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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Zweibrücken
Beschluss verkündet am 20.07.2005
Aktenzeichen: 1 Ws 205/05
Rechtsgebiete: StPO, StGB


Vorschriften:

StPO § 454 Abs. 2
StGB § 57 Abs. 1
StGB § 57 Abs. 2

Entscheidung wurde am 06.03.2006 korrigiert: die Rechtsgebiete und Vorschriften wurden geändert und ein amtlicher Leitsatz wurde hinzugefügt
Die Einholung eines Sachverständigengutachtens nach § 454 Abs. 2 StPO kann in Ausnahmefällen entbehrlich sein, wenn das Gericht seiner Aufklärungspflicht durch Ausschöpfung aller übrigen Erkenntnismöglichkeiten Genüge getan hat und die dadurch geschaffenen hinreichenden Tatsachengrundlage aufgrund eigener Sachkunde zweifelsfrei die Beurteilung zulässt, dass von einem Verurteilten praktisch keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit mehr ausgeht (Fortführung der bisherigen Senatsrechtsprechung, Beschluss vom 14. Dezember 2001 - 1 Ws 680/01 -, veröffentlicht in StV 2003, 683).
Pfälzisches Oberlandesgericht Zweibrücken Beschluss

1 Ws 205/05 In dem Strafvollstreckungsverfahren gegen

wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln

hier: Strafaussetzung zur Bewährung nach Verbüßung der Hälfte der Strafe

hat der 1. Strafsenat des Pfälzischen Oberlandesgerichts Zweibrücken durch den Vizepräsidenten des Oberlandesgerichtes Dr. Ohler, den Richter am Oberlandesgericht Maurer und den Richter am Landgericht Schwenninger

am 20. Juli 2005

beschlossen:

Tenor:

1. Auf die sofortige Beschwerde der Verurteilten wird der Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Zweibrücken vom 3. Mai 2005 aufgehoben.

2. Die Vollstreckung des Restes der Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Jahren und 6 Monaten aus dem Urteil der 5. Großen Strafkammer des Landgerichtes Saarbrücken vom 16. Juli 2004 wird mit sofortiger Wirkung zur Bewährung ausgesetzt.

3. Die Bewährungszeit wird auf 3 Jahre festgesetzt.

4. Für die Dauer der Bewährungszeit wird die Verurteilte der Aufsicht und Leitung eines amtlichen Bewährungshelfers unterstellt.

5. Sie wird angewiesen, ihre Anschrift nach der Entlassung sowie jede Änderung der Anschrift während der Bewährungszeit unverzüglich der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Zweibrücken zu dem oben genannten Aktenzeichen mitzuteilen.

6. Die Belehrung über die Strafaussetzung zur Bewährung wird der Justizvollzugsanstalt Zweibrücken übertragen.

7. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die notwendigen Auslagen, die der Verurteilten darin entstanden sind, werden der Landeskasse auferlegt.

Gründe:

Die Verurteilte wurde am 16. Juli 2004 von dem Landgericht Saarbrücken wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Jahren und 6 Monaten verurteilt. Seit dem 24. Juli 2004 verbüßt sie diese Freiheitsstrafe in der Justizvollzugsanstalt Zweibrücken. Zuvor befand sie sich ab dem 23. Juli 2003 in Untersuchungshaft. Als Halbstrafentermin ist der 21. April 2005 berechnet gewesen, der Zwei-Drittel-Zeitpunkt wird am 20. November 2005 erreicht sein; das Strafende ist für den 21. Januar 2007 vorgemerkt.

Die Strafvollstreckungskammer hat die bedingte Entlassung der Verurteilten vor Verbüßung von zwei Dritteln der Strafe dem Antrag der Staatsanwaltschaft Saarbrücken entsprechend abgelehnt. Hiergegen wendet sich die Verurteilte mit der sofortigen Beschwerde.

Das zulässige Rechtsmittel hat Erfolg.

