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Gericht: Oberlandesgericht Stuttgart
Beschluss verkündet am 11.07.2005
Aktenzeichen: 3 Ws 1/05
Rechtsgebiete: IRG, ÜberstÜbk


Vorschriften:

IRG § 54 Abs. 4
ÜberstÜbk Art. 11 Abs. 1 Buchstabe c
Auslieferungshaft, die der Verurteilte auf Auslieferungsersuchen des Urteilsstaats in einem Drittstaat erlitten hat, gehört zu der Gesamtzeit des Freiheitsentzugs im Sinne des Art. 11 Abs. 1 Buchstabe c ÜberstÜbk.
Tatbestand:

Der Verurteilte, ein deutscher Staatsbürger, beging in Spanien einen Mord (asesinato), floh nach Portugal, wurde dort auf spanisches Auslieferungsersuchen in Auslieferungshaft genommen, nach Spanien ausgeliefert und dort rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren und 5 Monaten verurteilt. Auf diese Strafe rechnete das spanische Gericht die in Portugal erlittene Auslieferungshaft nicht an. Nachdem das LG T. - Strafvollstreckungskammer - die Vollstreckung des spanischen Urteils rechtskräftig für zulässig erklärt hat, wurde der Verurteilte gemäß dem ÜberstÜbk in den deutschen Strafvollzug überstellt. Nunmehr hat das Landgericht T. - Strafvollstreckungskammer - seine Exequaturentscheidung gemäß § 54 Abs. 4 Satz 2 IRG in der Weise ergänzt, dass die in Portugal erlittene Auslieferungshaft angerechnet wird. Die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft T. hiergegen hat der Senat als unbegründet verworfen.

Gründe:

II. 1. Allerdings ist es nicht möglich, die vom Verurteilten in Portugal erlittene Auslieferungshaft gemäß § 54 Abs. 4 Satz 1 Alt. 1 IRG anzurechnen. Im Ausland erlittene Auslieferungshaft ist ebenso wenig wie ausländische Untersuchungshaft eine Sanktion, die gegen den Verurteilten wegen der Tat vollstreckt worden ist (allg.M., s. nur Grotz, in: Grützner/Pötz, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, 2. Aufl., Teil I A 2 - IRG-Kommentar, Stand Februar 2004, § 54 Rdn. 18; Schomburg, in: Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 3. Aufl., § 54 Rdn. 14). Gemeint sind nur Sanktionen, mit denen ein rechtskräftiges und vollstreckbares ausländisches Straferkenntnis im Ausland vollstreckt worden ist. Das ergibt sich erstens aus dem Wortlaut des § 54 Abs. 4 Satz 1 Alt. 1 IRG ("gegen den Verurteilten wegen der Tat"), zweitens aus der Systematik, nämlich aus einem Gegenschluss aus § 54 Abs. 4 Satz 1 Alt. 2 IRG, der auf § 58 IRG und damit auf die inländische Haft zur Sicherung der Vollstreckung verweist, und drittens aus der teleologischen Erwägung, dass es im Grundsatz (s. aber sogleich 3.) Sache des Urteilsstaats ist, über die Anrechnung von Untersuchungs- oder Auslieferungshaft zu befinden. Das Provinzgericht A./Spanien hat aber klargestellt, dass es die portugiesische Auslieferungshaft nicht angerechnet wissen will.

2. Der Senat lässt offen, ob das Provinzgericht A./Spanien hierdurch geradezu gegen einen völkerrechtlich verbindlichen Mindeststandard verstoßen hat (gegen eine völkerrechtliche Verbindlichkeit des transnationalen Anrechnungsprinzips BVerfGE 75, 1 [33 f.]). Gleichermaßen lässt der Senat offen, ob die Anrechnung erlittener Auslieferungshaft zu den unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen der öffentlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland gehört (vgl. BVerfGE 29, 312 [316 f.], wonach es mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unvereinbar ist, die Anrechnung einer im Ausland erlittenen Auslieferungshaft im Rahmen der Strafvollstreckung schlechterdings auszuschließen).

3. Denn jedenfalls ergibt sich die Pflicht, die vom Verurteilten in Portugal erlittene Auslieferungshaft anzurechnen, aus Art. 11 Abs. 1 Buchstabe c ÜberstÜbk. Insoweit erleidet das in § 54 Abs. 1 Satz 2 IRG festgeschriebene Prinzip der Maßgeblichkeit des ausländischen Erkenntnisses eine Ausnahme.

a) Das ÜberstÜbk ist im Verhältnis zu Spanien am 01. Juli 1985 in Kraft getreten (BGBl. 1992 II S. 98), durch Art. 67 bis 69 SDÜ in hier nicht interessierender Weise ergänzt und durch den Rahmenbeschluss des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (RbEuHb, ABlEG Nr. L 190 v. 18. Juli 2002 S. 1) nicht berührt worden (vgl. Art. 31 RbEuHb). Gemäß § 1 Abs. 3 und Abs. 4 n.F. IRG hat das ÜberstÜbk Vorrang vor den Vorschriften des Vierten Teils des IRG über Vollstreckungshilfe (s. hierzu bereits Senat, NStZ 2002, 665 [667] = StV 2003, 86 [88] = Justiz 2002, 375 [377]). Der neue Achte Teil des IRG über die Unterstützung von Mitgliedstaaten der Europäischen Union bezieht sich nur auf die im Zweiten und Dritten Teil geregelten Ersuchen (§ 78 IRG n.F.), also nicht auf die Vollstreckungshilfe. Das EG-VollstrÜbk (BGBl. 1997 II S. 1351) ist bislang noch nicht in Kraft getreten und im Verhältnis zu Spanien nicht vorläufig anwendbar.

