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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Schleswig
Urteil verkündet am 20.12.2007
Aktenzeichen: 7 U 45/07
Rechtsgebiete: ZPO, StVG, StVO


Vorschriften:

ZPO § 538
StVG § 17
StVG § 18
StVO § 9
Grober Verfahrensfehler des erstinstanzlichen Gerichts durch Verletzung der Pflicht zur Beiziehung der Verkehrsunfallakten und zur persönlichen Anhörung der Unfallbeteiligten in Verkehrsunfallsachen
Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht Im Namen des Volkes Urteil

7 U 45/07

verkündet am: 20. Dezember 2007

In dem Rechtsstreit

hat der 7. Zivilsenat des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts in Schleswig auf die mündliche Verhandlung vom 29. November 2007 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und den Richter am Oberlandesgericht für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung der Beklagten wird das am 01. Juni 2007 verkündete Urteil des Einzelrichters der 3. Zivilkammer des Landgerichts Itzehoe einschließlich des ihm zugrunde liegenden Verfahrens aufgehoben - soweit die Parteien nicht übereinstimmend teilweise den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt haben - und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht Itzehoe zurückverwiesen.

Gerichtliche Gebühren und Auslagen, die durch das aufgehobene Urteil verursacht worden sind, sowie die Gerichtsgebühren der Berufungsinstanz werden nicht erhoben.

Im Übrigen hat das Landgericht über die weiteren Kosten - auch der Berufungsinstanz und des erledigten Teiles - zu entscheiden.

Gründe:

Der Kläger nimmt die Beklagten gesamtschuldnerisch in Anspruch auf materiellen und immateriellen Schadenersatz aufgrund eines Verkehrsunfalles, der sich am 07. Juni 2006 gegen 11.45 Uhr auf dem Weg "K" in W, Fahrtrichtung C ereignet hat.

Unfallbeteiligt waren der Kläger mit seinem Pkw Fiat, amtl. Kz. ...., der Beklagte zu 1. als Führer eines vom Beklagten zu 2. gehaltenen und bei dem Beklagten zu 3. gegen Haftpflichtschäden versicherten landwirtschaftlichen Zuges, bestehend aus einer Zugmaschine J, amtl. Kz. ... und einem Ladewagen, amtl. Kz. ....

Der Beklagte zu 1. befuhr den Weg "K" und beabsichtigte, nach links in eine Feldzufahrt abzubiegen. Hinter ihm fuhr der Kläger. Als der Beklagte zu 1. zum Zwecke des Abbiegens in die Feldzufahrt nach rechts ausholte, setzte der Kläger zum Überholen des landwirtschaftlichen Zuges an. Im Überholen kollidierte er mit dem linken Vorderrad der abbiegenden Zugmaschine. Sein Pkw geriet links des "K" in den Graben. Bei dem "K" handelt es sich um einen befestigten, ca. 3,90 m breiten Weg. Links und rechts des Weges befindet sich eine unbefestigte Bankette, in Fahrtrichtung der Beteiligten links neben der Bankette befindet sich ein Graben.

Der Kläger hat vorgetragen, er sei davon ausgegangen, der Beklagte zu 1. habe durch das Lenken nach rechts das Überholen ermöglichen wollen. Irgendwelche Anzeichen dafür, dass der Beklagte zu 1. nach links habe abbiegen wollen, habe es nicht gegeben. Er hat die Auffassung vertreten, die Beklagten seien ihm dem Grunde nach zu vollem Schadenersatz verpflichtet. Erstinstanzlich hat er einen materiellen Schaden in Höhe von 5.636,61 € nebst Zinsen geltend gemacht, darüber hinaus Ersatz vorgerichtlicher Anwaltskosten in Höhe von 278,05 € begehrt sowie Schmerzensgeld für ein bei dem Unfall erlittenes HWS-Schleudertrauma in Höhe von 500,00 €.

Die Beklagten haben unter Beweisantritt (Zeugnis A und B) vorgetragen, der Beklagte zu 1. habe seine Abbiegeabsicht durch Setzen des linken Fahrtrichtungsanzeigers weit vor der Feldzufahrt deutlich gemacht, das hinter ihm fahrende Fahrzeug habe er trotz Rückschau infolge des Aufbaues des landwirtschaftlichen Gespannes nicht bemerkt und in den Rückspiegeln auch nicht sehen können. Angesichts der Örtlichkeiten habe er zum Abbiegen auf die Feldzufahrt auch rechts ausholen müssen. Nicht zuletzt unter Berücksichtigung der örtlichen Gegebenheiten und des rechtzeitigen Blinkens habe der Beklagte zu 1. nicht mit einem überholenden Fahrzeug rechnen müssen, der Kläger seinerseits habe nicht annehmen können und dürfen, dass der Beklagte zu 1. ihm Platz zum Überholen habe machen wollen. Die Beklagten haben darüber hinaus die Beiziehung der amtlichen Ermittlungsakte angeregt.

