Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss verkündet am 10.03.2006
Aktenzeichen: OVG 10 S 5.05
Rechtsgebiete: BauGB


Vorschriften:

BauGB § 34
BauGB § 35 Abs. 1
BauGB § 35 Abs. 1 Nr. 4
BauGB § 35 Abs. 3
BauGB § 35 Abs. 3 Satz 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
OVG 10 S 5.05

In der Verwaltungsstreitsache

hat der 10. Senat durch den Vorsitzenden Richter am Oberverwaltungsgericht Krüger und die Richterinnen am Oberverwaltungsgericht Scheerhorn und Dr. Bumke am 10. März 2006 beschlossen:

Tenor:

Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Cottbus vom 28. November 2003 mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung geändert. Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellergegen den Bescheid des Antragsgegners vom 20. Oktober 2003 in der Fassung der Nachtragsgenehmigung vom 4. Dezember 2003 und des Widerspruchsbescheides vom 10. März 2004 wird angeordnet.

Der Antragsgegner und die Beigeladene tragen die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge je zur Hälfte mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst trägt.

Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 2.500,00 EUR festgesetzt.

Gründe:

I.

Die Antragsteller wenden sich gegen eine der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung für die Errichtung eines Aussichtsturms im Randbereich des ehemaligen Tagebaufeldes M_____. Der auf der ca. 11,5 m hohen Trasse der ehemaligen Kohlenbahn stehende Aussichtsturm hat eine Höhe von insgesamt 33,5 m; die Aussichtsplattform befindet sich in einer Höhe von 27 m. Der Turm besteht aus einer offenen Konstruktion aus Stahlprofilen und einer Treppe aus Stahlwangen, gelochten Leichtroststufen und Podesten aus gelochtem Leichtrost. Die Antragsteller sind Eigentümer des südlich des Aussichtsturms belegenen, mit einem Wohnhaus bebauten Grundstücks, von dessen nördlicher Grenze der Turm einen Abstand von 29,5 m einhält.

Den Antrag der Antragsteller, die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs gegen die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung anzuordnen, hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 28. November 2003 mit der Auflage abgelehnt, bis zur Eröffnung des Aussichtsturms über den Antrag der Beigeladenen auf Änderung der Baugenehmigung zur beabsichtigten Anbringung von Sichtblenden zu entscheiden. Zur Begründung hat das Verwaltungsgericht im Wesentlichen ausgeführt, das Bauvorhaben verstoße nicht gegen nachbarschützende Vorschriften des Bauordnungsrechtes, halte insbesondere die erforderlichen Abstandsflächen ein. Die Umstände des vorliegenden Einzelfalles böten jedenfalls unter Berücksichtigung des eingereichten Änderungsantrags, dem zufolge an der Aussichtsplattform Sichtblenden angebracht werden sollten, auch keinen hinreichenden Anhalt dafür, dass trotz Einhaltung der Abstandsflächen ein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot vorliege.

Gegen den den Antragstellern am 3. Dezember 2003 zugestellten Beschluss haben diese am 17. Dezember 2003 die vorliegende Beschwerde erhoben. Mit Bescheid vom 4. Dezember 2003 hat der Antragsgegner eine Nachtragsgenehmigung erlassen, mit der die Anbringung von Sichtblenden an der Aussichtsplattform genehmigt wird. Den Widerspruch der Antragsteller gegen den Bescheid vom 20.Oktober 2003 hat der Antragsgegner mit Widerspruchsbescheid vom 10. März 2004 zurückgewiesen. Die Antragsteller haben am 15. April 2004 Klage erhoben, die beim Verwaltungsgericht Cottbus unter dem Aktenzeichen 3 K 602/04 geführt wird.

II.

Die zulässige Beschwerde ist begründet.

Das Rechtsschutzbedürfnis der Antragsteller ist nicht etwa deshalb entfallen, weil der Aussichtsturm zwischenzeitlich fertiggestellt ist, denn jedenfalls die von den Antragstellern gerügten Beeinträchtigungen durch Geräuschentwicklungen und Einsichtnahme in ihr Grundstück gehen nicht von dem Baukörper als solchem, sondern von dessen Nutzung aus.

Die mit der Beschwerde erhobenen Einwände rechtfertigen auch eine Änderung des erstinstanzlichen Beschlusses (vgl. § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO). Abweichend von der Auffassung des Verwaltungsgerichts hält der Senat es für überwiegend wahrscheinlich, dass die Klage der Antragsteller gegen die Baugenehmigung erfolgreich sein wird.

