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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Stuttgart
Urteil verkündet am 22.05.2003
Aktenzeichen: 7 U 18/03
Rechtsgebiete: VVG


Vorschriften:

VVG § 153 Abs. 2
VVG § 153 Abs. 4
Zur Abgrenzung einer vorsätzlichen von einer grob fahrlässigen Verletzung der Obliegenheit, die Einleitung eines selbständigen Beweisverfahrens dem Haftpflichtversicherer anzuzeigen (Abgrenzung zu OLG Stuttgart, Urteil vom 11.12.1997 - 7 U 5/97 - NJW 1999, 799).
Oberlandesgericht Stuttgart - 7. Zivilsenat - Im Namen des Volkes Urteil

Geschäftsnummer: 7 U 18/03

Verkündet am: 22. Mai 2003

In dem Rechtsstreit

hat der 7. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Stuttgart auf die mündliche Verhandlung vom 8. Mai 2003 unter Mitwirkung

des Vors. Richters am Oberlandesgericht Gramlich, des Richters am Oberlandesgericht Taxis und des Richters am Landgericht Dr. Trägner

für Recht erkannt:

Tenor:

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Einzelrichters der 22. Zivilkammer des Landgerichts Stuttgart vom 13. Januar 2003 - 22 O 434/02 - wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass Ziff. 1 des Tenors des landgerichtlichen Urteils wie folgt gefasst wird:

Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin aus Anlass des Schadensfalles "Rissebildung in der Sekundarschule H in G " bedingungsgemäßen Versicherungsschutz aus dem zwischen den Parteien geschlossenen Haftpflichtversicherungsvertrag - Versicherungs-Nr. - zu gewähren.

2. Die Revision wird nicht zugelassen.

3. Die Beklagte trägt die Kosten der Berufung.

4. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Der Beklagten wird nachgelassen, die Zwangsvollstreckung durch Sicherheits-leistung oder Hinterlegung des vollstreckbaren Betrages zuzüglich eines Aufschlages von 10 % abzuwenden, wenn nicht die Klägerin vor Vollstreckung Sicherheit in Höhe des zu vollstreckenden Betrages zuzüglich eines Aufschlages von 10 % leistet.

Streitwert der Berufung: 25.565,00 €

Gründe:

A.

Die klagende Gesellschaft bürgerlichen Rechts begehrt die Feststellung, dass die Beklagte für den im Tenor genannten Schadensfall als Berufshaftpflichtversicherer Versicherungsschutz zu gewähren hat.

Während des Laufes des Versicherungsvertrages wurde die Klägerin mit der Tragwerksplanung für ein Schulgebäude beauftragt. An dem hierauf errichteten Bauwerk traten Risse auf. Die am Bau Beteiligten - Architekt, Generalunternehmer und die Klägerin - , kamen überein, dass die Generalunternehmerin die Sanierung auf eigene Kosten durchführen sollte. Dennoch leitete die Auftraggeberin gegen sämtliche Beteiligte ein selbständiges Beweisverfahren ein, wovon die Klägerin die Beklagte zunächst nicht unterrichtet hat. Eine Anzeige des Schadensfalls erfolgte erst, als das Beweissicherungsgutachten eine Mitverantwortlichkeit der Klägerin festgestellt hatte.

Auf die weiteren tatsächlichen Feststellungen des landgerichtlichen Urteils wird Bezug genommen (§ 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO).

Das Landgericht hat der Klage stattgegeben und die beklagte Versicherung für verpflichtet gehalten, bedingungsgemäßen Versicherungsschutz zu gewähren. Die Gesellschafter der Klägerin hätten nicht vorsätzlich, sondern nur grob fahrlässig gegen die ihnen obliegende Verpflichtung zur unverzüglichen Anzeige des Versicherungsfalls verstoßen. Die Pflichtverletzung habe weder Einfluss auf die Feststellung des Versicherungsfalles noch auf den Umfang der dem Versicherer obliegenden Leistung gehabt.

