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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Oldenburg
Beschluss verkündet am 28.11.2007
Aktenzeichen: 1 Ws 639/07
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 112 Abs. 3
StPO § 116
Auch der Vollzug eines wegen Mordverdachts ergangenen und nur auf den Haftgrund der Tatschwere (§ 112 Abs. 3 StPO) gestützten Haftbefehls kann unter Auflagen in entsprechender Anwendung von § 116 StPO ausgesetzt werden.
Oberlandesgericht Oldenburg 1. Strafsenat Beschluss

1 Ws 639/07

In der Strafsache

hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Oldenburg am 28. November 2007 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht ..., den Richter am Oberlandesgericht ... und die Richterin am Oberlandesgericht ... beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft Oldenburg gegen den Beschluss der 5. großen Strafkammer des Landgerichts Oldenburg vom 07.11.2007, durch den der Haftbefehl des Amtsgerichts Oldenburg vom 06.07.2007 - 28 Gs 1558/07 - aus den Gründen seiner Anordnung aufrechterhalten, jedoch mit Wirkung vom 09.11.2007 unter Erteilung von Auflagen außer Vollzug gesetzt worden ist, wird als unbegründet verworfen.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die insoweit entstandenen notwendigen Auslagen der Angeklagten werden der Staatskasse auferlegt.

Gründe:

Aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Oldenburg vom 06.07.2007 befand sich die Angeklagte in der Zeit vom 09.07.2007 bis zum 09.11.2007 in Untersuchungshaft. In dem auf den Haftgrund des § 112 Abs. 3 StPO (Schwere der Tat) gestützten Haftbefehl wird der Angeklagten zur Last gelegt, am 24.06.1981 versucht zu haben, ihren Sohn M... zu vergiften, indem sie Fleckenwasser (K2R) in ein Glas Milch mischte und dieses ihrem 4jährigen Sohn zu trinken gab. Ferner wird ihr vorgeworfen am Nachmittag des 19.08.1981 ihren Sohn M... mit einer Damenstrumpfhose erdrosselt zu haben. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf den Haftbefehl Bezug genommen.

Wegen der im Haftbefehl bezeichneten Straftaten hat die Staatsanwaltschaft Oldenburg am 11.09.2007 Anklage beim Landgericht Oldenburg - Schwurgericht - erhoben. Das Landgericht hat mit Beschluss vom 12.11.2007 die Anklage der Staatsanwaltschaft Oldenburg insoweit zur Hauptverhandlung zugelassen, als der Angeklagten zur Last gelegt wird, am 19.08.1981 ihren Sohn ermordet zu haben. Hinsichtlich des Vorwurfs des versuchten Mordes (Tat vom 24.06.1981) hat es die Eröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Beschluss vom 12.11.2007 Bezug genommen.

Bereits mit Beschluss vom 07.11.2007 hatte das Landgericht Oldenburg den Haftbefehl des Amtsgerichts Oldenburg vom 06.07.2007 aufrechterhalten, jedoch mit Wirkung vom 09.11.2007 unter Erteilung von Auflagen/Weisungen außer Vollzug gesetzt.

Zur Begründung hat es ausgeführt, der in § 112 Abs. 3 StPO indizierten Fluchtgefahr könne durch andere Maßnahmen als durch den Vollzug der Untersuchungshaft begegnet werden.

Gegen den Außervollzugsetzungsbeschluss vom 07.11.2007 richtet sich die am 15.11.2007 eingegangene Beschwerde der Staatsanwaltschaft vom 08.11.2007, mit der geltend gemacht wird, der Haftgrund der Schwere der Tat (§ 112 Abs. 3 StPO) sei weiterhin gegeben, denn eine Änderung der Verhältnisse seit Erlass des Haftbefehls liege nicht vor.

Das Landgericht hat der Beschwerde im Beschluss vom 19.11.2007, auf den Bezug genommen wird, nicht abgeholfen.

Das Rechtsmittel ist zulässig, hat aber in der Sache keinen Erfolg. Die angefochtene Entscheidung des Landgerichts ist nicht zu beanstanden.