Das Landgericht hat mit dem angefochtenen Urteil der Klage auf der Grundlage einer Quote von 75 % stattgegeben und die Beklagten als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger 4.249,94 € zu zahlen, den Beklagten zu 3. darüber hinaus zur Zahlung von Zinsen verurteilt. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die Beklagten müssten sich den überwiegenden Verursachungsanteil an dem Unfallgeschehen zurechnen lassen, da es der Beklagte zu 1. (fälschlicherweise als Beklagter zu 2. bezeichnet) unterlassen habe, vor dem Linksabbiegen sich noch einmal vergewissert zu haben, dass Raum zum Abbiegen vorhanden sei. Einen auf 25 % beschränkten Verursachungsbeitrag müsse sich der Kläger zurechnen lassen, da er in unklarer Verkehrslage überholt habe. Darauf, ob der Beklagte zu 1. den linken Fahrtrichtungsanzeiger betätigt habe, komme es nicht weiter an. Selbst wenn dies in der Beweisaufnahme bewiesen worden wäre, hätte dies lediglich den Verstoß des Klägers gegen § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO manifestiert.

Der Beklagte zu 3. hat nach Erlass des erstinstanzlichen Urteils gemäß Schreiben vom 13. Juni 2007 (Bl. 102 d. A.) an den Kläger einen Betrag in Höhe von insgesamt 1.927,55 € gezahlt. Insoweit haben die Parteien übereinstimmend vor dem Senat den Rechtsstreit in der Hauptsache teilweise für erledigt erklärt.

Im Übrigen beantragen die Beklagten, das angefochtene Urteil zu ändern und die Klage abzuweisen, hilfsweise unter Aufhebung des angefochtenen Urteils den Rechtsstreit zur weiteren Aufklärung an das Landgericht Itzehoe zurückzuverweisen, während der Kläger auf Zurückweisung der Berufung anträgt.

Die Beklagten sind der Auffassung, allenfalls im Umfange des erledigten Teiles zum Schadensersatz verpflichtet zu sein. Sie rügen insbesondere, dass das Landgericht verfahrensfehlerhaft weder Beweis erhoben noch die Verkehrsunfallakte beigezogen habe. Die Quotenbildung durch das Landgericht sei rechtsfehlerhaft.

Der Kläger hingegen verteidigt das angefochtene Urteil.

Die form- und fristgerecht eingelegte und begründete Berufung der Beklagten ist - soweit die Parteien nicht übereinstimmend den Rechtsstreit teilweise in der Hauptsache für erledigt erklärt haben - begründet.

Auf den (Hilfs-) Antrag der Beklagten hin ist das angefochtene Urteil nebst dem ihm zugrunde liegenden Verfahren gem. § 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO aufzuheben und an das Landgericht zurückzuverweisen, denn das Verfahren im 1. Rechtszug leidet an wesentlichen Verfahrensmängeln, die zugleich einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG darstellen. Zudem wird voraussichtlich eine aufwändige Beweisaufnahme erforderlich werden, sodass eine Sachentscheidung des Senats - auch im Hinblick auf den ansonsten eintretenden Verlust einer Tatsacheninstanz - nicht angezeigt ist.

Die wesentlichen Verfahrensfehler des Landgerichts i. S. von § 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO liegen darin, dass es einerseits erheblichen, unter Beweis gestellten Vortrag der Beklagten übergangen hat, es andererseits an der nötigen Aufklärung des Sachverhalts - über eine Beweiserhebung hinaus- hat fehlen lassen.

Zwar ist der rechtliche Ausgangspunkt des Landgerichts, das dem Beklagten zu 1. gem. § 9 Abs. 5 StVO beim Abbiegen in die Feldzufahrt die höchsten Verpflichtungen im Sinne der StVO oblagen, nicht zu beanstanden; denn der Beklagte zu 1. musste danach eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausschließen. Dazu gehört es, sich gem. § 9 Abs. 1 S. 4 StVO vor dem Abbiegen über den nachfolgenden Verkehr zu vergewissern.

Gleichwohl beruht das angefochtene Urteil auf den zu Recht von den Beklagten gerügten Verfahrensfehlern.

