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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Oldenburg
Urteil verkündet am 29.01.2007
Aktenzeichen: Ss 353/06 (I 119)
Rechtsgebiete: StGB, MRK, StPO


Vorschriften:

StGB § 56
MRK Art. 6 Abs. 2
StPO § 244
StPO § 267 Abs. 3 S. 1
1. Wird eine lange Verfahrensdauer zu Gunsten des Angeklagten berücksichtigt, so müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, ob damit der zeitliche Abstand zwischen Tat und Urteil, die Dauer des Strafverfahrens an sich, oder ein rechtsstaatswidrig verzögerter Verfahrensablauf gemeint ist.

2. Bei der Entschädigung über eine Strafaussetzung zur Bewährung kann ein erheblicher Verdacht später vom Angeklagten begangener Straftaten berücksichtigt werden. Darin liegt kein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung des Art 6 Abs. 2 MRK und kein Widerspruch zu der hierzu ergangenen Rechtssprechung des EGMR. Der Tatrichter ist berechtigt, wegen des Verdachts von Nachtaten eigene Feststellungen zu treffen.


Oberlandesgericht Oldenburg 1. Strafsenat Im Namen des Volkes Urteil

Ss 353/06 (I 119)

In der Strafsache

wegen Betruges u. a.

hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgericht Oldenburg in der Sitzung vom 29. Januar 2007 an der teilgenommen haben:

Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht ... als Vorsitzender, Richter am Oberlandesgericht ... und Richterin am Oberlandesgericht ... als beisitzende Richter, Staatsanwalt ..., als Vertreter der Generalstaatsanwaltschaft, Rechtsanwalt ..., als Verteidiger des Angeklagten, Justizangestellte ... als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil der 13. kleinen Strafkammer des Landgerichts Oldenburg vom 6. Oktober 2006 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Oldenburg zurückverwiesen, die auch über die Kosten des Rechtsmittels zu entscheiden hat.

Gründe:

Das Amtsgericht Nordenham hat den Angeklagten mit Urteil vom 11. April 2005 wegen vorsätzlichen unerlaubten Umgangs mit gefährlichen Abfällen in Tateinheit mit vorsätzlichem unerlaubtem Betreiben einer Abfallentsorgungsanlage und wegen Betruges unter Einbeziehung der Einzelstrafen aus dem Urteil des Amtsgerichts Nordenham vom 10. September 2001 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr, weiter wegen fahrlässigen Verwendens von Asbest in Tateinheit mit fahrlässigem unerlaubten Umgang mit gefährlichen Abfällen, wegen vorsätzlichen unerlaubten Betreibens einer Abfallentsorgungsanlage, wegen gemeinschaftlicher Unterschlagung und wegen Betruges zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr und 1 Monat und ferner wegen Betruges zu einer Freiheitsstrafe von 6 Monaten ohne Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt und ihn im Übrigen freigesprochen.

Auf die auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkten Berufungen des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft hat das Landgericht Oldenburg mit Urteil vom 6. Oktober 2006 das amtsgerichtliche Urteil aufgehoben und wie folgt neu gefasst:

"Der Angeklagte wird wegen Betruges und unerlaubten Umgangs mit gefährlichen Abfällen in Tateinheit mit vorsätzlichem unerlaubten Betreiben einer Abfallentsorgungsanlage unter Einbeziehung der (Einzel) Strafen aus den Entscheidungen des Amtsgerichts Nordenham vom 05.10.1999 (136 Js 11005/98) und 10.09.2001 (186 Js 26798/98) unter Auflösung der dortigen Gesamtstrafe und unter Einbeziehung der Entscheidung des Amtsgerichts Varel vom 04.04.2002 (133 Js 53396/00) nach Maßgabe des Urteils des Landgerichts vom 28.02.2005 (12 Ns 265/02) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr und 3 Monaten verurteilt.

Er wird ferner wegen vorsätzlichen unerlaubten Betreibens einer Abfallentsorgungsanlage, Betruges, gemeinschaftlicher Unterschlagung und wegen fahrlässigen Verwendens von Asbest in Tateinheit mit fahrlässigem unerlaubten Umgang mit gefährlichen Abfällen zu einer weiteren Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr verurteilt.

Letztlich wird er wegen Betruges zu einer weiteren Freiheitsstrafe von 6 Monaten verurteilt.

Die Vollstreckung der 3 Strafen wird zur Bewährung ausgesetzt."

Gegen dieses Urteil wendet sich die Revision der Staatsanwaltschaft, mit der sie das Verfahren beanstandet und die Verletzung sachlichen Rechts rügt.

Das zulässige Rechtsmittel hat mit der Sachrüge Erfolg.

