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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Schleswig
Urteil verkündet am 07.09.2007
Aktenzeichen: 4 U 105/06
Rechtsgebiete: BGB


Vorschriften:

BGB § 249
BGB § 823
1. Gutachten zur Einstufung in die Pflegeversicherung (Pflegegutachten) stellen ohne ergänzenden Vortrag keine hinreichende Darlegung eines Pflegemehrbedarfs in der Vergangenheit dar, sondern haben allenfalls Indizwirkung.

2. Die verringerte Darlegungslast des Patienten im Arzthaftungsprozess erstreckt sich nicht auf den Umfang eines in der Vergangenheit geleisteten Pflegemehrbedarfs.

3. Begleitende häusliche Übungen zur Unterstützung regelmäßiger Krankengymnastik-Therapie (z.B. Bobath/Vojta) sind Ausdruck elterlicher Zuwendung und nicht kommerzialisierbar.


Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht Im Namen des Volkes Urteil

4 U 105/06

verkündet am: 07.09.2007

In dem Rechtsstreit

hat der 4. Zivilsenat des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts in Schleswig auf die mündliche Verhandlung vom 13.06.2007 für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung der Klägerin gegen das am 9. Juni 2006 verkündete Urteil der 8. Zivilkammer des Landgerichts Kiel wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Klägerin.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Klägerin bleibt nachgelassen, die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages abzuwenden, sofern nicht die Gegenseite zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe:

I.

Die Klägerin macht Pflege- und Behandlungsmehrbedarf wegen einer seit ihrer Geburt am 09.02.1982 bestehenden Schwerbehinderung gegen den beklagten Kreis als Träger des Kreiskrankenhauses in P. für den Zeitraum bis einschließlich Dezember 2004 geltend. Der beklagte Kreis ist durch rechtskräftiges Urteil des Senats vom 25.03.1998 (Aktenzeichen: 4 U 75/93) wegen eines groben Behandlungsfehlers der behandelnden Ärzte des Krankenhauses im Zusammenhang mit ihrer Geburt zu Schadensersatz verurteilt worden.

Bei der Klägerin zeigte sich ab Vollendung ihres ersten Lebensjahres eine psycho-neurologische Entwicklungsstörung vorwiegend motorischer, aber auch psychointellektueller Art, die insbesondere in den ersten Lebensjahren zu Krankenhausaufenthalten im Kinderzentrum P. führten. Sie besuchte ab 1985 den Regelkindergarten und wurde im August 1989 in eine Lernbehindertenklasse der Körperbehindertenschule in R. eingeschult, die sie bis Sommer 2000 besuchte. Von August 2000 bis Juni 2004 lebte die Klägerin in einem Internat in H., in dem sie zunächst ein Berufsvorbereitungsjahr und anschließend eine Ausbildung zur Bürokraft beim Berufsbildungswerk absolvierte. Seit Sommer 2004 wohnt die Klägerin allein in einer Wohnung in P., sie ist arbeitslos.

Die Klägerin erhielt vor Einführung der Pflegeversicherung Pflegegeld, vom 01.05.1995 bis 30.08.1998 war die Klägerin in die Pflegestufe II (Pflegemehrbedarf täglich 3 Stunden) der Pflegeversicherung eingestuft, seit 01.09.1998 erfolgt die Einstufung nach der Pflegestufe I (Pflegemehrbedarf täglich 1,5 Stunden). - Der Versicherer des beklagten Kreises hat auf die Schadensersatzansprüche der Klägerin bisher 35.790,44 € gezahlt, von der Pflegeversicherung hat die Klägerin mindestens 32.331,05 € erhalten.

Auf der Grundlage der vorliegenden Gutachten für die Pflegeversicherung vom 04.09.1995, 01.09.1998 und 02.11.1999 (Bl. 110 a - 123 a d. A.) macht die Klägerin auf der Basis eines Stundenlohnes von netto 10 € einen Grundpflegemehrbedarf in Höhe von insgesamt 228.555,00 € sowie Behandlungspflegebedarf von 203.487,50 € geltend, auf den sie sich die Leistungen der Pflegeversicherung sowie die bisher erbrachten Zahlungen des Versicherers des Beklagten anrechnen lässt, so dass nach ihrer Berechnung 363.921,01 € verbleiben.

