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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Schleswig
Urteil verkündet am 08.06.2006
Aktenzeichen: 7 U 94/05
Rechtsgebiete: StVG, BGB, ZPO


Vorschriften:

StVG § 7 a.F.
BGB § 823
BGB § 847 a.F.
ZPO § 286 f
1. Keine sog. "Harmlosigkeitsgrenze" für das Vorliegen einer unfallbedingten HWS - Verletzung.

2.Zum Beweismaßstab und den Beweismitteln zur Überzeugungsbildung vom Vorliegen einer unfallbedingten HWS - Verletzung.


7 U 94/05

In dem Rechtsstreit

hat der 7. Zivilsenat des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts in Schleswig auf die mündliche Verhandlung vom 08.06.2006 für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung der Beklagten gegen das am 04. Mai 2005 verkündete Urteil des Einzelrichters der 6. Zivilkammer des Landgerichts Kiel wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Berufungsverfahrens werden den Beklagten auferlegt.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe:

Die Klägerin begehrt materiellen und immateriellen Schadensersatz sowie Feststellung der umfassenden zukünftigen Ersatzpflicht der Beklagten aufgrund eines Verkehrsunfalles vom 25. September 1998 gegen 16.10 Uhr, wobei die volle Haftung der Beklagten dem Grunde nach unstreitig ist.

Die Klägerin befuhr zum Unfallzeitpunkt die Landstraße zwischen A. und B.; ihr entgegen kam ein Linienbus, den der Beklagte zu 2. mit seinem bei der Beklagten zu 1. gegen Haftpflichtschäden versicherten Pkw im Bereich einer Kurve überholte. Die Klägerin musste infolge des Überholvorganges ihr Fahrzeug stark abbremsen, dieses geriet ins Schleudern, drehte sich mehrfach und prallte abschließend mit der vorderen linken Fahrzeugecke gegen den Bus.

Aus einem noch vom Amtsgericht C., bei dem der Rechtsstreit ursprünglich anhängig war, eingeholten interdisziplinären Sachverständigengutachtens ergibt sich, dass die Geschwindigkeitsänderung des von der Klägerin gefahrenen Pkw infolge des Streifenzusammenstoßes mit dem Bus sich auf (allenfalls) 6 km/h belief, die Belastung infolge des Schleudervorganges auf (maximal) 1,7 g. Dabei ist zweitinstanzlich unbestritten, dass die Klägerin unmittelbar nach dem Unfall verwirrt und kurzfristig überhaupt nicht ansprechbar war.

Die Klägerin behauptet, infolge des Unfalles ein sog. "HWS-Schleudertrauma" erlitten zu haben. Noch am Abend des Unfalltages - es handelte sich um einen Freitag - hätten heftige Kopfschmerzen eingesetzt, am darauffolgenden Dienstag, nachdem montags kein Termin zur Verfügung stand, habe sie sich in die Behandlung des Orthopäden D. begeben, der eine Funktionsstörung der HWS und eine HWS-Distorsion diagnostiziert habe. Auch nachfolgend sei sie seit dem Unfall in ständiger ärztlicher Behandlung und leide seit dem Unfall insbesondere an ständig wiederkehrenden Kopfschmerzen, zudem unter Schwindelattacken, während sie vor dem Unfall niemals an Beschwerden im HWS-Bereich gelitten habe.

Die Beklagten haben bestritten - und bestreiten dies weiterhin -, dass die von der Klägerin geklagten Beschwerden durch den Unfall verursacht seien. Die Beklagten beziehen sich dazu insbesondere auf den medizinischen Teil des interdisziplinären Gutachtens Dipl.-Ing. E./Prof. Dr. F., in dem der Sachverständige Prof. Dr. F. ausgeführt hat, dass es bei den im technischen Teil des Gutachtens festgestellten Belastungen der Halswirbelsäule mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit schon an einer Verletzungsmöglichkeit fehle, die Beschwerden der Klägerin - deren Vorhandensein als solche der Sachverständige nicht in Zweifel gezogen hat - mangels Verletzungsmöglichkeit nicht auf den Unfall zurückzuführen seien.

Das Landgericht, an das der Rechtsstreit vom Amtsgericht C. verwiesen worden ist, nachdem die Klägerin ihr Schmerzensgeldbegehren erhöht hatte, hat der auf Zahlung eines Schmerzensgeldes von 10.000,00 €, Zahlung materiellen Schadensersatzes in Höhe von 138,51 € sowie Feststellung der umfassenden zukünftigen Ersatzpflicht der Beklagten gerichteten Klage mit dem angefochtenen Urteil weitgehend stattgegeben. Unter Verwertung der Beweisergebnisse des Amtsgerichts C. - Vernehmung der Zeugen G. und H. über den Unfallhergang sowie das interdisziplinäre Sachverständigengutachten - und nach weiterer Beweiserhebung durch Vernehmung der Zeugen I. und K. und schriftlicher Aussagen der Ärzte D. und Dr. L., sowie Anhörung der Klägerin hat es die Beklagten zur Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 8.500,00 € an die Klägerin verurteilt, dem materiellen Schadensersatzbegehren und dem Feststellungsbegehren hat es vollen Umfanges stattgegeben.