Die Strafzumessungserwägungen des Landgerichts begegnen durchgreifenden Bedenken. Zwar ist die Strafzumessung grundsätzlich Sache des Tatrichters. Das Revisionsgericht kann insoweit nur bei einem Rechtsfehler eingreifen sowie dann, wenn die Darstellung der Strafzumessung in den Urteilsgründen eine Überprüfung auf Rechtsfehler nicht zulässt. Letzteres ist hier der Fall.

Die Ausführungen des Landgerichts zur Strafzumessung leiden an einem Darstellungsmangel, weil sich die Strafkammer dabei unklar und unzureichend mit der von ihr angenommenen "überlangen Verfahrensdauer" auseinandergesetzt hat.

Kommt es in einem Strafverfahren zu einem außergewöhnlich langen Abstand zwischen Tat und Urteil oder einer sehr langen Dauer des Verfahrens, so hat der Tatrichter drei unterschiedliche Strafmilderungsgründe zu bedenken:

Zum einen kann bereits der lange zeitliche Abstand zwischen Tat und Urteil zu einem wesentlichen Strafmilderungsgesichtspunkt führen, ohne dass es insoweit auf die Dauer des Verfahrens selbst ankäme (vgl. BGHR StGB § 46 II Verfahrensverzögerung 6).

Zum zweiten kann unabhängig vom zeitlichen Abstand zwischen Tat und Urteil einer überdurchschnittlich langen Verfahrensdauer eine eigenständige strafmildernde Bedeutung zukommen, bei der insbesondere die mit dem Verfahren selbst verbundenen Belastungen des Angeklagten zu berücksichtigen sind. Dieser Strafmilderungsgrund kann auch dann gegeben sein, wenn die außergewöhnlich lange Verfahrensdauer sachliche Gründe hatte und nicht von den Strafverfolgungsorganen zu vertreten ist.

Zum dritten kann die Verfahrensdauer schließlich auch das in Artikel 6 Abs. 1 Satz 1 MRK garantierte Recht des Angeklagten auf gerichtliche Entscheidungen in angemessener Zeit verletzt haben. Der Tatrichter hat in einem solchen Fall eines "überlangen" Verfahrens nach der Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs im Urteil Art und Ausmaß der Verzögerung festzustellen und in einem zweiten Schritt das Maß der Kompensation durch Vergleich der an sich verwirkten mit der tatsächlich verhängten Strafe ausdrücklich und konkret zu bestimmen (vgl. BVerfG NStZ 1997, 591).

Die Zumessungserwägungen des Berufungsgerichts in dem angefochtenen Urteil werden diesen Anforderungen nicht gerecht. Die Strafkammer hat in den Urteilsgründen zunächst aufgeführt, dass die Taten 3 bis 6,5 Jahre zurückliegen. Zudem habe das verbundene Verfahren nach Eingang der letzten Anklage im September 2002 bis zum erstinstanzlichen Urteil mehr als 2 Jahre gedauert, ohne dass hierfür ein zureichender Anlass bestanden habe. Von einer überlangen Verfahrensdauer im Sinne einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung ist dabei nicht die Rede. Bei der Prüfung der Strafaussetzung zur Bewährung wird im Urteil hingegen eine "überlange Verfahrensdauer" angegeben, ohne dass dies näher ausgeführt wird. Die Strafzumessungserwägungen sind damit unklar, denn es bleibt offen, ob die Kammer lediglich eine lange Verfahrensdauer mildernd berücksichtigen wollte oder ob sie eine überlange Verfahrensdauer im Sinne einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung als gegeben ansah. Letzteres ist mindestens nicht auszuschließen, zumal die Erwähnung des langen Zeitablaufs zwischen der Anklage vom September 2002 und der erstinstanzlichen Hauptverhandlung dafür spricht. In diesem Falle reichen die pauschalen Darlegungen in den Urteilsgründen nicht aus. Es wäre vielmehr eine konkrete Angabe der vorgenommenen Herabsetzung der Strafen zwingend erforderlich gewesen. Zu berücksichtigen und im Urteil darzulegen wäre aber auch gewesen, inwiefern gerade aufgrund nur dem Staat zuzurechnender Verzögerungen das Strafverfahren nicht innerhalb angemessener Frist im Sinne von Artikel 6 Abs. 1 EMRK entschieden wurde.

Der aufgezeigte Darstellungsmangel führt dazu, dass die Strafzumessung vom Revisionsgericht nicht auf Rechtsfehler überprüfbar ist. Da nicht auszuschließen ist, dass die Strafzumessung bei zutreffender Auseinandersetzung mit der Verfahrensdauer anders ausgefallen wäre, war das Urteil aufzuheben und die Sache an das Landgericht zurückzuverweisen.

Eines Eingehens auf die Verfahrensrügen bedarf es wegen des Erfolges der Sachrüge nicht mehr.

