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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Schleswig
Urteil verkündet am 27.02.2009
Aktenzeichen: 4 U 86/08
Rechtsgebiete: ZPO, AVAG


Vorschriften:

ZPO § 717 Abs. 2
AVAG § 8
AVAG § 27
AVAG § 28
Haftung des Gläubigers aus der Vollstreckung eines polnischen Zahlungsbefehls im Inland (hier: Analoge Anwendung der §§ 28 Abs. 1 S. 2 AVAG, 717 Abs. 2 S. 1 ZPO auf den Fall, dass aus einem der Aufhebung durch das ausländische Gericht nach § 27 AVAG unterliegenden Titel ohne Zulassung der Zwangsvollstreckung gemäß § 8 Abs. 1 AVAG hier vollstreckt und der ausländische Titel auf einen ordentlichen Rechtsbehelf hin gemäß § 27 Abs. 1 AVAG aufgehoben worden ist).
Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht

Urteil

Im Namen des Volkes

4 U 86/08

verkündet am: 27. Februar 2009

In dem Rechtsstreit

hat der 4. Zivilsenat des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts in Schleswig auf die mündliche Verhandlung vom 11. Februar 2009 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht , die Richterin am Oberlandesgericht und den Richter am Oberlandesgericht

für Recht erkannt:

Tenor:

1. Die Berufung des Beklagten gegen das am 11. Juni 2008 verkündete Urteil des Einzelrichters der 10. Zivilkammer des Landgerichts Itzehoe wird zurückgewiesen.

2. Der Beklagte trägt die Kosten der Berufung.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung des Klägers durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

4. Die Revision wird zugelassen.

Gründe:

I.

Der Kläger verlangt von dem Beklagten Ersatz des Vollstreckungsschadens, nachdem dieser ihm gegenüber aus einem vom Bezirksgericht Danzig erlassenen Zahlungsbefehl (Art. 484 ff ZVGB) in Deutschland vollstreckt hat, der später aufgehoben worden ist. Die Parteien, die Geschäftsbeziehungen unterhielten, handeln mit Papier für Kassen und Faxgeräte, der Beklagte ist in Polen geschäftsansässig. Der Beklagte macht gegen den Kläger einen Anspruch von 827.353,32 ZL vor dem Bezirksgericht Danzig (Az. ...) geltend, das gegen den Kläger am 15. Juni 2005 einen "Zahlungsbescheid im Urkundsprozess" über 827.353,32 ZL erlassen hat. Mit diesem Bescheid erwirkte der Beklagte bei dem Amtsgericht A. einen Pfändungs- und Überweisungsbeschluss gegen den Kläger und dessen Banken, den das Amtsgericht am 23. März 2006 erließ (Bl. 11 f d.A.), ohne dass die nach den §§ 38, 41, 53 EuGVVO i.V.m. §§ 1, 2, 8 ff AVAG erforderliche Vollstreckbarkeitserklärung des Titels durch das nach § 3 Abs. 1 AVAG zuständige Landgericht vorgelegen hat. Der Beklagte hat den Beschluss u.a. auch der Hamburger Sparkasse (HASPA), wo der Kläger ein Konto unterhielt, zugestellt, die auf die Pfändung vom Konto des Klägers an den Beklagten zwischen August und Oktober 2006 insgesamt € 19.000,00 zahlte (vgl. Bl. 18 f d.A.). Der "Zahlungsbescheid" über 827.353,32 ZL ist vom Bezirksgericht Danzig am 06. Dezember 2006 gemäß Art. 492 ZVGB (kpc, Übersetzung Bl. 10 d.A.) aufgehoben worden, nachdem der Kläger dort zu dem vom Beklagten geltend gemachten Anspruch Stellung genommen hatte. Daraufhin hat das Amtsgericht A. den Pfändungs- und Überweisungsbeschluss auf die Erinnerung des Klägers vom 20. Dezember 2006 mit Beschluss vom 20. Februar 2007 (Bl. 15 ff d.A.) aufgehoben. Der Kläger hat den Beklagten mit Anwaltsschreiben vom 27. März 2007 (Bl. 72 f d.A.) unter Fristsetzung auf den 18. April 2007 mahnen lassen.

Das Bezirksgericht Danzig hat den Kläger am 27. August 2007 zur Zahlung von 753.129,84 ZL verurteilt und das Verfahren wegen eines Betrages von 74.223,48 ZL eingestellt. Auf die Berufung des Klägers hat das Berufungsgericht Danzig die Entscheidung aufgehoben und die Sache an das Bezirksgericht zurückverwiesen. Der Kläger verlangt von dem Beklagten die Rückzahlung der gepfändeten € 19.000,00 sowie den Ersatz des ihm aus der Pfändung entstandenen, weiteren Schadens von € 15.847,68.

