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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Oldenburg
Urteil verkündet am 03.08.2006
Aktenzeichen: 8 U 334/05
Rechtsgebiete: SGB VI


Vorschriften:

SGB VI § 179 Abs. 1a S. 2
SGB VI § 179 Abs. 1 S. 1
Normierung der Beitragserstattungspflicht des Bundes nach Maßgabe des § 179 Abs. 1a S. 1 SGB VI.
OBERLANDESGERICHT OLDENBURG Im Namen des Volkes Urteil

8 U 334/05

Verkündet am 03. August 2006

In dem Rechtsstreit

hat der 8. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Oldenburg auf die mündliche Verhandlung vom 27. Juli 2006 unter Mitwirkung der Richter am Oberlandesgericht ..., ... und ...

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung der Beklagten wird das am 30. 11. 2005 verkündete Urteil der 10. Zivilkammer des Landgerichts Osnabrück geändert.

Die Klage wird abgewiesen.

Das klagende Land trägt die Kosten des Rechtsstreits.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Das klagende Land darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages leistet.

Die Revision wird zugelassen.

Gründe:

I.

Das klagende Land, das im Berufungsrechtszug in den Rechtsstreit eingetreten ist, nimmt die Beklagte in Prozessstandschaft für die Bundesrepublik Deutschland auf Schadensersatz aus übergegangenem Recht in Anspruch.

Am 22.03.1996 wurde die seinerzeit 19 Jahre alte Frau G... bei einem Verkehrsunfall schwer verletzt. Zwischen den Parteien ist außer Streit, dass die Beklagte als Haftpflichtversicherer des Unfallgegners für die eingetretenen materiellen Schäden zu 55 % einzustehen hat. Frau G... ist seit dem 17.08.2000 in einer Werkstatt für behinderte Menschen beschäftigt. Die Bundesrepublik hatte dem Heimträger für von diesem im Zeitraum Januar 2001 bis September 2004 für Frau G... gezahlte Rentenversicherungsbeiträge gemäß § 179 Abs. 1 Satz 1 SGB VI Beitragsanteile im Umfang von 14.209,02 € erstattet. Hiervon macht das klagende Land gemäß § 179 Abs. 1a Satz 2 SGB VI die Haftungsquote von 55 % geltend, - mithin 7.814,96 €.

Die 10. Zivilkammer des Landgerichts Osnabrück hat mit ihrem am 30.11.2005 verkündeten Urteil der Klage stattgegeben. Wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt der Entscheidungsgründe des Urteils Bezug genommen.

Mit ihrer zulässigen Berufung macht die Beklagte eine Rechtsverletzung nach Maßgabe der §§ 513 Abs. 1, 546 ZPO geltend.

Sie trägt vor:

Bei den dem Heimträger von der Bundesrepublik Deutschland erstatteten Rentenversicherungsbeiträgen handele es sich nicht um einen Schaden der verletzten Frau G.... Für Beitragserstattungen aufgrund sozialgesetzlicher Bestimmungen habe sie nicht einzustehen. Frau G... hätte in dem Beitragszeitraum von Januar 2001 bis September 2004 ohne den Unfall keine Rentenversicherungsbeiträge gezahlt. Ohne den Unfall wäre Frau G... überhaupt nicht erwerbstätig und damit niemals rentenversicherungsbeitragspflichtig geworden. Demgemäss sei ihr ein als ersatzfähiger Schaden einzuordnender unfallbedingter Beitragsausfall nicht entstanden.

Die Beklagte beantragt,

das am 30.11.2005 verkündete Urteil des Landgerichts Osnabrück abzuändern und die Klage abzuweisen.

Das klagende Land beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Es vertritt die Auffassung, die erstatteten Rentenversicherungsbeiträge seien der Schadensgruppe der vermehrten Bedürfnisse zuzuordnen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.

II.

Der antragsgemäße Eintritt des klagenden Landes in den Rechtsstreit ohne Widerspruch der Beklagten an die Stelle seiner nicht parteifähigen Vertreterin ist gemäß § 533 ZPO zulässig.

Die zulässige Berufung der Beklagten führt in der Sache zum Erfolg.

Der gegenüber der Vertreterin des klagenden Landes durch das angefochtene Urteil errichtete Zahlungstitel zugunsten der Bundesrepublik Deutschland hat keinen Bestand. Die Beklagte ist nicht verpflichtet, der Bundesrepublik die dem Heimträger für die unfallverletzte G... erstatteten Rentenversicherungsbeiträge in Höhe der Haftungsquote von 55 % zu ersetzen. Denn das für die Bundesrepublik in Prozessstandschaft klagende Land hat nicht hinreichend dargetan, dass es sich bei den erstatteten Rentenversicherungsbeiträgen um einen übergegangenen Schaden der Frau G... handelt.

