwägungen hinwegspülen. Hieraus leitetet der BGH aber lediglich Bedenken gegen die Bejahung der Fahrlässigkeit durch das als Vorinstanz entscheidende Kammergericht her; die Einsichtsfähigkeit hielt er demgegenüber auch in Fällen für gegeben, in denen es einem Kind in der konkreten Situation nicht mehr möglich und zumutbar war, sich anders zu verhalten.

3. Im Streitfall ist wegen der oben bezeichneten Besonderheiten auch ein fahrlässiges Verhalten (§ 276 BGB) des Beklagten zu bejahen.

a) Ein solches Verhalten setzt voraus, dass die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen (§ 276 Abs. 2 BGB) und dabei die Möglichkeit des Schadenseintritts erkannt oder sorgfaltswidrig verkannt wurde, sowie ein die Gefahr vermeidendes Verhalten möglich und zumutbar war. Dabei ist dem Alter des Schädigers Rechnung zu tragen. Bei einem Minderjährigen kommt es darauf an, ob Kinder bzw. Jugendliche seines Alters und seiner Entwicklungsstufe den Eintritt des Schadens hätten voraussehen müssen und können und es ihnen bei Erkenntnis der Gefährlichkeit ihres Handelns in der konkreten Situation möglich und zumutbar gewesen wäre, sich dieser Erkenntnis gemäß zu verhalten (BGH NJW 2005, 354).

Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt.

b) Kinder in der Altersgruppe des Beklagten wissen, dass sie sich so zu verhalten haben, dass ihr Ball nicht gegen fremde Fenster, Außenlampen u.a. prallt und diese beschädigt. Der Beklagte war durch seinen Vater zudem auf die vom Fußballspiel für die Außenlampen ausgehenden Gefahren besonders hingewiesen worden. Er verfügte insoweit also über besondere Kenntnisse, die die Sorgfaltsanforderungen erhöhen. Da die im Zivilrecht allgemein geltende Objektivierung des Sorgfaltsmaßstabs dem Schutz des Verkehrs dient, ist es möglich, die Sorgfaltsanforderungen wegen besonderer Kenntnisse und Fähigkeiten zu erhöhen (BGH. VersR 1968, 1059; Palandt/Heinrichs, BGB, 65. Aufl., § 276, Rdnr. 15).

c) Es ist Kindern im Alter des Beklagten auch möglich und zumutbar, dieses Spielgerät so zu benutzen, dass eine solche Beschädigung vermieden wird. Da das vorangegangene Fußballspiel unstreitig bereits beendet war, kann auch keine Rede davon sein, dass Spieltrieb und Bewegungsfreude oder die Konzentration auf das Spiel den Beklagten daran gehindert hätten, sich in der konkreten Situation seiner Einsicht gemäß zu verhalten.

d) Auch die nötige Vorhersehbarkeit des Schadenseintritts ist gegeben. Dabei muss sich die Vorhersehbarkeit nur auf den Haftungstatbestand, dagegen nicht auf die weitere Schadensentwicklung beziehen. Es genügt die allgemeine Vorhersehbarkeit eines schädigenden Erfolges, der konkrete Ablauf braucht in seinen Einzelheiten nicht vorhersehbar gewesen zu sein (BGH NJW-RR 1993, 346; Palandt/Heinrichs, a.a.O., Rdnr. 20). Der Beklagte konnte schon wegen der bereits erwähnten Ermahnungen durch seinen Vater vorhersehen, dass ein Schuss, wie er ihn abgab, zur Beschädigung der Außenleuchte führen konnte. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Beklagte die Außenleuchte direkt trifft, oder ob die Beschädigung durch das Abprallen des Balles vom Treppengeländer zustande kommt.

Die weiteren, von dieser ersten Rechtsgutsverletzung verursachten Schäden an anderen Rechtsgütern musste der Beklagte nicht vorhersehen. Insoweit genügt es, wenn das erste Ereignis, die Beschädigung der Lampe, die Möglichkeit eines Erfolges der eingetretenen Art generell nicht unerheblich erhöht hat. Dies war hier der Fall.

Der Senat verkennt nicht, dass erst eine Verkettung unglücklicher Umstände die nicht unerhebliche Gesundheitsbeeinträchtigung des Klägers verursachte. Dies ändert aber nichts daran, dass der Beklagte im Rechtssinne für die dem Kläger entstandenen Schäden letztlich verantwortlich ist, da diese nicht außerhalb aller Wahrscheinlichkeit liegen (BGH NJW-RR 2001,887; NJW 2005, 1420).

4. Gegen die Höhe der zugesprochenen Beträge erhebt die Berufung keine Einwände.

5. Die Kostenentscheidung ergibt sieh aus § 97 Abs. 1 ZPO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf den §§ 708 Nr. 10 und 713 ZPO.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 543 Abs. 2 ZPO) liegen nicht vor.

Ende der Entscheidung

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