Das Vorhabengrundstück befindet sich im Außenbereich. Es bedarf keiner Entscheidung, ob der Aussichtsturm, wie das Verwaltungsgericht zumindest für erwägenswert gehalten hat, die Privilegierung des § 35 Abs. 1 Nr. 4 BauBG für sich in Anspruch nehmen kann (Beschlussausfertigung S. 5 f). Gemäß § 35 Abs. 1 BauGB sind im Außenbereich auch privilegierte Vorhaben nur zulässig, wenn öffentliche Belange nicht entgegenstehen. Wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat, wird das Gebot, auf schutzwürdige Individualinteressen Rücksicht zu nehmen, zwar in § 35 Abs. 3 Satz 1 BauGB nicht ausdrücklich aufgeführt, es ist aber anerkanntermaßen als öffentlicher Belang im Sinne dieser Vorschrift zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. November 2004 - 4 C 1.04 -, NVwZ 2005, 328 m.w.N.). Dass das Grundstück der Antragsteller, anders als das Baugrundstück, nicht im Außenbereich liegt, ist unerheblich, weil das in § 35 Abs. 3 verankerte Gebot der Rücksichtnahme nicht nur für Außenbereichsvorhaben untereinander gilt, sondern über Gebietsgrenzen hinweg wirkt und auch Eigentümern zugute kommt, deren Grundstück - was hier, soweit ersichtlich, der Fall ist - im unbeplanten Innenbereich im Sinne des § 34 BauGB liegt (vgl. BVerwG, Urteil vom 28. Oktober 1993 - 4 C 5.93 -, UPR 1994, 148). Das Verwaltungsgericht hat auch zutreffend dargelegt, dass eine an der Frage der Zumutbarkeit ausgerichtete Abwägung zwischen den Interessen des Rücksichtnahmebegünstigten und des Rücksichtnahmeverpflichteten vorzunehmen ist (vgl. auch BVerwG, Urteil vom 18. November 2004, - 4 C 1.04 -, a.a.O.). Das Kriterium der Unzumutbarkeit ist hierbei nicht im enteignungsrechtlichen Sinne zu verstehen, sondern in dem Sinne, dass dem Betroffenen die nachteilige Einwirkung des Bauvorhabens billigerweise nicht mehr zugemutet werden soll (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. März 1981 - 4 C 1.78 -, BRS 38 Nr. 186).

Unter Zugrundelegung dieses Maßstabes spricht alles dafür, dass sich das Bauvorhaben der Beigeladenen gegenüber den Antragstellern als rücksichtslos erweist.

Die Antragsteller haben in ihrer Beschwerdebegründung vorgetragen, dass ihr gesamtes Grundstück und die Fenster zum Schlaf- und Badezimmer von dem Aussichtsturm aus einer Einsichtnahme durch ständig wechselnde Besucher in nicht überschaubarer Zahl ausgesetzt seien (Beschwerdeschrift S. 4) und die Sichtblende an der Aussichtsplattform die Beeinträchtigung nicht vermeide, da der gesamte Treppenaufgang aus einer offenen Stahlkonstruktion bestehe (Beschwerdeschrift S. 7). Dieser Vortrag wird durch die eingereichten Fotografien bestätigt. Hierauf ist erkennbar, dass auf Grund der offenen Konstruktion des Aussichtsturmes von dessen Treppenaufgang aus das Grundstück der Antragsteller nahezu vollständig eingesehen werden kann. Dies gilt insbesondere für die Terrasse und die von der Straße abgewandten Bereiche des Gartens; lediglich der Eingangsbereich und der an der Straße belegene Vorgarten sind den Blicken der Turmbesucher entzogen. Den eingereichten Bildern ist auch zu entnehmen, dass die zwischen dem Turm und dem Grundstück angepflanzten Bäume und Sträucher lediglich im unteren Bereich des Turmes zu einer gewissen Abschirmung führen, jedoch wird hiervon nur die untere Hälfte des Turmes abgedeckt.

