Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Stuttgart
Beschluss verkündet am 12.06.2003
Aktenzeichen: 2 Ws 99/03
Rechtsgebiete: StGB, StPO


Vorschriften:

StGB § 57 Abs. 1
StPO § 454 Abs. 2
1. Die Strafvollstreckungskammer hat Rahmen der Prognoseentscheidung nach § 57 Abs. 1 StGB eine umfassende Aufklärungspflicht auch hinsichtlich solcher Umstände, die für eine Positive Sozialprognose sprechen.

2. Liegen nach den Umständen des Einzelfalls im Rahmen einer - vorläufigen - Gesamtschau aller kriminalprognostischen Umstände gravierende positive Prognosefaktoren vor, ist die Strafvollstreckungskammer gehalten, gemäß § 454 Abs. 2 StPO vor Erlass eines die Bewährungsaussetzung ablehnenden Beschlusses ein kriminalprognostisches Gutachten einzuholen.

3. Ein durch die Strafvollstreckungskammer unterlassene Anordnung einer kriminalprognostischen Begtuachtung kann nicht vom Beschwerdegericht in Auftrag gegeben werden; das Verfahren ist an die Strafvollstreckungskammer zurückzuverweisen.


Oberlandesgericht Stuttgart - 2. Strafsenat - Beschluss

Geschäftsnummer: 2 Ws 99/2003

vom 12. Juni 2003

in der Strafvollstreckungssache

wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln,

Tenor:

1. Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluss des Landgerichts Ravensburg - Strafvollstreckungskammer - vom 29. April 2003 aufgehoben.

2. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Ravensburg zurückverwiesen.

3. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dadurch entstandenen notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers trägt die Staatskasse.

Gründe:

I.

Der Beschwerdeführer wurde durch Urteil des Landgerichts Ravensburg vom 21. Mai 2001 wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in drei Fällen zu der Gesamtfreiheitsstrafe von 4 Jahren verurteilt, wobei Einzelstrafen in Höhe von 10 Monaten, 2 Jahren sowie 3 Jahren Freiheitsstrafe festgesetzt wurden. Unter Anrechnung der vollzogenen Untersuchungshaft seit dem 19. September 2000 waren Zwei-Drittel der Gesamtfreiheitsstrafe am 18. Mai 2003 vollstreckt; der Endstrafenzeitpunkt ist auf den 18. September 2004 notiert.

Durch - angefochtenen - Beschluss vom 29. April 2003 hat es die Strafvollsteckungskammer des Landgerichts Ravensburg abgelehnt, dem Beschwerdeführer nach Verbüßung von Zwei-Dritteln der Gesamtfreiheitsstrafe den Strafrest zur Bewährung auszusetzen.

II.

Die zulässige sofortige Beschwerde hat vorläufigen Erfolg. Der angefochtene Beschluss ist aufzuheben, weil nach Aktenlage eine Reststrafenaussetzung zur Bewährung nach § 57 Abs. 1 StGB ernstlich in Betracht kommt, es aber vor einer endgültigen Entscheidung noch der Einholung eines Gutachtens nach § 454 Abs. 2 StPO bedarf.

1. Die bewährungsweise Aussetzung des Strafrestes nach der Vollstreckung von mehr als Zwei-Dritteln der Freiheitsstrafe kommt gemäß § 57 Abs. 1 StGB in Betracht, wenn unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit eine reelle Chance besteht, dass der Verurteilte künftig keine Straftaten mehr begehen wird. (wird ausgeführt)

2. Angesichts des Gewichts der - im Rahmen der vorläufigen Gesamtschau - deutlich zu Tage tretenden positiven Umstände war die Strafvollstreckungskammer gehalten, vor Erlass des die Bewährungsaussetzung ablehnenden Beschlusses ein Sachverständigengutachten gemäß § 454 Abs. 2 StPO einzuholen. Der Strafvollstreckungskammer obliegt nämlich im Rahmen der Prognoseentscheidung gemäß § 57 Abs. 1 StGB eine umfassende Aufklärungspflicht, um sich ein möglichst umfassendes Bild über den Verurteilten machen zu können (BVerfG NJW 2000, 502 ff.). In einem Fall wie dem vorliegenden, bei dem