Dagegen wendet sich die Beklagte unter Vertiefung und Erweiterung ihres Vorbringens, insbesondere in rechtlicher Hinsicht, mit der Berufung. Sie ist nach wie vor der Auffassung, der Klägerin sei eine vorsätzliche Verletzung der Anzeigepflicht anzulasten.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 13. Januar 2003 abzuändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hat den Klageantrag dahingehend präzisiert, dass Feststellung begehrt wird, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin aus Anlass des Schadensfalls "Rissebildung in der Sekundarschule H in G " bedingungsgemäßen Versicherungsschutz aus dem zwischen den Parteien geschlossenen Haftpflichtversicherungsvertrag - Versicherungs-Nr. - zu gewähren.

Die Klägerin verteidigt das landgerichtliche Urteil.

Der Senat hat den Gesellschafter Jabs der Klägerin ergänzend angehört. Er hat angegeben, von einer Anzeige an die Versicherung sei zunächst abgesehen worden, weil für die Klägerin aufgrund des Ergebnisses der Besprechung vom 6. Juli 1998 (Anl. K 2, Bl. 21) klar gewesen sei, dass der Generalunternehmer alleine für die Schäden aufzukommen habe und die Klägerin keine Haftung treffe. In dieser Sicherheit habe er sich auch noch gewähnt, als der Antrag auf Einleitung des selbständigen Beweisverfahrens vor dem Landgericht Magdeburg zugegangen sei. Die Gefahr einer Haftung der Klägerin sei ihm erst mit dem Eingang des Sachverständigengutachtens im selbständigen Beweisverfahren bewusst geworden. Daraufhin sei die Versicherung unterrichtet worden.

B.

Die zulässige Berufung hat in der Sache keinen Erfolg.

I.

Der Zulässigkeit der Feststellungsklage steht nicht entgegen, dass der Klägerin nunmehr eine Bezifferung des Haftpflichtschadens möglich ist. Sie ist - jedenfalls in zweiter Instanz - nicht gezwungen, zu einer bezifferten Leistungsklage überzugehen, wenn diese erst nachträglich möglich wird (BGHZ 70, 39; Zöller/Greger, ZPO, 23. Aufl., § 256 Rn. 7c).

II.

Zu Recht ist das Landgericht davon ausgegangen, dass die Gesellschafter der Klägerin nicht vorsätzlich gegen die ihnen obliegende Verpflichtung zur unverzüglichen Anzeige des Versicherungsfalles (§ 16 Nr. 2 und 3 der Allgemeinen Versicherungsbedingungen für Betriebs- und Privathaftpflichtversicherung - AVB 94, die § 153 Abs. 2 und 4 VVG entsprechen) verstoßen haben. Zu Recht geht das Landgericht weiter davon aus, dass den Gesellschaftern der Klägerin zwar eine grob fahrlässige Verletzung dieser Verpflichtung zur Last zu legen ist, die Beklagte aber zur Leistung verpflichtet bleibt, weil die Pflichtverletzung weder Einfluss auf die Feststellung des Versicherungsfalls noch auf den Umfang der dem Versicherer obliegenden Leistungen gehabt hat (§ 16 Nr. 9 Satz 2 AVB 94).