Das Landgericht hat nach Anhörung der Klägerin die Klage abgewiesen, da die bereits geleisteten Zahlungen den Anspruch der Klägerin überstiegen. Es hat ausgeführt, soweit die Klägerin Behandlungsbedarf geltend mache, der sich im Wesentlichen auf häusliche tägliche Übungen der Mutter mit ihr stütze, sei dieser nicht erstattungsfähig. Das Landgericht hat lediglich den mit den auswärtigen Therapien (Krankengymnastik, therapeutisches Reiten, Ergotherapie, Logopädie, Heileurythmie, Kinesiologie) verbundenen Zeitaufwand als ersatzfähig angesehen. Hinsichtlich des von der Klägerin geltend gemachten Grundpflegemehrbedarfs hat es einen Anspruch der Klägerin mangels hinreichender Substantiierung für den Zeitraum vor 1992 abgewiesen und für den Zeitraum ab 01.09. 1992 lediglich teilweise - bei einem Stundenlohn von 7,00 Euro netto - als begründet angesehen.

Dagegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Berufung und führt im Wesentlichen aus, zur hinreichenden Substantiierung ihres Anspruchs habe ausgereicht, dass sie die für die Pflegeversicherung eingeholten Pflegegutachten eingereicht habe, auch habe sie hinreichend substantiiert in ihren Schriftsätzen vorgetragen. Im Übrigen seien im Arzthaftungsprozess die Anforderungen an den Vortrag des Klägers gering, es sei Sache des Gerichts, den Sachverhalt zu ermitteln Das Landgericht hätte zur Feststellung des in der Vergangenheit erforderlich gewesenen Pflegemehraufwandes ein Sachverständigengutachten einholen müssen.

Die Klägerin beantragt,

das angefochtene Urteil zu ändern und den Beklagten zu verurteilen, an sie 363.921,01 € nebst 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Klagzustellung zuzahlen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die im zweiten Rechtszug gewechselten Schriftsätze der Parteien waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. - Im Übrigen wird vollumfänglich auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils Bezug genommen.

II.

Die Berufung hat keinen Erfolg.

1. Grundpflegemehrbedarf

Keine Bedenken bestehen, soweit das Landgericht einen Anspruch der Klägerin auf Grundpflegemehrbedarf für den Zeitraum vor 9/1992 als nicht hinreichend dargelegt abgewiesen hat.

a. Bereits mit Verfügung vom 27.01.2005 (Bl. 8 d. A.) ist der Klägerin nach Eingang der Klage aufgegeben worden, vorzutragen, welche Pflegeleistungen die Klägerin in welchem Umfang infolge ihrer Behinderung bedarf. Denn ein Verletzter muss seinen Mehrbedarf nachweisen (BGH VersR 1970, 1034). Auf den insoweit erforderlichen ergänzenden Vortrag hat auch der Beklagte mit Schriftsatz vom 18.07.2005 (Bl. 22, 24/25 d. A.) hingewiesen, ein erneuter diesbezüglicher Hinweis des Landgerichts erfolgte mit Verfügung vom 27.02.2006 (Bl. 100 d. A.). Die Klägerin hat in der Folgezeit lediglich die seit 1995 erstellten Gutachten des medizinischen Dienstes der Krankenkassen zur Feststellung der Pflegestufe eingereicht (Bl. 110 a ff. d. A.).

b. Für die Zeit vor 9/1992 (also länger als drei Jahre vor Erstellung des ersten Gutachtens) reichen die teilweise recht pauschal angelegten und an den Bedürfnissen der Pflegekasse orientierten Gutachten ohne ergänzenden substantiierten Vortrag nicht aus, den Umfang der aufgrund der Behinderung tatsächlich zusätzlich für sie zu erbringenden Grundpflege hinreichend darzulegen. Gerade in den ersten 10 Lebensjahren entwickelt sich erfahrungsgemäß ein Kind schnell und auch individuell sehr unterschiedlich, so dass Rückschlüsse aus den später erstellten Gutachten nicht möglich sind.

Insoweit ergeben sich auch nicht hinreichende Anhaltspunkte aus der Anhörung der Klägerin im Termin vor dem Landgericht am 16.05.2006 sowie aus dem Bericht der Eltern zur Entwicklung der Klägerin (Bl. 63 ff. d. A.), der ohnehin nur den Zeitraum von 1990 bis 1995 umfasst und im Wesentlichen die durchgeführten Therapien schildert. Dasselbe gilt bezüglich der für den Zeitraum vor 1990 eingereichten Arztberichte und Krankengymnastikberichte sowie der Berichte des Kinderzentrums Pelzerhaken. Im Bericht des Kinderzentrums vom 06.02.1987 (Bl. 60 d. A.) ist zudem ausgeführt, dass die seinerzeit fast 5-jährige Klägerin bei den Alltagsverrichtungen weitgehend selbstständig sei. - Auch im Rahmen der Berufung ist konkreter weiterer Vortrag bezüglich eines erhöhten Pflegeaufwands im Rahmen der Grundpflege nicht erfolgt.