Der Kläger hat beantragt,

den Beklagten zu verurteilen, an den Kläger 34.847,68 EUR nebst Zinsen in Höhe von acht Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 18.04.2007 zu zahlen.

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Wegen des weiteren Parteivorbringens erster Instanz wird gemäß § 540 Abs. 1 S. 1 ZPO auf das angefochtene Urteil Bezug genommen. Das Landgericht hat der Klage aus § 717 Abs. 2 S. 1 ZPO stattgegeben und den Beklagten zur Rückzahlung der gepfändeten € 19.000,00 sowie zum Ersatz des darüber hinaus geltend gemachten, der Höhe nach unstreitigen Vollstreckungsschadens von € 15.847,68 nebst Zinsen verurteilt. Wegen der Einzelheiten der Begründung wird auf das angefochtene Urteil Bezug genommen.

Der Beklagte wendet sich gegen die Verurteilung mit den folgenden Berufungsangriffen (Bl. 272 ff d.A.):

Die Anwendung des § 717 Abs. 2 ZPO sei zu beanstanden, da es sich bei dem Mahnbescheid des Bezirksgerichts Danzig nicht um eine "vorläufig vollstreckbare Entscheidung" i.S.d. § 717 ZPO handele. Darüber hinaus sei der Bescheid in Deutschland in Ermangelung einer Vollstreckbarkeitserklärung nicht vollstreckbar gewesen. Eine analoge Anwendung des § 717 Abs. 2 ZPO komme in Ermangelung einer Regelungslücke nicht in Betracht. Bei richtiger Sachbehandlung hätte das Amtsgericht Pinneberg den Antrag zurückweisen müssen.

Jedenfalls mangele es aufgrund der unrichtigen Sachbehandlung durch das AG A. an einem adäquat durch die Vollstreckung verursachten Schaden, denn dieser sei nicht durch die Vollstreckung des Danziger Urteils, sondern durch die unrichtige Sachbehandlung durch das Amtsgericht eingetreten. Bei einem derartigen Fehler eines Amtsgerichtes handele es sich um einen ganz unwahrscheinlichen Kausalverlauf, für den der Beklagte nicht hafte. Der Beklagte sei als in Polen lebender Bürger mit deutscher und polnischer Staatsangehörigkeit zur Beurteilung der vollstreckungsrechtlichen Rechtslage nicht in der Lage gewesen.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Landgerichts Itzehoe vom 11. Juni 2008 abzuändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung des Berufungsklägers auf seine Kosten zurückzuweisen.

Er tritt den Berufungsangriffen unter Verteidigung des landgerichtlichen Urteils entgegen (Bl. 277 ff d.A.). Wegen des weiteren Parteivorbringens wird auf die Schriftsätze der Parteien im Berufungsverfahren und das Protokoll des Termins vom 11. Februar 2009 Bezug genommen.

II.

Die zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte und begründete Berufung des Beklagten hat keinen Erfolg, das Landgericht hat den Beklagten im Ergebnis zutreffend zur Zahlung verurteilt. Die Haftung des Beklagten folgt aus der entsprechenden Anwendung der §§ 28 Abs. 1 S. 2 AVAG, 717 Abs. 2 S. 1 ZPO.