Gemäß § 179 Abs. 1a Satz 2 SGB VI macht die nach Landesrecht für die Erstattung von Aufwendungen für die gesetzliche Rentenversicherung der in Werkstätten beschäftigten behinderten Menschen zuständige Stelle den "auf anderen gesetzlichen Vorschriften beruhenden - auf den Bund übergegangenen - Anspruch auf Ersatz eines Schadens" nach Satz 1 geltend, soweit der Bund aufgrund des Schadensereignisses dem Träger der Einrichtung Erstattungsleistungen nach § 179 Abs. 1 Satz 1 SGB VI erbracht hat. § 179 Abs. 1a Satz 1 SGB VI bewirkt folglich eine Legalzession, die einen Schadensersatzanspruch der Verletzten auf Ersatz von Beiträgen zur Rentenversicherung voraussetzt.

Mag der Bund dem Heimträger die für Frau G... gezahlten Rentenversicherungsbeiträge, die auf den Betrag zwischen ihrem tatsächlich erzielten monatlichen Arbeitsentgelt und 80 vom Hundert der monatlichen Bezugsgröße entfallen, aufgrund des Schadensereignisses erstattet haben, weil Frau G... ohne den Unfall nicht in der beschützenden Werkstatt für behinderte Menschen gearbeitet hätte, so handelt es sich bei den für sie erstatteten Beiträgen jedoch nicht um einen "auf anderen gesetzlichen Vorschriften beruhenden Anspruch auf Ersatz eines Schadens" im Sinne des § 179 Abs. 1a Satz 1 SGB VI. Denn Frau G... hatte keinen Anspruch auf Ersatz von Beiträgen zur Rentenversicherung, weil sie vor dem Unfall nicht rentenversicherungsbeitragspflichtig gewesen war und ohne den Unfall nicht beitragspflichtig geworden wäre.

Die Beklagte hat unwidersprochen vorgetragen, dass die Verletzte vor dem Unfall keine rentenversicherungspflichtige Tätigkeit ausgeübt hatte und diese ohne den Unfall nicht aufgenommen hätte. Im Senatstermin hat das klagende Land erklärt, zu dieser Behauptung nicht vortragen zu wollen. Mithin ist diese Behauptung der Beklagten als zugestanden anzusehen (§ 138 Abs. 3 ZPO).

Zu Unrecht hat das Landgericht den Erstattungsanspruch auf der Grundlage des normativen Schadensbegriffs zuerkannt. Soweit das Landgericht ausführt, dass vermögenswerte Vorteile, die dem Unfallopfer aufgrund gesetzlicher Bestimmungen zufließen, dem Schädiger nicht durch eine Reduzierung seiner Schadensersatzpflicht zugute kommen sollen, ist es unausgesprochen von Beitragsausfällen ausgegangen, da die Reduzierung einer Schadensersatzpflicht ohne einen Schadenseintritt nicht möglich wäre. Wie oben dargestellt, hatte Frau G... mangels einer Beitragspflicht aber keine unfallbedingten Beitragsausfälle erlitten. Vielmehr handelte es sich bei den von der Bundesrepublik erstatteten Rentenversicherungsbeiträgen um Erstattungen an den Beiträge abführenden Heimträger aufgrund sozialpolitisch motivierter Normen für behinderte Menschen in beschützenden Werkstätten.

Vor diesem Hintergrund hat das Landgericht zwar zutreffend ausgeführt, dass es ein gesellschaftliches Anliegen darstelle, durch die Beitragspflicht der in den Werkstätten arbeitenden behinderten Menschen deren Versorgung im Alter sicherzustellen. Dieses gesellschaftliche Anliegen rechtfertigt es aber nicht, gegen den eindeutigen Wortlaut des § 179 Abs. 1a Satz 1 SGB VI sozialpolitisch motivierte Zusatzleistungen des Staates dem Schadensersatzrecht zuzuordnen. Ohne den erlittenen Unfall hätte weder Frau G... selbst noch hätte eine andere Stelle für sie Beiträge in die Rentenversicherung gezahlt. Mithin sind durch den erlittenen Unfall für Frau G... keine Beitragszahlungen ausgefallen. Insoweit hat sie durch den Unfall keine Rentenversicherungsbeiträge eingebüßt. Die Einbuße an Lebensgütern durch das Schadensereignis ist notwendiger Schadensbestandteil.

Zu Unrecht bejaht das Landgericht die hypothetische Frage, ob Frau G... ohne den Unfall in ihrem späteren Leben eine Altersversorgung vermutlich erzielt hätte und ob die von der Bundesrepublik erstatteten Beiträge der Absicherung dieser Altersversorgung dienten, weil Frau G... ihre Versorgung aus eigener Kraft unfallbedingt nicht mehr erreichen könnte. Zur Bejahung genügt nicht die allgemeine Prognose, Frau G... hätte voraussichtlich durch ihre Heirat und die mögliche Geburt von Kindern Altersversorgungsansprüche begründet. Insoweit muss konkret dargelegt und gflls bewiesen werden, dass die Verletzte in dem maßgeblichen Zeitraum ohne den Unfall durch andere konkrete Umstände als die nicht vorhandenen rentenversicherungspflichtigen Einkünfte bestimmte Rentenanwartschaften begründet hätte. Erst danach ist Raum für eine Schadensschätzung nach Maßgabe der §§ 252 BGB, 287 ZPO.