Im Hinblick auf die im angefochtenen Urteil angesprochene Entscheidung des EGMR vom 3. Oktober 2002 (StV 2003, 82), durch die sich die Strafkammer an der von der Staatsanwaltschaft beantragten Beweiserhebung zu dem Angeklagten vorgeworfenen späteren, bislang nicht rechtskräftig abgeurteilten, Straftaten gehindert gesehen hat, weist der Senat jedoch auf folgendes hin:

Diese Entscheidung, die den Widerruf einer Strafaussetzung zur Bewährung wegen späterer Taten nach § 56f StGB betrifft, ist für die hier in der Hauptverhandlung zu beantwortende Frage, ob dem Angeklagten nach § 56 StGB Strafaussetzung zur Bewährung zu gewähren ist, nicht einschlägig und - entgegen der Ansicht der Strafkammer - auch nicht entsprechend anwendbar.

Denn hierbei geht es um die Prüfung, ob trotz verwirkter Freiheitsstrafe diese deshalb nicht sogleich zu vollstrecken ist, weil zu erwarten ist, dass der Angeklagte sich die Verurteilung zur Warnung dienen lassen und künftig auch ohne die Einwirkungen des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird. Die Vollstreckung einer Strafe zur Bewährung darf nur ausgesetzt werden, wenn diese Erwartung im Sinne einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit eindeutig zu bejahen ist; wegen des vorrangigen Schutzes der Allgemeinheit gilt insoweit der Zweifelsatz zugunsten des Angeklagten nicht (vgl. BGH, Urt. v. 22.11.1991, StV 1992, 106; Tröndle/Fischer, StGB, 54. Aufl., § 56 Rdn. 4a m.w.Nachw.). Damit unterscheidet sich der Widerruf einer Strafaussetzung, die den nachträglichen Entzug einer dem Verurteilten zuvor rechtskräftig eingeräumten Rechtsposition darstellt, entscheidend von der erstmaligen Bewilligung einer Strafaussetzung.

Wegen dieses Unterschiedes ist die zitierte Rechtsprechung des EGMR bei der Entscheidung über eine erstmalige Strafaussetzung auch nicht entsprechend anzuwenden. Das ergibt sich im Übrigen auch schon aus dieser Entscheidung selbst, die sich in Nr. 65 der Gründe auf die Entscheidung der EKMR vom 30. November 1994 (Aktz.: 23091/93) bezieht. In dem dort entschiedenen Fall ging es um die Frage, ob eine nicht rechtskräftig abgeurteilte Nachtat bei der Entscheidung über die Aussetzung eines Strafrestes zur Bewährung nach § 57 StGB berücksichtigt werden darf. Das ist von der EKMR bejaht worden, weil insoweit schon das Vorliegen eines starken Tatverdachtes ("strong suspicion") ausreicht, um - ohne Verstoß gegen die Unschuldsvermutung - eine Aussetzung der Reststrafe abzulehnen, wobei im entschiedenen Fall der Angeklagte zwischenzeitlich sogar von der ihm zur Last gelegten Nachtat freigesprochen (!) worden war. Der Grundgedanke dieser Entscheidung zu § 57 StGB gilt auch für die hier in Rede stehende nach § 56 StGB. Denn in beiden Vorschriften geht es um eine gerichtliche Prognoseentscheidung dazu, wie wahrscheinlich eine Begehung künftiger Straftaten auch ohne Vollzug der an sich verwirkten Freiheitsstrafe ist.

Mithin ist auch unter dem Gesichtspunkt der Unschuldsvermutung § 56 Abs. 1 Satz 2 StGB uneingeschränkt anzuwenden, so dass auch das Verhalten des Angeklagten nach der Tat umfassend zu würdigen ist. Bei der Entscheidung über eine Straffaussetzung zur Bewährung sind deshalb insbesondere Straftaten zu berücksichtigen, von denen aufgrund rechtskräftiger Verurteilung oder wegen eines glaubhaften Geständnisses feststeht, dass der Angeklagte sie nach der Tat begangen hat. Aber auch wenn insoweit nur ein erheblicher Tatverdacht besteht, kann dies bei der Prognoseentscheidung grundsätzlich zu Lasten des Angeklagten berücksichtigt werden, wobei freilich den Umständen des Einzelfalls maßgebliche Bedeutung zukommt. Es ist dem Tatrichter entgegen der Ansicht der Strafkammer nicht verwehrt, hierzu eigene Feststellungen zu treffen (vgl. auch BGHR StGB § 56 Abs. 1 Sozialprognose 25, zu der Berücksichtigung nicht abgeurteilter Vortaten bei der Anwendung von § 56 StGB).

Ende der Entscheidung

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