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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss verkündet am 14.03.2006
Aktenzeichen: OVG 10 S 7.05
Rechtsgebiete: BbgBO, VwGO


Vorschriften:

BbgBO § 6
BbgBO § 6 Abs. 2 Satz 3
BbgBO § 6 Abs. 4 Satz 3
BbgBO § 6 Abs. 5 Satz 1
BbgBO § 6 Abs. 5 Satz 2
BbgBO § 6 Abs. 12
BbgBO § 6 Abs. 12 Satz 1
BbgBO § 60
BbgBO § 60 Abs. 1 Satz 1
VwGO § 80 Abs. 7 Satz 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
OVG 10 S 7.05

In der Verwaltungsstreitsache

hat der 10. Senat durch den Vorsitzenden Richter am Oberverwaltungsgericht Krüger, die Richterin am Oberverwaltungsgericht Scheerhorn und die Richterin am Oberverwaltungsgericht Dr. Bumke am 14. März 2006 beschlossen:

Tenor:

Auf die Beschwerde der Änderungsantragsgegnerin wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Frankfurt (Oder) vom 2. September 2004 geändert. Die aufschiebende Wirkung der von der Änderungsantragsgegnerin erhobenen Klage (Az. 7 K 1739/04) gegen die dem Änderungsantragsteller erteilte Baugenehmigung vom 21. Oktober 2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 3. August 2004 wird angeordnet.

Der Änderungsantragsteller trägt die Kosten beider Rechtszüge.

Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 5.000,00 EUR festgesetzt.

Gründe:

I.

Die Änderungsantragsgegnerin (im Folgenden: Antragsgegnerin) ist Eigentümerin des Grundstücks Liebknechtstraße 31-33 in Beeskow, auf dem sie eine Einrichtung für betreutes Wohnen für Senioren betreibt. Der Änderungsantragsteller (im Folgenden: Antragsteller) ist Eigentümer des benachbarten Grundstücks Eugen-Richter-Straße, das mit einem dreigeschossigen, ehemals als Funktionseinheit Krankenhaus (Verwaltung, an den Wochenenden zur Notaufnahme, als Labor und Verbandszimmer) und Poliklinik genutzten Gebäude bebaut ist. Die dem Grundstück der Antragsgegnerin zugewandte, 7,85 m lange westliche Seitenwand des Gebäudes hat eine Wandhöhe von 10 m (so amtlicher Lageplan vom 15. September 2003) bzw. von 10,05 m (so amtlicher Lageplan vom 27. Juli 2004) und hält zu der gemeinsamen Grundstücksgrenze einen Abstand von 4,06 m ein.

Am 21. Oktober 2003 erteilte der weitere Beteiligte dem Antragsteller eine Baugenehmigung für den Umbau und eine Nutzungsänderung des Gebäudes zur Wohnstätte für chronisch Kranke - Betreutes Wohnen. Mit dieser Baugenehmigung wurde dem Antragsteller unter anderem gestattet, in Verlängerung der dem Grundstück der Antragsgegnerin zugewandten Wand in Richtung auf die Eugen-Richter-Straße einen zweigeschossigen Anbau mit einer Länge von 6 m und - unter Berücksichtigung der 1 m hohen Brüstung der darauf geplanten Dachterrasse - ausweislich des amtlichen Lageplans vom 15. September 2003 mit einer Höhe von 6,70 m sowie in Richtung auf den Garten eine 2,50 m breite, nach Angaben des weiteren Beteiligten 8,22 bzw. 8,42 m hohe, nach Angaben der Änderungsantragsgegnerin mindestens 9,40 m hohe Außentreppe zu errichten. Der Antragsgegnerin wurde der Bescheid nicht zugestellt. Am 1. Dezember 2003 begann der Antragsteller mit den Bauarbeiten.

Die Gesellschafter der Antragsgegnerin teilten dem weiteren Beteiligten mit Schreiben vom 5. April 2004 mit, dass in Verlängerung der dem Grundstück der Antragsgegnerin zugewandten Seitenwand der ehemaligen Poliklinik ein Anbau errichtet werde, und baten um Übersendung der Baugenehmigung. Mit Schreiben vom 3. Mai 2004 erhob die Antragsgegnerin Widerspruch gegen die Baugenehmigung und beantragte, einen Baustopp zu verhängen. Mit Bescheid vom 5. Mai 2004 lehnte der weitere Beteiligte den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ab. Die Antragsgegnerin stellte am 8. Juni 2004 beim Verwaltungsgericht einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs. Diesem Antrag gab das Verwaltungsgericht Frankfurt (Oder) mit Beschluss vom 28. Juni 2004 statt.