Soweit die Klägerin darauf verweist, sie treffe im Arzthaftungsprozess nur eine geringe Darlegungslast, hat dies keinen Erfolg. Denn die verringerte Darlegungslast des Patienten im Arzthaftungsprozess bezieht sich auf Sachverhalte, die regelmäßig der Patient aufgrund seiner fehlenden medizinischen Sachkunde nicht darlegen kann und deshalb das Gericht aus Gründen der Waffengleichheit gehalten ist, von sich aus zu ermitteln (Frahm/Nixdorf, Arzthaftungsrecht, 3.Aufl., Rn. 240 m. w. N. auf die Rspr.). Hier wurde jedoch der Klägerin aufgegeben, Tatsachen vorzutragen, die nicht in den Bereich der medizinischen Sachkunde fallen und von denen allein sie bzw. ihre Eltern Kenntnis haben. Denn weder das Gericht noch ein Sachverständiger kann konkret wissen, in welchem Umfang für die Klägerin aufgrund ihrer Behinderung ein erhöhter Pflegeaufwand - im Bereich der Grundpflege - durch ihre Eltern geleistet wurde. Aus diesem Grunde war auch für die Einholung eines Sachverständigengutachtens in erster Instanz entgegen der Auffassung der Klägerin kein Raum, da lediglich der konkret entstandene Schaden, d. h. der konkret geleistete Pflegemehraufwand, für die Vergangenheit zu ersetzen ist. Zwar kann das Gericht bei der Feststellung des Schadens auf § 287 ZPO zurückgreifen, vorliegende Pflegegutachten können auch Anhaltspunkte für eine angemessene Schätzung geben. Dies gilt aber aus den oben angeführten Gründen jedenfalls nicht für einen Zeitraum, der länger als drei Jahre vor Erstellung des ersten Gutachtens liegt.

c. Der Senat hat auch keine Bedenken, soweit das Landgericht für die Feststellung des Grundpflegemehrbedarfs für die Zeit ab 9/1992 von dem auf der Basis der Einstufung in die jeweilige Pflegekasse durchgehend geltend gemachten Bedarf abgewichen ist.

Entgegen der Auffassung der Klägerin sind - dies entspricht der ständigen Rechtsprechung des Senats - die Einstufung in eine Pflegeklasse der sozialen Pflegeversicherung für den Umfang der Schadensersatzpflicht als Folge eines Behandlungsfehlers wie auch die Feststellungen in den Pflegegutachten (auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass diese gemäß § 18 Abs. 1 SGB XI bzw. § 34 SGB V erstellt werden) nicht bindend, sie haben allenfalls Indizwirkung. Im Schadensersatzrecht (die Schadensersatzpflicht des Beklagten als Folge eines Behandlungsfehlers der Ärzte des Kreiskrankenhauses P. wurde im vorangegangenen Arzthaftungsprozess durch den Senat festgestellt) ist der Schädiger gemäß § 249 BGB verpflichtet, den Zustand herzustellen, der bestehen würde, wenn der zum Ersatz verpflichtende Umstand nicht eingetreten wäre, er hat im Falle der Verletzung einer Person Geldersatz zu leisten. Dabei ist der Schaden konkret zu berechnen (vgl. Palandt-Heinrichs, 66. Auflage, vor § 249 Rn. 50; § 843 Rn. 2 jeweils m. w. N.).

So bestehen keine Bedenken, soweit das Landgericht den geltend gemachten Pflegemehrbedarf für die Zeit des Internatsaufenthaltes der Klägerin in H. in der Zeit vom 01.09.2000 bis Juni 2004 gekürzt hat. Insoweit wird auf die Ausführungen im angefochtenen Urteil Bezug genommen.

d. Im Hinblick auf die Ausführungen zu Ziff. 3 (s. u.) kommt es auch nicht darauf an, ob das Landgericht unter Berücksichtigung der Pflegegutachten der Klägerin einen Grundpflegemehrbedarf für die Zeit vom 01.09.1992 bis 31.08.1995 (Zeitraum von 3 Jahren vor Einführung der Pflegeversicherung) zu Recht zugesprochen hat, den wiederum der Beklagte in seiner Berufungserwiderung angreift.