1) Allerdings kommt eine vom Landgericht angenommene unmittelbare Anwendung von § 717 Abs. 2 S. 1 ZPO nicht in Betracht, da es sich bei dem polnischen Zahlungsbefehl nicht um einen deutschen Titel handelt. Unmittelbar findet § 717 Abs. 2 S. 1 ZPO nur auf für vorläufig vollstreckbar erklärte Urteile Anwendung. Kraft gesetzlicher Verweisung oder analoger Anwendung ist § 717 Abs. 2 S. 1 ZPO ferner anwendbar auf Vollstreckungsbescheide (vgl. § 700 Abs. 1 ZPO), Arrest u. einstweiliger Verfügung (§ 945 ZPO), die Aufrechnung nach Aufhebung eines unter Vorbehalt ergangenen Urteils (§ 302 Abs. 4 ZPO), Gesetzesnichtigkeit (BGHZ 54, 76), Kostenfestsetzungsbeschluss, Schiedsspruch, nach Aufhebung des Vorbehaltsurteils im Urkundenprozess (§ 600 Abs. 2 ZPO, vgl. allg. Zöller-Herget, ZPO, Kommentar, 27. Aufl. 2009, § 717, Rdnr. 4). Die Regelung des § 717 ZPO findet aber nur auf deutsche Titel Anwendung; das gilt auch für Abs. 2, der mit den Regelungen der vorläufigen Vollstreckbarkeit in untrennbarem Zusammenhang steht: die Haftung gehört zu den Urteilswirkungen im weiteren Sinne, die sich nach dem Recht des Urteilsstaates richten (Wieczorek/Schütze-Heß, ZPO, Kommentar, 3. Aufl. 1999, § 717, Rdnr. 4; Stein/Jonas-Münzberg, ZPO, 22. Aufl. 2002, § 717, Rdnr. 46, 57). Da es sich hier um die Vollstreckung aus einem ausländischen Titel handelt, dessen Vollstreckbarkeit in Deutschland nur im Verfahren nach den §§ 4 ff AVAG erlangt werden kann, kommt eine unmittelbare Anwendung von § 717 Abs. 2 S. 1 ZPO nicht in Betracht.

2) Der Anspruch des Klägers folgt auch nicht aus § 28 Abs. 1 S. 2 AVAG. Hiernach ist der Berechtigte dem Verpflichteten zum Ersatz des Schadens verpflichtet, der letzterem durch die Vollstreckung eines ausländischen Titels entstanden ist, wenn die Zulassung der Zwangsvollstreckung gemäß § 27 AVAG aufgehoben oder abgeändert wird, sofern die zur Zwangsvollstreckung zugelassene Entscheidung zum Zeitpunkt der Zulassung nach dem Recht des Staats, in dem sie ergangen ist, noch mit einem ordentlichen Rechtsmittel angefochten werden konnte. Gemäß § 27 Abs. 1 AVAG kann der Verpflichtete bei einer Aufhebung oder Änderung des Titels im Staat seiner Errichtung die Aufhebung oder Änderung der Zulassung (der Zwangsvollstreckung) in einem besonderen Verfahren geltend machen, wenn er diese Tatsache nicht mehr in dem Verfahren der Zulassung der Zwangsvollstreckung geltend machen kann. Einer unmittelbare Anwendung von § 28 Abs. 1 S. 2 AVAG steht entgegen, dass der Zahlungsbefehl des Bezirksgerichts Danzig in Deutschland nicht im Verfahren nach den §§ 4 ff AVAG für vollstreckbar erklärt worden ist, sondern das Amtsgericht Pinneberg den Pfändungs- und Überweisungsbeschluss erlassen hat, obwohl die nach den §§ 4, 9 AVAG, 750 Abs. 1 ZPO erforderliche Vollstreckungsklausel nicht vorlag.

3) Der Beklagte haftet jedoch aus einer analogen Anwendung der §§ 28 Abs. 1 S. 2 AVAG, 717 Abs. 2 S. 1 ZPO. Eine Analogie ist zulässig und geboten, wenn das Gesetz eine planwidrige Regelungslücke enthält und der zu beurteilende Sachverhalt in rechtlicher Hinsicht so weit mit dem Tatbestand vergleichbar ist, den der Gesetzgeber geregelt hat, dass angenommen werden kann, der Gesetzgeber wäre bei einer Interessenabwägung, bei der er sich von den gleichen Grundsätzen hätte leiten lassen wie bei dem Erlass der herangezogenen Gesetzesvorschrift, zu dem gleichen Abwägungsergebnis gekommen (vgl. BGH NJW 2007, 3124, 3125 m.w.N.)

Diese Voraussetzungen liegen vor. Das AVAG und die ZPO enthalten eine planwidrige Regelungslücke, weil eine § 28 Abs. 1 S. 2 AVAG entsprechende Regelung für den Fall fehlt, dass aus einem der Aufhebung durch das ausländische Gericht nach § 27 AVAG unterliegenden Titel ohne Zulassung der Zwangsvollstreckung gemäß § 8 Abs. 1 AVAG hier vollstreckt und der ausländische Titel auf einen ordentlichen Rechtsbehelf hin gemäß § 27 Abs. 1 AVAG aufgehoben worden ist. Das Unterlassen einer ausdrücklichen Regelung dieses Falls durch den Gesetzgeber begründet nicht die Annahme, dass insoweit eine § 28 Abs. 1 S. 2 AVAG entsprechende Ersatzpflicht des Gläubigers ausgeschlossen sein soll; aus der Gesetzesbegründung zum AVAG (BT-Drucks. 11/351, S. 28 f) ergibt sich eine derartige Absicht des Gesetzgebers nicht.