Die Angeklagte ist der im Haftbefehl bezeichneten Tat vom 19.08.1981 aufgrund der in der Anklageschrift bezeichneten Beweismittel und der weiteren Ermittlungsergebnisse dringend verdächtig. Es besteht auch der vom Landgericht bejahte und nach Sachlage einzig ernsthaft in Betracht kommende Haftgrund des § 112 Abs. 3 StPO. Der mit der Beschwerde vertretenen Ansicht der Staatsanwaltschaft, angesichts des Haftgrundes der Schwere der Tat komme eine Außervollzugsetzung des Haftbefehls nicht in Betracht, kann nicht gefolgt werden. Der Senat teilt die Ansicht des Landgerichts, dass es eines Vollzugs des Haftbefehls nicht bedarf, da die im angefochtenen Beschluss aufgeführten weniger einschneidenden Maßnahmen im Sinne des § 116 Abs. 1 StPO die Erwartung hinreichend begründen, dass der Zweck der Untersuchungshaft auch durch sie erreicht werden kann. § 112 Abs. 3 StPO lässt die Anordnung der Untersuchungshaft bei den darin aufgeführten Straftaten der Schwerkriminalität - u. a. Mord - auch zu, wenn ein Haftgrund nach § 112 Abs. 2 StPO nicht besteht. Bei der nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts (vgl. BVerfG NJW 1966, 243) gebotenen verfassungskonformen Auslegung ist die Vorschrift wegen eines sonst darin enthaltenen offensichtlichen Verstoßes gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz dahin auszulegen, dass der Erlass eines Haftbefehls danach nur zulässig ist, wenn Umstände vorliegen, die die Gefahr begründen, dass ohne Festnahme des Beschuldigten die alsbaldige Aufklärung und Ahndung der Tat gefährdet sein könnte. Die Haftanordnung oder die Fortdauer des Vollzuges ist verfehlt, wenn eine Flucht fern liegend erscheint. Unabhängig vom Wortlaut des § 116 StPO, der die Vollzugsaussetzung im Falle des § 112 Abs. 3 StPO nicht vorsieht, folgt aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch die Zulässigkeit einer Haftverschonung bei dem Haftgrund der Schwerkriminalität (vgl. BVerfG a.a.O.. Meyer-Goßner, StPO, 50. Auflage, § 116, Rd.Nr. 18 m.w.Nachw.). Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebietet auch beim Haftgrund der schweren Tat die Außervollzugsetzung des Haftbefehls unter Auflagen, wenn dadurch erreicht werden kann, dass der Beschuldigte sich dem Verfahren nicht entzieht.

Als vollends ausgeschlossen kann die Fluchtgefahr hier zwar nicht beurteilt werden. Eine Flucht der Angeklagten liegt jedoch eher fern, so dass die angeordneten Maßnahmen im Sinne des § 116 StPO geeignet sind, einer Flucht hinreichend entgegenzuwirken. Das Landgericht hat zu Recht darauf hingewiesen, dass sich die Angeklagte bereits seinerzeit dem Verfahren nicht entzogen hat, obwohl sie kurzzeitig festgenommen worden war und als Beschuldigte vernommen wurde. Hinzu kommt, dass die Tat bereits 26 Jahre zurückliegt und die Angeklagte in völlig gefestigten Verhältnissen lebt, eine Arbeitsstelle besitzt und sozial integriert ist. Sie lebt in einer festen Beziehung und plant ihren Lebenspartner zu heiraten. Abgesehen von einer Bestrafung wegen Betruges zu einer Geldstrafe ist die Angeklagte bisher strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten. Beziehungen zum Ausland bestehen bei der offensichtlich auch örtlich verwurzelten Angeklagten nicht. Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass sich die Angeklagte durch Untertauchen dem Strafverfahren entziehen werde. Auch ihr Verhalten nach der Haftentlassung zeigt, dass sie bereit ist, sich dem Verfahren zu stellen und den Auflagen zu folgen. Da die gebotene Gesamtabwägung somit dazu führt, dass der Haftbefehl wegen der nicht ausschließbaren Fluchtgefahr zwar aufrecht zu erhalten ist, sein Vollzug aber unter den im angefochtenen Beschluss genannten Auflagen ausgesetzt werden kann, bleibt die Beschwerde der Staatsanwaltschaft ohne Erfolg.

Hinsichtlich der Straftat vom 24.06.1981 - versuchter Mord durch Vergiften - hat das Landgericht die Eröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt. Die Staatsanwaltschaft hat dagegen kein Rechtsmittel eingelegt. Die Straftat vom 24.06.1981 scheidet somit mangels Tatverdachts als Grundlage für die Untersuchungshaft aus. Der Haftbefehl sollte dem angepasst werden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 StPO.

Ende der Entscheidung

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