Zur Begründung hat das Landgericht im Wesentlichen ausgeführt, aufgrund des Ergebnisses der Beweisaufnahme sei es, entgegen den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. F., davon überzeugt, dass die Klägerin bei dem Unfall eine Verletzung der Halswirbelsäule erlitten habe, und die von ihr geklagten Beschwerden Unfallfolgen seien.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil Bezug genommen.

Der Senat hat ergänzend die Klägerin gem. § 141 ZPO persönlich angehört.

Die Beklagten rügen mit der Berufung, das Landgericht habe den für die von der Klägerin behauptete Verletzung der Halswirbelsäule anzulegenden Beweismaßstab verkannt, auch die Beweiswürdigung sei fehlerbehaftet. Jedenfalls sei die ausgeurteilte Höhe des Schmerzensgeldes übersetzt, auch dem Feststellungsantrag hätte - da nicht erkennbar sei, welche Schäden zukünftig entstehen sollten - nicht stattgegeben werden dürfen.

Die Beklagten beantragen, unter teilweiser Änderung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen, während die Klägerin unter Verteidigung des angefochtenen Urteils auf Zurückweisung der Berufung anträgt.

Die Berufung der Beklagten ist unbegründet.

Die Klägerin hat gem. §§ 7 Abs. 1, 17 StVG a. F. (Art. 229 § 8 EGBGB), 3 PflVersG, 823, 847 BGB a. F. (Art. 229 § 8 EGBGB) Ansprüche auf Schmerzensgeld und materiellen Schadensersatz aufgrund des Verkehrsunfalles vom 25. September 1998, auch das umfassende Feststellungsbegehren ist begründet.

Gründe i. S. von § 513 Abs. 1 ZPO, die zu einer Änderung des angefochtenen Urteils führen könnten, liegen - entgegen der Auffassung der Beklagten - nicht vor.

Für die Frage der Primärverletzung der Klägerin hat das Landgericht zutreffend den Beweismaßstab des § 286 ZPO angelegt; auf S. 11 des angefochtenen Urteils (vorletzter Absatz) ist ausgeführt: "... ist das Gericht davon überzeugt (§ 286 ZPO), dass die Klägerin aufgrund des Unfalles vom 25. September 1998 ein Schleudertrauma der Halswirbelsäule mit ... davongetragen hat ...".

Das Landgericht hat in diesem Zusammenhang auch die Folgen der Primärverletzung, nämlich eingeschränkte Kopfbeweglichkeit, immer wieder auftretende Schwindelgefühle und erhebliche Kopfschmerzen erwähnt, für die "eigentlich" nur der herabgesetzte Beweismaßstab des § 287 ZPO gilt; das Anlegen des strengeren Beweismaßstabes auch dafür hat sich aber jedenfalls nicht zulasten der Beklagten ausgewirkt.

Die Überzeugungsbildung des Landgerichts davon, dass die Klägerin bei dem Unfall ein "Schleudertrauma der Halswirbelsäule" erlitten hat, beruht nicht auf Fehlern der Beweiswürdigung. Das Landgericht hat umfassend Beweis erhoben, und die von ihm sowie zuvor vom Amtsgericht durchgeführte Beweisaufnahme ebenso umfassend gewürdigt. Die Beweiswürdigung verstößt weder gegen Denkgesetze noch gegen Erfahrungssätze, sie ist in sich schlüssig und nachvollziehbar; der Senat teilt die Beweiswürdigung vollen Umfanges.

Im Einzelnen: Soweit die Beklagten meinen, das Landgericht habe sich über eine sog. "Harmlosigkeitsgrenze", die bei einer kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung (Delta V) von 10 km/h liegen soll, hinweggesetzt, ist eine derartige Schematisierung spätestens seit der Entscheidung BGH NJW 2003, S. 1116 ff. überholt. Der Bundesgerichtshof hat in jener Entscheidung ausdrücklich ausgeführt (a. a. O., S. 1117), dass gegen die schematische Annahme einer solchen "Harmlosigkeitsgrenze" (auch) spreche, dass die Beantwortung der Kausalitätsfrage nicht allein von der kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung, sondern daneben von einer Reihe anderer Faktoren abhänge. Bei der Prüfung, ob ein Unfall eine Halswirbelsäulenverletzung verursacht habe, seien stets die Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen. Daher bedürfe es noch nicht einmal der Einholung eines Gutachtens über die kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung, wenn das Gericht in tatrichterlicher Würdigung die Überzeugung davon gewonnen habe, dass durch den Unfall eine Körperverletzung verursacht worden sei.