Entgegen der Auffassung der Strafvollstreckungskammer sieht der Senat die Voraussetzungen des § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB als gegeben an. Eine Strafaussetzung nach dieser Vorschrift setzt voraus, dass die Gesamtwürdigung der Taten, der Persönlichkeit der Verurteilten und ihrer Entwicklung im Vollzug das Vorliegen von besonderen Umständen ergibt. Entsprechend dem Ausnahmecharakter der Regelung des § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB sind als besondere Umstände nur solche anzusehen, die im Vergleich mit gewöhnlichen, durchschnittlichen, allgemeinen oder einfachen Milderungsgründen ein besonderes Gewicht aufweisen, dass eine Strafaussetzung zur Bewährung in Ansehen des Unrechts- oder Schuldgehalts der Tat als nicht unangebracht und den vom Strafrecht geschützten Interessen zuwiderlaufend erscheint (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. auch OLG Koblenz StV 1991, 428). Mehrere zusammentreffende durchschnittliche Milderungsgründe können in ihrer Gesamtheit ein solches Gewicht erlangen, dass sie die Bedeutung besonderer Umstände erlangen (OLG Hamm StV 1998, 503; OLG Bamberg StV 1994, 252; Senat StV 2003, 683). Dabei sind auch solche Umstände zu berücksichtigen, die bereits Eingang in die Strafzumessung des erkennenden Gerichts gefunden haben (OLG Karlsruhe NStZ - RR 1997, 323; OLG Düsseldorf StV 1997, 94; Senat StV 1991, 223).

Die gebotene Gesamtwürdigung ergibt hier insgesamt besondere Umstände, die eine solche Strafaussetzung rechtfertigen.

Das Tatgeschehen und die Person der Verurteilten weisen unter Berücksichtigung der Strafmilderungs- und Strafschärfungsgründe besondere, für sie sprechende Umstände auf. Auch wenn die Urteilsgründe die für die Bemessung der Strafen maßgebenden Gründe nicht mitteilen, wird deutlich, dass der Verurteilten neben ihrem Sohn nur eine untergeordnete Rolle bei der Begehung der abgeurteilten Taten zukam. Der unterschiedliche Umfang des strafrechtlich relevanten Verhaltens macht ebenso wie der Vergleich des bis dahin tadellosen Lebenswandels der Verurteilten mit dem Werdegang ihres drogenabhängigen und mehrfach - auch einschlägig - vorbestraften Sohnes deutlich, dass die Verurteilte entsprechend ihren Angaben ohne den Einfluss ihres Sohnes auch weiterhin keine Straftaten begangen hätte.

Ausweislich des zugrunde liegenden Urteils hat die Verurteilte nicht nur ein umfassende Geständnis abgelegt, sondern durch ihre Angaben auch einen darüber hinausgehenden Aufklärungsbeitrag im Sinne des § 31 BtMG geleistet. Die darin zum Ausdruck kommende Reue und der Wille, mit diesem strafbaren Tun abzuschließen, haben sich durch die Auseinandersetzung mit ihren Taten in der Haft bestätigt. Das Verhalten der Verurteilten im Vollzug wird in der Stellungnahme der Vollzugsanstalt durchweg als sehr positiv beschrieben. Dadurch hat sie aktiv zu der Erreichung des Vollzugsziels beigetragen. Weder im Rahmen der ab November 2004 gewährten Vollzugslockerungen, noch im offenen Vollzug hat sie Anlass zu Beanstandungen gegeben. Hinzu kommt, dass sie erstmals eine Freiheitsstrafe verbüßt. Auch wenn die Voraussetzungen des § 57 Abs. 2 Nr. 1 StGB nicht vorliegen, kommt diesem Umstand im Rahmen der nach § 57 Abs. 2 Nr. 2 vorzunehmenden Gesamtschau erhebliche Bedeutung zu (Tröndle-Fischer StGB 52. Auflage § 57, Rn. 29). Durch die seit nunmehr fast zwei Jahren andauernde Inhaftierung hat sie sich deutlich beeindruckt gezeigt.

Besondere Bedeutung kommt auch der Tatsache zu, dass die Verurteilte erstmals im Alter von 50 Jahren strafrechtlich in Erscheinung getreten ist. Zuvor hat sie ein unbescholtenes Leben geführt, das in erster Linie der Versorgung ihrer Familie gewidmet war. Trotz dieser Aufgabe hat sie fast durchgängig mit ihrer Berufstätigkeit wesentlich zum Lebensunterhalt der Familie beigetragen und will alsbald ihre Arbeit wieder aufnehmen. Die Verurteilte kehrt in ihr altes Zuhause zurück, wo sie die Versorgung ihres kranken Ehemannes übernehmen wird. Der nach wie vor enge Familienzusammenhalt zeigt sich auch daran, dass diese Aufgabe bislang von ihren Angehörigen wahrgenommen wurde, zu denen sie immer einen engen Kontakt unterhielt und auf deren Unterstützung sie auch jetzt zählen kann.