Diese Einsichtsmöglichkeiten dürften den Antragstellern entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht zumutbar sein. Zwar müssen Einsichtnahmemöglichkeiten in bebauten Bereichen zumindest dann, wenn - wie hier - die nach der Landesbauordnung erforderlichen Abstandsflächen eingehalten werden, im Allgemeinen hingenommen werden (vgl. OVG Münster, Urteil vom 22. August 2005 - 10 A 3611/03 -, NWVBl. 2006, 62; OVG Berlin, Urteil vom 17. Oktober 2003 - OVG 2 B 8.01 -, BRS 66 Nr. 189). Das Verwaltungsgericht weist zu Recht darauf hin, dass die Regelungen über die Abstandsflächen nach der ihnen zugedachten Schutzfunktion unter anderem die Wahrung eines ausreichenden Sozialabstandes zwischen Bauwerken bezwecken und insoweit festlegen, was den Nachbarn unter diesem Gesichtspunkt billigerweise zugemutet werden darf, weshalb das Rücksichtnahmegebot im Hinblick auf diesen nachbarlichen Belang im Regelfall nicht verletzt ist, wenn die Abstandsvorschriften eingehalten werden (vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 24. April 1989 - 4 B 72.89 -, DÖV 1989, 860; BVerwG, Urteil vom 28.Oktober 1993 - 4 C 5.93 -, UPR 1994, 148; BVerwG, Beschluss vom 11. Januar 1999 - 4 B 128.98 -, UPR 1999, 191; OVG Berlin, Urteil vom 17. Oktober 2003 - OVG 2 B 8.01 -, BRS 66 Nr. 189; OVG Münster, Beschluss vom 13. September 1999 - 7 B 1457/99 -, BauR 2001, 917; Beschluss des Senats vom 22. Juli 2005 - OVG 10 S 2.05). Hier ist jedoch trotz Einhaltung der erforderlichen Abstandsflächen das hinzunehmende Maß überschritten und sind die geschaffenen Einsichtsmöglichkeiten den Antragstellern billigerweise nicht mehr zumutbar. Der Aussichtsturm vermittelt eine andere Qualität von Einsichtsmöglichkeiten als dies benachbarte Wohn- oder auch Gewerbebauten, mit deren Errichtung die Antragsteller möglicherweise hätten rechnen müssen, tun würden. Der Turm überragt das Wohnhaus der Antragsteller um ein Vielfaches, das Grundstück der Antragsteller kann also aus großer Höhe nahezu vollständig in den Blick genommen werden. Hiervon sind insbesondere die Terrasse und die von der Straße abgewandten Bereiche des Gartens betroffen, die typische Ruhe- und Rückzugsräume darstellen. Im Hinblick auf die Höhe des Aussichtsturms könnten die Antragsteller zumindest den Garten nicht wirksam durch Sichtschutzvorkehrungen vor einer Einsichtnahme schützen. Auf Grund der offenen Stahlkonstruktion eröffnen sich die Einsichtsmöglichkeiten auch nicht lediglich aus einigen Fensteröffnungen heraus oder von einzelnen Balkonen herab, sondern bieten sich von den Treppen über die gesamte Höhe jedenfalls der oberen Hälfte des Turmes. Den Besuchern des Turms fällt das Grundstück der Antragsteller beim Auf- und Abstieg quasi zwangsläufig ins Auge, da sie teilweise direkt darauf zulaufen. Wie der Antragsgegner selbst hervorhebt, würden "umfangreiche Verkleidungen des Turms in Richtung des Grundstücks der Antragsteller ... auch einen freien Blick über das Grundstück hinaus verwehren. Die Zweckbestimmung des Bauwerks als Aussichtsturm" bedinge "es aber gerade, eine freie Sicht auf die Umgebung zu gewährleisten". Schließlich bezeichnet der Antragsgegner die (von den Antragstellern) "als Störung geschilderte Nutzung des Turms durch Besucher" sogar ausdrücklich als "Sinn und Zweck eines Aussichtsturmes". Da der Turm dazu bestimmt ist, von einer unbestimmten Anzahl wechselnder Besucher frequentiert zu werden, tritt auch eine Gewöhnung der Besucher an den sich bietenden Ausblick nicht ein. Der Umstand, dass der Aussichtsturm einen Abstand von ca. 30 m zum Garten der Antragsteller sowie ca. 40 m zum Wohnhaus der Antragsteller einhält, dürfte keine andere Beurteilung rechtfertigen, auch wenn, wie das Verwaltungsgericht ausführt, in Innenbereichslagen regelmäßig Einsichtmöglichkeiten aus wesentlich geringeren Entfernungen hinzunehmen sind (Beschlussausfertigung S. 8). Vom Turm aus sind trotz des Abstandes die Nutzer des Grundstücks der Antragsteller jedenfalls auf der Terrasse und im Garten gut wahrnehmbar, wie die eingereichten Fotos bestätigen, auf denen die Sitzgruppe auf der Terrasse deutlich erkennbar ist.

Angesichts der dargestellten Beeinträchtigungen der Antragsteller erscheint es dem Senat fern zu liegen, dass die mit der Errichtung des Aussichtsturms verfolgten Ziele, nämlich Interessierten zu ermöglichen, ihre Heimat und deren Umgebung zu studieren und dabei bauliche Veränderungen und regionalstrukturelle Entwicklungen optisch wahrzunehmen (Schriftsatz des Antragsgegners vom 21. Januar 2005), es rechtfertigen, die Interessen der Antragsteller hintanzustellen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1, Abs. 3 Satz 1, § 162 Abs. 3 VwGO. Der Beigeladenen waren die hälftigen Gerichtskosten des Verfahrens beider Rechtszüge aufzuerlegen, da sie in beiden Instanzen einen Antrag gestellt hat und mit diesem unterlegen ist. Bei dieser Sachlage entsprach es nicht der Billigkeit, die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen teilweise dem Antragsgegner aufzuerlegen. Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf § 13 Abs. 1 Satz 1, § 14 Abs. 1, § 20 Abs. 3 des Gerichtskostengesetzes (i. F.: GKG a.F.), das hier noch in der bis zum 30. Juni 2004 geltenden Fassung anzuwenden ist (vgl. § 72 Nr. 1 GKG i.d.F. des Art. 1 des Gesetzes zur Modernisierung des Kostenrechts vom 5. Mai 2004, BGBl. I S. 718). Der Senat folgt insoweit der Begründung des erstinstanzlichen Beschlusses.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 25 Abs. 3 Satz 2 GKG a.F.).

Ende der Entscheidung

Zurück