Diese Ausführungen des Bundesgerichtshofs entsprechen der mittlerweile ständigen Rechtsprechung des Senats, der als Spezialsenat für Verkehrsunfallsachen ständig mit vergleichbaren Sachverhalten befasst ist und dabei - unterstützt von medizinischen Sachverständigen der unterschiedlichsten Fachrichtungen - ebenfalls die Erkenntnis gewonnen hat, dass die kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung nur einer von vielen Faktoren zur Beurteilung der Frage, ob ein Unfallbeteiligter bei einer Kollision eine Verletzung im Bereich der Halswirbelsäule erlitten hat, sein kann.

Wenn das Landgericht unter Berücksichtigung des Vorstehenden den Ausführungen des auch dem Senat bekannten Prof. Dr. F. - wonach es vor dem Hintergrund der relativ geringen Geschwindigkeitsänderung durch die Kollision schon keine Verletzungsmöglichkeit der Halswirbelsäule der Klägerin gegeben haben soll - nicht gefolgt ist, ist dies nicht zu beanstanden. Denn das Landgericht hat den vom Bundesgerichtshof in der zitierten Entscheidung vorgezeichneten Weg gewählt, und seine Überzeugungsbildung über das Vorliegen oder Nichtvorliegen einer unfallbedingten Verletzung der Halswirbelsäule nicht allein auf gutachterliche Äußerungen gestützt, sondern anderweitig umfassend Beweis erhoben.

Es hat Zeugen zu dem Gesundheitszustand der Klägerin vor und nach dem Unfall vernommen, Aussagen der die Klägerin auch vor dem Unfall behandelnden Ärzte eingeholt, darüber hinaus deren Diagnosen hinterfragt. Schon das Amtsgericht hatte Zeugen zum Unfallhergang und zum Zustand der Klägerin nach dem Unfall noch an der Unfallstelle vernommen.

Daraus ergibt sich, dass die Klägerin vor dem Unfall niemals Beschwerden im Bereich der Halswirbelsäule hatte, wegen solcher Beschwerden auch nicht in ärztlicher Behandlung war. Dabei hat auch der Sachverständige Prof. Dr. F. nicht in Abrede genommen, dass die von der Klägerin geklagten Beschwerden, nämlich immer wieder auftretende Schwindelgefühle, Kopfschmerz und eingeschränkte Kopfbeweglichkeit, tatsächlich vorliegen. Aufgrund des bewiesenen unmittelbaren zeitlichen Zusammenhanges der Beschwerden mit dem Unfall lassen die Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. F. dann nur den Rückschluss zu, dass die Klägerin entweder schon zuvor unter gleichartigen Beschwerden gelitten haben muss, oder sie schlichtweg - und das seit Jahren und beginnend mit dem Unfallgeschehen, denn sie war unmittelbar danach nicht ansprechbar und redete wirres Zeug (Zeugin G.) - simuliert. Davon geht der Senat aber nicht aus. Denn die Klägerin hat nicht nur in ihrer persönlichen Anhörung vor dem Landgericht, sondern auch vor dem Senat glaubhaft geschildert, dass sie vor dem Unfall beschwerdefrei gewesen sei: seither aber unter den geschilderten Beschwerden leide, ihr Zustand insoweit unverändert sei. Dass dieser Zustand erst seit dem Unfallzeitpunkt besteht, steht zudem fest aufgrund der glaubhaften Aussagen ihres Ehemannes I. und ihrer langjährigen Freundin K.

Als alleinige Ursache für ihre Beschwerden sieht - wie auch das Landgericht - der Senat somit den Unfall und eine bei dem Unfall erlittene Verletzung der Halswirbelsäule an; denn als rein theoretische weitere Möglichkeit bliebe lediglich noch, dass die Beschwerden zufällig zeitgleich mit dem Unfall aufgetreten sind, gleichwohl aber unfallunabhängig. Diese theoretische Möglichkeit hält der Senat aber für ausgeschlossen.

Steht mithin der Haftungsgrund fest, ist angesichts des bewiesenen Beschwerdebildes die Höhe des ausgeurteilten Schmerzensgeldes mit 8.500,00 € nicht zu beanstanden. Dies gilt auch ohne Berücksichtigung des vom Landgericht u. a. herangezogenen Gesichtspunktes der verzögerlichen Regulierung. Denn erhebliche Verfahrensverzögerungen sind ohne Einfluss der Beklagten allein schon dadurch eingetreten, dass anberaumte Verkündungstermine durch das Landgericht mehrfach verlegt worden sind. Gleichwohl bewegt sich das ausgeurteilte Schmerzensgeld im Rahmen dessen, was der Senat in vergleichbaren Fällen zugesprochen hat.

Die Höhe der materiellen Schäden ist unbestritten.

Zutreffend hat das Landgericht auch dem Feststellungsbegehren der Klägerin stattgegeben. Angesichts der Behandlungsbedürftigkeit der Beschwerden der Klägerin liegen materielle Zukunftsschäden auf der Hand, mit dem ausgeurteilten Schmerzensgeld noch nicht abgegoltene, nämlich gänzlich unabsehbare immaterielle Zukunftsschäden sind jedenfalls nicht mit Sicherheit auszuschließen.

Die Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 97 Abs. 1, 708 Nr. 11 und 713 ZPO. Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.

Ende der Entscheidung

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