e. Ebenfalls bestehen keine Bedenken, soweit das Landgericht für die Pflegeleistungen einen Stundenlohn in Höhe von netto 7,00 € zu Grunde gelegt hat. Denn diesem liegt eine Auskunft der Gewerkschaft für Beschäftigte im Gesundheitswesen über die in den Jahren zwischen 1986 und 2004 in gezahlten Bruttolöhne zu Grunde. Danach ist unter Berücksichtigung eines Abschlags für Steuer und Sozialversicherungsbeträge in Höhe von mindestens 30 % ein Betrag für 7,00 € netto als Durchschnittswert für den gesamten zurückliegenden Zeitraum als angemessen und auch ausreichend anzusehen.

2. Behandlungsbedarf

Auch soweit das Landgericht einen Behandlungsbedarf der Klägerin in Höhe von lediglich 9.646,00 € als schlüssig dargelegt angesehen hat, hat der Senat keine Bedenken und die Berufung keinen Erfolg.

Soweit dieser im Wesentlichen auf häusliche Übungen gestützt wird, die die Mutter täglich mit der Klägerin wahrgenommen hat, sind diese nicht erstattungsfähig. Denn wie das Landgericht zutreffend ausgeführt hat, handelt es sich dabei nicht um Leistungen, die in vergleichbarer Weise von einer fremden Hilfskraft hätten übernommen werden können, mithin kommerzialisierbar sind. Dies ist aber Voraussetzung einer Erstattungsfähigkeit.

Die begleitend zur regelmäßigen krankengymnastische Therapie zuhause von der Mutter der Klägerin durchgeführten Maßnahmen/Übungen sind schwerpunktmäßig dem Bereich vermehrter elterlicher Zuwendung zuzurechnen. Sie waren Bestandteil der krankengymnastischen Behandlung nach Bobath/Vojta, die der häuslichen Unterstützung bedurfte und damit gleichermaßen Bestandteil der täglichen Betreuung der behinderten Klägerin durch ihre Eltern. Einer Elternkindbeziehung ist regelmäßig das Bemühen um die Förderung des Kindes immanent, dies gilt mehr noch als in einer normalen Elternkindbeziehung für die Förderung eines behinderten Kindes, soweit dies, wie im Fall der - vergleichsweise - lediglich leicht behinderten Klägerin, möglich und Erfolg versprechend ist. Gerade weil die Förderung ihren Schwerpunkt in der Elternkindbeziehung hat, ist sie nicht kommerzialisierbar. Sie ist Bestandteil des täglichen Zusammenlebens ebenso wie etwa die Förderung eines gesunden Kindes auf einem anderen Gebiet wie zum Beispiel im Bereich des Sports, der Musik. Denn Kommerzialisierbarkeit ist nur gegeben, wenn für diese Leistungen die Einstellung einer fremden Fachkraft bei vernünftiger Betrachtung als Alternative ernstlich infrage gekommen wäre (BGH NJW 1999, 2819; VersR 1978, 149; OLG Karlsruhe VersR 2006, 515). Das ist aber gerade bei den die Therapie unterstützenden häuslichen Maßnahmen nicht der Fall. Dasselbe gilt für die häuslichen unterstützenden Maßnahmen im Rahmen der zeitweilig durchgeführten Ergotherapie, Logopädie, Heileurythmie und Kinesiologie.

3. Es bestehen keine Bedenken, den landgerichtlichen Ausführungen auch insoweit zu folgen, dass unter Berücksichtigung der Zahlungen des Beklagten sowie der Leistungen der Pflegeversicherung ein Anspruch der Klägerin - auch unter Berücksichtigung des dem Grunde nach zugesprochenen Anspruchs für die Zeit vom 01.09.1992 bis 31.08.1995 - nicht verbleibt. Insoweit wird ausdrücklich darauf verwiesen, dass die Klägerin die vor Einführung der Pflegeversicherung gezahlten monatlichen Pflegegelder weiterhin nicht dargelegt hat und dass diese ebenfalls Ansprüchen der Klägerin bis zum Zeitpunkt der Einführung der Pflegeversicherung entgegenzuhalten wären.

Die Nebenentscheidungen folgen aus den §§ 97, 708 Nr. 10, 711 ZPO. Gründe für die Zulassung der Revision liegen ersichtlich nicht vor, § 543 Abs. 2 ZPO.

Ende der Entscheidung

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