Mit am 22. Juli 2004 bei dem weiteren Beteiligten eingegangenem Antrag beantragte der Antragsteller die Erteilung einer Änderungsbaugenehmigung. Mit Widerspruchsbescheid vom 3. August 2004 änderte der weitere Beteiligte die Baugenehmigung zugleich in Bescheidung des Änderungsantrags des Antragstellers dahingehend, dass sämtliche Fenster an der westlichen Seitenwand des Bestandsgebäudes zu schließen und neue Fenster an der Nord- und Südseite des Gebäudes anzuordnen sind, im Erdgeschoss die Funktion zweier Räume getauscht wird, das Fußbodenniveau im Untergeschoss um 0,18 m angehoben und die Stahlaußentreppe um 90° vom Gebäude weggedreht wird, und wies den Widerspruch der Antragsgegnerin zurück. Am 23. August 2004 erhob die Antragsgegnerin gegen die Baugenehmigung in der Fassung des Widerspruchsbescheides Klage.

Bereits am 6. August 2004 hat der Antragsteller beim Verwaltungsgericht die Änderung des Beschlusses vom 28. Juni 2004 beantragt. Mit Beschluss vom 2. September 2004 hat das Verwaltungsgericht Frankfurt (Oder) seinen Beschluss vom 28. Juni 2004 geändert und den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs sowie der nachfolgenden Anfechtungsklage der Antragsgegnerin abgelehnt. Hiergegen wendet sich die Antragsgegnerin mit ihrer am 13. September 2004 beim Verwaltungsgericht eingegangenen Beschwerde, mit der sie sinngemäß beantragt,

unter Änderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Frankfurt (Oder) vom 2. September 2004 - 7 L 424/04 - den Antrag des Antragstellers auf Änderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Frankfurt (Oder) vom 28. Juni 2004 - 7 L 272/04 - mit der Maßgabe zurückzuweisen, dass die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage - 7 K 1739/04 - gegen die dem Antragsteller erteilte Baugenehmigung vom 21. Oktober 2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 3. August 2004 angeordnet wird.

Auf Antrag des Antragstellers hat der weitere Beteiligte ihm mit Bescheid vom 7. Dezember 2004 eine Abweichungsgenehmigung des Inhalts erteilt, dass abweichend von der Vorschrift des § 6 Abs. 5 Satz 1 BbgBO eine Abstandsfläche von 0,4 H für die dem Flurstück der Antragsgegnerin zugewandte Wand zugelassen wird. Mit Schreiben vom 14. Dezember 2004 hat die Antragsgegnerin hiergegen Widerspruch erhoben, über den, soweit ersichtlich, bislang nicht entschieden wurde.

II.

Die zulässige Beschwerde ist begründet.

1. Der Antrag des Antragstellers auf Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Frankfurt (Oder) vom 2. September 2004 ist allerdings entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin nicht unzulässig.

Insbesondere fehlt für diesen Antrag nicht etwa das Rechtsschutzbedürfnis. Das wäre der Fall, wenn der weitere Beteiligte mit dem Erlass des Widerspruchs- und Änderungsbescheides vom 3. August 2004 unter Aufhebung der Baugenehmigung vom 21. Oktober 2003 eine völlig neue Baugenehmigung erlassen hätte, die das Bauvorhaben eigenständig legalisieren würde. Denn dann wäre mit dem Wegfall der Grundverfügung auch die mit Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 28. Juni 2004 angeordnete aufschiebende Wirkung entfallen (vgl. OVG Schleswig, Beschluss vom 16. März 1993 - 1 M 8/93, Juris), der Antragsteller würde somit auch ohne Aufhebung des hier angegriffenen Beschlusses über eine sofort vollziehbare Baugenehmigung verfügen. So liegt der Fall hier indes nicht.