Es liegt auch die für eine Analogie erforderliche, vergleichbare Interessenlage zwischen dem hier zu beurteilenden Fall und den in den § 28 Abs. 1 S. 2 AVAG und § 717 Abs. 2 ZPO geregelten Konstellationen einer Gefährdungshaftung des Gläubigers gegenüber dem Vollstreckungsschuldner vor. Bei dem vom Bezirksgericht Danzig später aufgehobenen Zahlungsbefehl ist die Vollstreckbarkeit in einer den §§ 708 ff ZPO vergleichbaren Weise vorläufig (vgl. allg. BGH NJW-RR 1999, 1223 m.w.N.), haben die polnischen Gerichte doch die Möglichkeit, einen im Verfahren nach Art. 484 ff ZVGB erlassenen Zahlungsbefehl wieder aufzuheben (Art. 492, 495 ZVGB). Der Normzweck der §§ 717 Abs. 2 S. 1, 28 Abs. 1 S. 1 AVAG, dass der Gläubiger das Risiko einer Vollstreckung trägt, wenn der zugrunde liegende Titel nur vorläufig vollstreckbar ist (vgl. Müko-ZPO-Krüger, 3. Aufl. 2007, § 717, Rdnr. 11), und nach einer Aufhebung des vorläufig vollstreckbaren Titels die durch die Vollstreckung bewirkte Vermögensverschiebung so schnell wie möglich rückgängig zu machen ist (vgl. BGH NZBau 2007, 446 f; BGH NJW 1997, 2601), verlangt auch in diesem Fall nach einer Gefährdungshaftung des Gläubigers. Insbesondere liegt hier eine Fallgestaltung, für die das Vollstreckungsrisiko ersichtlich nicht dem Gläubiger aufgebürdet werden kann, etwa bei der (ausnahmsweisen) Aufhebung von rechtskräftigen Titeln (vgl. BGH NJW-RR 1999, 1223; Müko-ZPO-Krüger, 3. Aufl. 2007, § 717, Rdnr. 12) angesichts der Bestandsunsicherheit des polnischen Zahlungsbefehls (Art. 492, 495 ZVGB) nicht vor.

Der Umstand, dass vom Vollstreckungsgericht fehlerhaft eine Zwangsvollstreckung ohne die nach den §§ 8, 9 AVAG, 750 Abs. 1 ZPO erforderliche Vollstreckungsklausel zugelassen worden ist, steht dem nicht entgegen, spricht vielmehr im Rahmen eines "Erst-recht-Schlusses" für eine Haftung des Beklagten. Der Gläubiger aus einem der Aufhebung unterliegenden ausländischen Titel, der nicht den gebotenen Weg der Klauselerteilung nach den §§ 4 ff AVAG beschreitet, kann nicht besser stehen als der Gläubiger, der aufgrund eines Versehens des Vollstreckungsgerichts aus einem der Aufhebung unterliegenden ausländischen Titel ohne Klausel vollstreckt.

4) Der dem Kläger unstreitig in Höhe von € 34.847,68 entstandene Schaden ist durch die Vollstreckung des Beklagten in einer diesem zurechenbaren Weise verursacht worden. Der Beklagte hat die Vollstreckung mit seinem Antrag auf einen Pfändungs- und Überweisungsbeschluss bei dem Amtsgericht A. und dessen Zustellung an die HASPA und den Kläger veranlasst. Der Umstand, dass der Pfändungs- und Überweisungsbeschluss vom Amtsgericht ohne eine Klausel nach den §§ 4 ff AVAG nicht hätte erlassen werden dürfen, entlastet ihn nicht: Auch unter Berücksichtigung des vorstehend genannten Schutzzwecks von §§ 717 Abs. 2, 28 Abs. 1 S. 2 AVAG ist ihm der Schaden aus seiner Vollstreckung zuzurechnen.

5) Da eine rechtskräftige Entscheidung über die Begründetheit des vom Beklagten gegen den Kläger in Polen geltend gemachten Anspruch nicht vorliegt - das Berufungsgericht hat den Rechtsstreit unstreitig an das Bezirksgericht Danzig zurückverwiesen - kommt der Frage, ob ein Anspruch des Beklagten gegen den Kläger besteht, in diesem Verfahren keine Bedeutung zu (vgl. allg. BGH NJW 1997, 2601, 2604).



Ende der Entscheidung

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