- einerseits die formalen Voraussetzungen des § 454 Abs. 2 StPO gegeben sind - der Beschwerdeführer wurde wegen dreier Verbrechen des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge verurteilt und eine der ausgeworfenen Einzelstrafen (OLG Stuttgart NStZ-RR 00, 86) überschreitet 2 Jahre - ,

- andererseits gravierende kriminalprognostisch günstige Faktoren vorliegen und

- schließlich möglicherweise Auffälligkeiten in der Persönlichkeitsstruktur des Verurteilten vorhanden sind, deren qualifizierte Bewertung der Strafvollstreckungskammer mangels entsprechender Fachkenntnisse nicht möglich ist,

ist bei einer beabsichtigten Ablehnung des Aussetzungsantrags die Einholung eines Sachverständigengutachtens im Sinne des § 454 Abs. 2 StPO geboten (OLG Köln NStZ-RR 2000, 317), um dieser umfassenden Aufklärungspflicht nachzukommen.

Der Senat verkennt nicht, dass die Strafvollstreckungskammer in geeigneten Fällen durchaus von der Hinzuziehung eines Sachverständigen absehen kann. Entbehrlich ist die Einholung eines solchen Gutachtens dann, wenn nach den Umständen des Einzelfalles die Aussetzung der restlichen Freiheitsstrafe offensichtlich nicht verantwortetet werden kann und die Strafvollstreckungskammer die Strafaussetzung deshalb erst gar nicht erwägen muss (BGH NStZ 2000, 69 / OLG Köln NStZ-RR 2000, 317). Ein solcher Fall liegt aber hier aus den oben dargelegten Gründen nicht vor.

Aufgabe des einzuholenden Gutachtens wird es daher sein, im Sinne einer möglichst umfassenden Sachverhaltsaufklärung nicht nur mögliche, gegen eine bedingte Entlassung sprechende Gesichtspunkte zu bewerten, sondern ebenso die Prognosefaktoren für eine eventuell nicht mehr gegebene Gefahr erneuter Strafbarkeit zu ermitteln. In diesem Zusammenhang wird besonderes Gewicht der sachverständigen Einordnung, Bewertung und Risikoabschätzung der seitens der Strafkammer festgestellten Auffälligkeiten in der Persönlichkeitsstruktur des Beschwerdeführers zukommen.

3. Die Auftragserteilung für das noch einzuholende Gutachten - nebst der Auswahl eines geeigneten Gutachters - ist von der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Ravensburg vorzunehmen. In deren Aufgabenbereich fällt weiter eine etwaige mündliche Anhörung des Sachverständigen gemäß § 454 Abs. 2 Satz 3 StPO. (wird ausgeführt)

Der Senat kann das Gutachten nicht selbst einholen, da dem Verurteilten sonst eine Instanz genommen würde (OLG Köln NStZ-RR 2000, 317/OLG Hamm NJW 1999, 2453).

Zudem entspricht der hier vorliegende Fall einer vorläufig erfolgreichen Beschwerde dem bei Vorliegen eines Verfahrensfehlers gemäß § 453 Abs. 1 Satz 3 StPO (unterbliebene Anhörung). Auch im vorliegenden Fall wird voraussichtlich eine mündliche Anhörung gemäß § 454 Abs. 2 StPO notwendig werden. Dies geht über den üblichen Gang eines Beschwerdeverfahrens vor dem Oberlandesgericht hinaus (OLG Köln aaO). Die Sache war daher zur an die zuständige Strafvollstreckungskammer zurückzuverweisen.

Ende der Entscheidung

Zurück