Schließlich kann nicht außer Betracht bleiben, dass die Verurteilte am 21. April 2005 die Hälfte der Strafe verbüßt hatte und bereits am 20. November 2005 der Zweidrittelzeitpunkt anstünde.

Nach alledem liegen auch in Ansehen der Schwere der vorliegenden Taten besondere Umstände im Sinne des § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB vor.

Schließlich ist der Verurteilten in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft eine positive Sozialprognose gemäß § 57 Abs 1 S. 1 Nr. 2 StGB i.V.m. § 57 Abs. 2 StGB zu stellen. Zwar wurden gegen die Verurteilte Einzelstrafen von über zwei Jahren wegen Verbrechen nach §§ 29a, 30 a BtMG verhängt, so dass nach § 454 Abs. 2 S. 1 StPO grundsätzlich die Einholung eines Sachverständigengutachtens zu veranlassen wäre. Erwägt das Gericht die Aussetzung der Vollstreckung einer entsprechenden Reststrafe, ist ein Absehen von der Einholung eines Prognosegutachtens nur in Ausnahmekonstellationen zulässig, in denen die heranzuziehenden Umstände zweifelsfrei die Beurteilung zulassen, dass von einem Verurteilten praktisch keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit mehr ausgeht (OLG Karlsruhe StV 2000, 156; OLG Köln StV 2000, 155; Senat StV 2003, 683). Das Gericht muss in der Lage sein, eine Entscheidung aufgrund eigener Sachkunde in Anlehnung an § 244 Abs. 4 S. 1 StPO zu treffen. In Betracht kommen daher nur Fälle, in denen die Einholung eines Prognosegutachtens eine Erweiterung der Entscheidungsgrundlage nicht erwarten lässt. Dies setzt voraus, dass im Rahmen der dem Gericht obliegenden Aufklärungspflicht alle übrigen Erkenntnismöglichkeiten zur Schaffung einer hinreichenden Tatsachengrundlage ausgeschöpft worden sind. Dann nämlich würde sich die Einholung eines Gutachtens nach § 454 Abs. 2 StPO als bloße Förmelei darstellen. Denn selbst wenn ein Gutachter sich ohne neue Erkenntnisse nicht zu einer positiven Prognose entschließen könnte, wäre das Gericht hierdurch nicht der Prüfung enthoben, ob trotzdem eine Aussetzung des Strafrestes verantwortet werden kann (OLG Köln StV 2000, 156). Dabei ist zu bedenken, dass auch bei einer Aussetzungsentscheidung auf der Grundlage eines Sachverständigengutachtens ein vertretbares Restrisiko eingegangen werden kann (BVerfG NStZ 1998, 373).

Der Senat teilt die Ansicht der Strafvollstreckungskammer, dass hier eine solche Ausnahmekonstellation gegeben ist. Nach der Anhörung der Verurteilten und des zuständigen Anstaltspsychologen durch den Senat können weitergehende Erkenntnisse ausgeschlossen werden, da auch einem Sachverständigen keine zusätzlichen Informationen über die Lebensführung der Verurteilten zugänglich wären. Besonderheiten in der Person der Verurteilten, namentlich psychiatrische Erkrankungen oder eine Suchtproblematik, deren Beurteilung einer besonderen fachspezifischen Qualifikation bedarf, liegen nicht vor.

Alle maßgebenden Umstände lassen eine erneute Straffälligkeit der Verurteilten nach menschlichem Ermessen als ausgeschlossen erscheinen. In der Rückschau erweisen sich die Taten als durch die Beeinflussung des Sohnes bedingte Episode im Leben der Verurteilten. In Anbetracht der Fortdauernden Inhaftierung des Sohnes ist eine solche Einwirkung derzeit ausgeschlossen. Überdies ist der Senat in Übereinstimmung mit der gutachterlichen Stellungnahme des Anstaltspsychologen davon überzeugt, dass die Verurteilte aufgrund ihrer Entwicklung heute einer entsprechenden Beeinflussung nicht mehr zugänglich ist. Hierbei kommt der durchweg positiven Führung der Verurteilten in der Haft und ihrer von Reue und tätiger Aufklärungshilfe geprägten Auseinandersetzung mit ihren Taten besondere Bedeutung zu. Zudem ist bei Erstverbüßern der Strafeindruck in der Regel so tief greifend und nachhaltig, dass anschließend mit straffreier Führung in Freiheit gerechnet werden kann (BGH StV 2003, 678). Dies gilt für die Verurteilte aufgrund ihres straffreien Vorlebens und ihres Alters umso mehr.

Ende der Entscheidung

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