Soweit das Landgericht die Auffassung vertritt, der Gesetzgeber habe durch die Normierung der Beitragspflicht des Bundes eine Schadensschätzung für die Fälle vorgenommen, in denen die Beschäftigung eines Mitarbeiters einer Werkstatt für behinderte Menschen auf den Folgen eines Unfalls beruht, vermag die pauschale Normierung "80 vom Hundert der monatlichen Bezugsgröße" nicht die konkrete Darstellung des Rentenverlaufs zu ersetzen.

Der Schaden ist nicht abstrakt, sondern konkret nach der tatsächlichen Erwerbsminderung und dem Ausfall von Rentenversicherungsbeiträgen oder dem Verlust von bereits aufgebauten Rentenversicherungsanwartschaften darzustellen. Die Umstände, aus denen nach dem gewöhnlichen Verlauf oder nach den besonderen Umständen des Einzelfalls eine künftige Erwerbsbasis oder anderweitige zukünftige Anwartschaften hergeleitet werden könnten, sind gleichfalls konkret darzulegen und gflls zu beweisen. Nur wenn diese Umstände zur Überzeugung des Gerichts feststehen, kann eine Rentenversicherungsanwartschaft nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge mit Wahrscheinlichkeit erwartet werden (BGH, NZV 2001, 210/211 mit weit. Nachw.). Bei Unfällen vor Eintritt in das Berufsleben - wie es hier der Fall war - ist gemäß § 287 ZPO zu schätzen, wie der berufliche Weg der Verletzten nach ihren persönlichen Fähigkeiten und Eigenschaften, der familiären Situation und den Bedingungen des Arbeitsmarktes ohne das Unfallereignis im Hinblick auf die Altersversorgung voraussichtlich verlaufen wäre (Palandt/Heinrichs, BGB, 65. Aufl., § 252, Rndnr. 19 mit weit. Nachw.).

Zur Feststellung der Grundlagen für diese Prognose darf nicht allein auf den Zeitpunkt des Unfallereignisses abgestellt werden. Die Situation im Unfallzeitpunkt ist nur eine der Prognosefaktoren für die künftige Entwicklung. Bei der Prognose müssen als weitere Faktoren regelmäßig auch Erkenntnisse aufgrund von Entwicklungen einbezogen werden, die sich erst nach dem Unfallereignis bis zur letzten mündlichen Verhandlung ergeben haben (BGH, NJW 2004, 1945, 1947). Doch hängt der Ersatzanspruch der Verletzten auch davon ab, dass die Zahlung der vorliegend von der Bundesrepublik erstatteten Beiträge den Zweck, die Absicherung des Anspruchs der verletzten Frau G... auf eine Altersversorgung sicherzustellen, auch wirklich erreichen kann. Nach allgemeinen schadensrechtlichen Grundsätzen hat der Geschädigte nur einen Anspruch auf Ersatz derjenigen Kosten der Schadensbehebung, die bei einem wirtschaftlich vernünftigen Vorgehen entstehen; dem Interesse des Geschädigten an der Restitution sind durch die wirtschaftliche Zumutbarkeit für den Schädiger Grenzen gezogen. Eine Zahlung von Beiträgen, die nicht zu einer Verbesserung der Rechtsposition des Verletzten in der Sozialversicherung führt, erscheint wirtschaftlich als nicht vernünftig (BGH, NJW 1992, 509 mit weit. Nachw.).

Zu all diesen Merkmalen fehlt es an der erforderlichen Darstellung im Klagvorbringen. Ohne hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass die Beitragserstattungen des Bundes an die Stelle eines unfallbedingten Beitragsausfalls getreten oder wenigstens geeignet waren, Rentenanwartschaften für die verletzte Frau G... zu begründen, die ohne das Unfallereignis nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge oder nach den besonderen Umständen des Einzelfalls für sie mit Wahrscheinlichkeit aufgebaut worden wären, lässt sich ein Schadensersatzanspruch aus übergegangenem Recht gemäß § 179 Abs. 1a Satz 1 SGB VI nicht bejahen.

Der Senat hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen (vgl. § 543 Abs. 2 Nr. 1 ZPO). Grundsätzliche Bedeutung hat die vom Senat verneinte, vom Landgericht aber bejahte Frage, ob durch die Normierung der Beitragserstattungspflicht des Bundes nach Maßgabe des § 179 Abs. 1a Satz 1 SGB VI sowohl der Schadenseintritt als auch dessen Schätzung zur Höhe kraft Gesetzes für diejenigen Fälle vorgenommen wurden, in denen die Beschäftigung eines Mitarbeiters einer Werkstatt für behinderte Menschen auf den Folgen eines Unfalls beruht.

Die Nebenentscheidungen folgen aus den §§ 91 Abs. 1, 708 Nr. 10, 710 ZPO.

Ende der Entscheidung

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