1. Den objektiven Verstoß gegen die Verpflichtung zur Anzeige der gerichtlichen Geltendmachung des Anspruchs, hier durch das am 15.02.1999 eingeleitete selbständige Beweisverfahren, haben die Gesellschafter der Klägerin nicht in Abrede gestellt. Liegt der objektive Tatbestand einer Obliegenheitsverletzung vor, wird ein vorsätzliches Handeln nach § 16 Nr. 9 Satz 1 AVB 94, der insoweit § 6 Abs. 3 Satz 1 VVG entspricht, vermutet. Dem gemäß muss der Versicherungsnehmer beweisen, dass die Verletzung nicht auf Vorsatz beruht (allgemeine Meinung, vgl. z.B. BGH NJW 2002, 518), wobei an die Führung des Gegenbeweises keine hohen Anforderungen zu stellen sind. Vorsatz erfordert das Wollen der Obliegenheitsverletzung im Bewusstsein des Vorhandenseins der Verhaltensnorm, wobei auch bedingter Vorsatz ausreicht (vgl. Prölss/Martin, VVG, 26. Aufl., § 6 Rn. 116 m. w. N.). Davon kann bei verspäteter Erfüllung der Anzeigeobliegenheit schon aufgrund des feststehenden Sachverhalts regelmäßig nicht ausgegangen werden, weil nach der Lebenserfahrung kein vernünftiger Versicherungsnehmer sich durch vorsätzlich Nichterfüllung dieser Obliegenheit Rechtsnachteilen aussetzen will (BGH VersR 1979, 1117; 1981, 321; Römer/Langheid, VVG, 2. Aufl., § 6 Rn. 123 m. w. N.). Von vorsätzlichem Verhalten wird dem gegenüber insbesondere dann auszugehen sein, wenn der Versicherungsnehmer keine nachvollziehbare, einleuchtende Erklärung für das Nichtbefolgen der Anzeigepflicht gibt (OLG Saarbrücken VersR 1991, 872) oder wenn triftige Gründe, z.B. das Verschleiern von Tatsachen, für die Inkaufnahme des Risikos, den Versicherungsschutz zu verlieren, sprechen (OLG Hamm VersR 1997, 1341). Für die Annahme eines vorsätzlichen Verhaltens genügt es danach nicht, dass dem Versicherungsnehmer die Tatsachen bekannt waren, welche die Anzeigepflicht begründeten; es musste ihm vielmehr auch bewusst sein, dass er aufgrund dieser Tatsachen zu einer Anzeige an den Versicherer verpflichtet war (BGH VersR 1979, 1117). Davon ist im vorliegenden Fall nicht auszugehen.

a) Die Gesellschafter der Klägerin haben nicht in Abrede gestellt, dass ihnen die sich aus § 16 AVB 94 ergebenden Anzeigepflichten bekannt waren. Die Nichtanzeige des selbständigen Beweissicherungsverfahrens haben sie damit begründet, dass sie auch zu diesem Zeitpunkt noch von einer alleinigen Verantwortlichkeit des Generalunternehmers ausgegangen sind. Zu dieser Fehleinschätzung ließen sich die Gesellschafter der Klägerin verleiten, weil sie einer früheren übereinstimmenden Beurteilung der fachkundigen Beteiligten und späteren Antragsgegner des selbständigen Beweisverfahrens entsprach. Ausweislich des Protokolls über eine Besprechung vom 06.07.1998 (Anlage K 2,Bl. 21), an welcher der Generalunternehmer, der Architekt, der Gesellschafter der Klägerin als Statiker, sowie der geologische Gutachter teilgenommen haben, wurde Übereinstimmung dahingehend erzielt, dass die Sanierungsmaßnahmen durch den Generalunternehmer auf eigene Kosten durchzuführen waren. Der Gesellschafter hat bei seiner Anhörung durch den Senat nochmals betont, dass sich die Klägerin auch zu diesem Zeitpunkt angesichts der "Verantwortungsübernahme" des Generalunternehmers noch auf der "sicheren Seite" wähnte. Als das erste Gutachten im selbständigen Beweissicherungsverfahren eine Mitverantwortlichkeit der Klägerin feststellte, wurde dies der Beklagten umgehend mitgeteilt.