Hätte das Landgericht sich nämlich der nur geringen Mühe unterzogen, die Verkehrsunfallakte beizuziehen, wie es der Senat getan hat, hätte es auf den Seiten 4 und 5 dieser Akte eine Skizze zu dem Verkehrsunfall sowie zwei Lichtbilder über die örtlichen Verhältnisse vorgefunden, auf denen zudem der landwirtschaftliche Zug abgebildet ist, auch der im Graben liegende Pkw des Klägers ist erkennbar. Allein schon daraus hätte das Landgericht die Erkenntnis gewinnen können, dass zum einen der Beklagte zu 1. zum Einbiegen in die Feldzufahrt zwangsläufig zuvor nach rechts ausholen musste, zum anderen der Kläger einen gefahrlosen Überholvorgang unter Einhaltung des gebotenen ausreichenden Seitenabstandes (vgl. dazu Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 37. Aufl. § 5 StVO Rdnr. 54/56) nie hätte durchführen können. Angesichts der örtlichen Verhältnisse und im Hinblick auf die beteiligten Fahrzeuge verbot sich damit "an sich" ein Überholen des landwirtschaftlichen Zuges von vornherein. Wollte der Kläger - wie hier - gleichwohl den landwirtschaftlichen Zug überholen, hätte er seine Absicht gem. § 5 Abs. 5 S. 1 St VO ankündigen müssen, zudem hätte er - beispielsweise durch Sichtkontakt mit dem Beklagten zu 1. - sicherstellen können und müssen, dass ein Überholen überhaupt möglich ist. Dass er dies auch nur versucht hätte, hat der Kläger schon gar nicht vorgetragen.

Zudem war das Landgericht nach den Umständen des Falles geradezu verpflichtet, die Unfallbeteiligten - nämlich den Kläger und den Beklagten zu 1. - persönlich zur Aufklärung des Sachverhalts gem. § 141 ZPO anzuhören. Ausweislich des Protokolls über den Termin zur mündlichen Verhandlung vom 04. Mai 2007 vor dem Landgericht (Bl. 57 d. A.) waren der Kläger und "der Beklagte" - welcher ist unklar - persönlich anwesend. Es ist schlechterdings unerfindlich, warum - unterstellt man, "der Beklagte" sei der Beklagte zu 1. gewesen - das Landgericht eine persönliche Anhörung unterlassen hat.

Einen offenbaren Verstoß gegen den grundgesetzlich verbürgten Anspruch der Beklagten auf rechtliches Gehör stellt es dar, dass das Landgericht den Beweisantritten der Beklagten zu ihrer Behauptung, der Beklagte zu 1. habe vor Einleiten des Abbiegevorgangs nach links geblinkt, nicht nachgegangen ist.

Die Ausführungen des Landgerichts in dem angefochtenen Urteil, auf diese Beweisantritte komme es nicht an, hätte die Beweisaufnahme das Vorbringen der Beklagten bestätigt, hätte dies lediglich den Verstoß des Klägers gegen das Verbot des Überholens in unklarer Verkehrslage "manifestiert", sind nicht geeignet, den groben Verfahrensverstoß des Landgerichts in einem milderen Licht erscheinen zu lassen.

Im Rahmen des § 17 StVG gilt, dass Unabwendbarkeit i. S. von § 17 Abs. 3 StVG derjenige Halter - über die Verweisung des § 18 Abs. 3 StVG auch der Fahrer - zu beweisen hat, der Unabwendbarkeit für sich in Anspruch nimmt. Während die Beklagten dies für sich nicht in Anspruch genommen haben, hat der Kläger schon entsprechenden Beweis nicht angetreten.

Im Rahmen des dann eingreifenden § 17 Abs. 1 StVG können in die Abwägung der Verursachungsbeiträge nur Umstände eingestellt werden, die bewiesen, zugestanden oder unstreitig sind. Unter Berücksichtigung derartiger Umstände ist sodann die Betriebsgefahr der beteiligten Fahrzeuge gegeneinander abzuwägen.

Sollte aber nach der Anhörung der Unfallbeteiligten und der Beweisaufnahme feststehen, dass der Beklagte zu 1. rechtzeitig den linken Fahrtrichtungsanzeiger gesetzt hat, der Kläger trotz der sichtbaren Anstalten zum Abbiegen und der erkennbaren, weit und breit einzig vorhandenen Feldauffahrt gleichwohl zum Überholen angesetzt hat, könnte eine derartige Abwägung ergeben, dass dem Kläger Ansprüche über die von den Beklagten gezahlten Beträge hinaus nicht zustehen.

Von der Zurückverweisung kann auch nicht abgesehen werden, eine eigene Entscheidung scheint dem Senat nicht sachdienlich, bedarf es doch - wie dargestellt - bis zur Entscheidungsreife des Rechtsstreits voraussichtlich einer (erstmaligen) und ggf. durchaus aufwändigen Beweisaufnahme; denn das Landgericht - das ohne dazu nähere Feststellungen getroffen zu haben von einem Verstoß gegen die sog. "doppelte Rückschaupflicht" des Beklagten zu 1. ausgegangen ist - wird ggf. im Wege des § 144 ZPO durch ein von Amts wegen einzuholendes Sachverständigengutachten auch zu klären haben, ob der Beklagte zu 1. das hinter ihm fahrende Fahrzeug infolge des Aufbaues des Ladewagens überhaupt hat sehen können.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 21 GKG. Die Verfahrensverstöße des Landgerichts stellen eine unrichtige Sachbehandlung dar. Über die weiteren Kosten - auch des Berufungsrechtszuges sowie des erledigten Teiles - hat das Landgericht zu entscheiden.

Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.

Ende der Entscheidung

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