b) Für den Fall, dass - wie hier - die Bundesrepublik Deutschland Vollstreckungsstaat ist, also die Vollstreckung eines im ausländischen Urteilsstaat ergangenen Straferkenntnisses übernimmt, wendet sie das Umwandlungs-("Exequatur"-)verfahren gemäß Art. 3 Abs. 3, Art. 9 Abs. 1 Buchstabe b und Art. 11 ÜberstÜbk an (vgl. Schomburg, in: Schomburg/Lagodny aaO. Art. 3 ÜberstÜbk Rdn. 19).

c) Gemäß Art. 11 Abs. 1 Buchstabe c ÜberstÜbk hat die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaats - hier also das Landgericht T. - Strafvollstreckungskammer - die Gesamtzeit des an der verurteilten Person bereits vollzogenen Freiheitsentzugs (full period of deprivation of liberty served by the sentenced person) anzurechnen. Zu dieser "Gesamtzeit" des "Freiheitsentzugs" gehört auch Auslieferungshaft, die der Verurteilte auf Auslieferungsersuchen des Urteilsstaats in einem Drittstaat erlitten hat. Das entspricht dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift. Auch nach der Denkschrift zum ÜberstÜbk schließt Art. 11 Abs. 1 Buchstabe c ÜberstÜbk neben Untersuchungshaft eine "während der Überstellung erlittene Freiheitsentziehung", also Auslieferungshaft, ein (vgl. Schomburg, in: Schomburg/Lagodny aaO. Art. 11 ÜberstÜbk Rdn. 5). Die Notwendigkeit der Anrechnung ergibt sich weiterhin aus dem Grundsatz der Verfahrenseinheit bei transnationaler Strafverfolgung (vgl. hierzu BVerfGE 61, 28 [34]: "Teil der gegen den Verfolgten durchgeführten Strafverfolgung insgesamt"). Schließlich entspricht die Anrechnung europäischen Rechtsgrundsätzen, die in Deutschland wie in Spanien zu beachten sind. Im Rahmen des europäischen ne bis in idem (Art. 54 SDÜ) ist das transnationale Anrechnungsprinzip bezogen auf "jede ... erlittene Freiheitsentziehung" (Art. 56 SDÜ), also auch Auslieferungshaft, anerkannt. Art. 26 Abs. 1 RbEuHb schreibt zwingend die Anrechnung der Dauer der Haft aus der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, also der Auslieferungshaft, vor.

d) Dass die Tat des Verurteilten nach deutschem Recht möglicherweise mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft worden wäre (§ 211 StGB), ändert am Ergebnis nichts. Lebenslange Freiheitsstrafe kommt wegen des Erschwerungsverbots nach Art. 11 Abs. 1 Buchstabe d ÜberstÜbk nicht in Betracht. Im Übrigen wäre nach deutschem Recht auch bei lebenslanger Freiheitsstrafe jede Freiheitsentziehung anzurechnen, die der Verurteilte aus Anlass der Tat erlitten hat (§ 57 a Abs. 2 StGB); das schlösse neben erlittener Untersuchungshaft (Gribbohm, in: Leipziger Kommentar StGB, 11. Aufl. Stand 01. September 1992, § 57 a Rdn. 9; Stree, in: Schönke/Schröder, StGB, 26. Aufl. 2001, § 57 a Rdn. 3) auch Auslieferungshaft ein.

4. Der Senat verkennt nicht, dass diese Auffassung zu einer Besserstellung des Verurteilten führt. Wäre er in Deutschland abgeurteilt worden, so wäre lebenslange Freiheitsstrafe in Betracht gekommen, was zu einer Mindeststrafverbüßungsdauer von 15 Jahren geführt hätte (§ 57 a Abs. 1 Nr. 1 StGB). Hätte er die in Spanien ausgeurteilte Strafe dort verbüßen müssen, so wäre eine Anrechnung der in Portugal erlittenen Auslieferungshaft nicht erfolgt und im Grundsatz nur eine Dreiviertelstrafrestaussetzung zur Bewährung in Betracht gekommen (Art. 90 Abs. 1 Buchstabe b Código Penal 1995). Dass nunmehr eine Anrechnung erfolgt und eine Zweidrittelstrafrestaussetzung zur Bewährung in Betracht kommt (§ 57 Abs. 1 StGB), ist freilich Folge der Entscheidung der Bewilligungsbehörde, die Vollstreckung der spanischen Sanktion zu übernehmen.

III. Gegenstand des Verfahrens ist nicht die Frage, ob die vom Verurteilten in Portugal bzw. Spanien erlittene bzw. verbüßte Auslieferungs-, Untersuchungs- oder Strafhaft nicht, wie vom Landgericht T. - Strafvollstreckungskammer - rechtskräftig entschieden, eins zu eins, sondern mit dem Zwei- oder gar Dreifachen anzurechnen sei. Der Senat weist darauf hin, dass § 51 Abs. 4 Satz 2 StGB nach herrschender Auffassung im Vollstreckungs(hilfe)recht keine - auch keine entsprechende - Anwendung findet (s. nur OLG Düsseldorf wistra 1991, 199 [200]; OLG Hamm NStZ-RR 1999, 384; Grotz, in: Grützner/Pötz aaO. § 54 Rdn. 18) und eine Mehrfachanrechnung im Grundsatz nicht auf Art. 11 Abs. 1 Buchstabe c ÜberstÜbk gestützt werden kann.

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