b) Im Gegensatz zu einem früheren, vom Senat entschiedenen Sachverhalt (Urteil vom 11.12.1997, NJW 1999, 799) geht der Senat nicht davon aus, dass die Klägerseite im Bewusstsein zu einer Anzeige verpflichtet zu sein, dieselbe unterlassen haben, z.B. weil sie - wie der dortige Versicherungsnehmer - der Sache keine besondere Bedeutung beigemessen hätten und sie ohne die Inanspruchnahme der Versicherung erledigen wollten. Vielmehr geht der Senat in Anbetracht der gesamten Umstände davon aus, dass sich die Gesellschafter der Klägerin in einem Irrtum über Umfang und Reichweite der Anzeigepflichten in § 16 AVB 94 befanden. Sie gingen - zu Unrecht, aber irrtümlich - davon aus, dass eine Anzeige dann entbehrlich sei, wenn bei mehreren denkbaren Ersatzpflichtigen nichts für eine Verantwortlichkeit des Versicherungsnehmers spreche und diese Einschätzung von den übrigen fachkundigen Beteiligten am Bau geteilt und schriftlich erklärt werde. Dafür spricht insbesondere auch der Umstand, dass sie die Beklagte umgehend verständigt haben, als - aus Sicht der Gesellschafter der Klägerin - erstmals Anhaltspunkte für eine Haftung der Klägerin aufkamen. Gerade die Berichtigung falscher Angaben oder die Korrektur eines Fehlverhaltens kann aber geeignet sein, die Vorsatzvermutung zu widerlegen, wenn das Fehlverhalten auf einen Irrtum beruht (BGH, Urteil vom 05.12.2001 - IV ZR 225/00, NJW 2002, 518 unter 4 a cc). Danach sprechen keine Anhaltspunkte dafür, dass die Gesellschafter der Klägerin bewusst und damit vorsätzlich gegen die Anzeigenobliegenheit nach § 16 Nr. 3 AVB 94 verstoßen haben.

2. Selbst wenn man, wie die Berufung dies tut, die Vorsatzvermutung nicht als ausgeräumt ansieht, könnte sich die Beklagte angesichts der Folgenlosigkeit der Obliegenheitsverletzung nicht auf Leistungsfreiheit berufen, weil nicht von einem erheblichen Verschulden der Klägerin auszugehen wäre. Dies ergibt sich aus dem Umstand, dass die Gesellschafter der Klägerin ihr Fehlverhalten aus freien Stücken korrigiert haben und dadurch im konkreten Fall der Beklagten noch kein Nachteil entstanden war (vgl. zur Verletzung von Aufklärungsobliegenheiten BGH, Urteil vom 05.12.2001, NJW 2002, 518).

3. Eine Leistungsfreiheit der Beklagten ergibt sich auch nicht aus einem Verstoß gegen die in § 16 Nr. 2 AVB 94 aufgeführte Pflicht, jeden Versicherungsfall unverzüglich anzuzeigen. Auch insoweit fehlt es - wie das Landgericht unter I. 1. der Entscheidungsgründe ausgeführt hat - aus den oben genannten Gründen an einer vorsätzlichen Pflichtverletzung.

4. Ohne Rechtsfehler hat das Landgericht schließlich festgestellt, dass die Kläger grobfahrlässig gegen ihre Anzeigenpflicht aus § 16 Nr. 3 AVB 94 verstoßen haben, die Beklagte aber zur Leistung verpflichtet bleibt, weil die Verletzung weder Einfluss auf die Feststellung des Versicherungsfalls noch auf die Feststellung oder den Umfang der dem Versicherer obliegenden Leistung gehabt hat. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf II. der Entscheidungsgründe des landgerichtlichen Urteils Bezug genommen. Hiergegen hat die Beklagte auch in der Berufung nichts eingewandt.

III.

Die Zulassung der Revision ist nicht geboten. Die Sache hat keine grundsätzliche Bedeutung. Die Entscheidung des Revisionsgerichts ist auch nicht zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich.

Der vorliegenden Einzelfall gibt keine Veranlassung, Leitsätze für die Auslegung von Gesetzbestimmungen des materiellen oder formellen Rechts aufzustellen (vgl. BGH NJW 2002, 3029). Zur Frage der Widerlegung der Vorsatzvermutung bei verspäteter Erfüllung von Anzeigenobliegenheiten folgt der Senat der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH NJW 1979, 1117).

IV.

Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 97 Abs. 1, 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Ende der Entscheidung

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