Die dem Antragsteller erteilte Baugenehmigung vom 21. Oktober 2003 ist durch den Bescheid vom 3. August 2004 nicht etwa aufgehoben und durch eine gänzlich neue Genehmigung ersetzt, sondern lediglich in einigen Punkten modifiziert worden. Der Bescheid vom 3. August 2004 führt ausdrücklich aus, dass die "Änderungsgenehmigung ... in Verbindung mit der Baugenehmigung Az.: 02235-03-22" gelte. Wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausführt (Beschlussausfertigung S. 3 f) sind auch die in dem Bescheid vom 3. August 2004 genehmigten Änderungen des genehmigten Bauvorhabens nicht derart weitreichend, dass ungeachtet des Verweises auf die Ausgangsgenehmigung ein anderes als das ursprüngliche Bauvorhaben genehmigt worden wäre. Die mit Bescheid vom 21. Oktober 2003 genehmigte Nutzung ist nicht geändert worden, die zwei Anbauten an das Gebäude sind in Lage und Kubatur unverändert geblieben und die umfassenden Um- und Ausbaumaßnahmen innerhalb des Gebäudes haben nur marginale Änderungen erfahren. Die Änderungsgenehmigung beinhaltet lediglich die Schließung von fünf Fensteröffnungen in der westlichen Seitenwand des Bestandsgebäudes und die Anordnung dreier neuer Fenster sowie die Öffnung eines vorhandenen, im Zuge der Bauarbeiten bereits geschlossenen Fensters, den Tausch der Funktion zweier Räume, die Anhebung des Fußbodenniveaus im Untergeschoss um 18 cm sowie die Drehung der Stahlaußentreppe um 90°.

Da nach alledem eine isolierte Ausnutzung der Änderungsgenehmigung nicht möglich ist, ist auch die mit Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 28. Juni 2004 angeordnete aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen die Baugenehmigung vom 21. Oktober 2003 nicht bereits mit Erlass des Widerspruchs- und Änderungsbescheides entfallen, sondern hat bis zur Änderung des Beschlusses vom 28. Juni 2004 durch die hier mit der Beschwerde angegriffene Entscheidung fortgedauert (vgl. OVG Bautzen, Beschluss vom 15. Juli 1999 - 1 S 308/99 -, NVwZ 2000, 582; OVG Saarlouis, Beschluss vom 23. August 1995 - 2 W 33/95 -, Juris; VGH München, Beschluss vom 29. Januar 2003 - 23 CS 02.3176 -, BayVBl 2003, 405; OVG Lüneburg, Beschluss vom 22. Juli 2003 - 7 ME 104/03 -, NVwZ-RR 2004, 170). Ein Rechtsschutzbedürfnis des Antragstellers für die Änderung des Beschlusses vom 28. Juni 2004 kann deshalb nicht in Abrede gestellt werden.

Der Erlass der Änderungsgenehmigung stellt bei dieser Sachlage, wie auch das Verwaltungsgericht ausführt (Beschlussausfertigung S. 3 f), eine Veränderung der Umstände i.S.d. § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO dar, so dass der Änderungsantrag statthaft ist (vgl. OVG Schleswig a.a.O.; OVG Saarlouis a.a.O; OVG Lüneburg, a.a.O.).

2. Soweit die Antragsgegnerin vorträgt, dass der Änderungsantrag als unbegründet abzuweisen sei, weil entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts ungeachtet des Widerspruchs- und Änderungsbescheides vom 3. August 2004 eine Neubewertung der durch das Bauvorhaben des Antragstellers einzuhaltenden Abstandsflächen - d.h. eine uneingeschränkte Beurteilung des gesamten Gebäudes anhand der einschlägigen abstandsflächenrechtlichen Vorschriften - erforderlich sei, die ergebe, dass - weiterhin - eine Verletzung dieser Vorschriften vorliege, rechtfertigen die mit der Beschwerde erhobenen Einwände allerdings eine Änderung des erstinstanzlichen Beschlusses (vgl. § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO).

Hierbei kann dahingestellt bleiben, ob - wie die Antragsgegnerin vorträgt - die mit der Baugenehmigung genehmigte Nutzungsänderung die Frage der Einhaltung der Abstandsflächenregelungen erneut aufwirft. Denn jedenfalls mit ihrem Vorbringen, dass im Hinblick auf die genehmigten Änderungen der Bausubstanz eine abstandsflächenrechtliche Neubewertung erforderlich ist, dringt die Antragsgegnerin durch.

a) Einer uneingeschränkten Anwendung der bauordnungsrechtlichen Vorschriften über die Abstandsflächen steht zunächst der mit dem zweiten Gesetz zur Änderung der Brandenburgischen Bauordnung vom 15. September 2005 (GVBl. I S. 242) eingefügte Absatz 12 des § 6 BbgBO nicht entgegen. Gemäß Satz 1 dieser Vorschrift sind die sich bei der Änderung rechtmäßig errichteter Gebäude ergebenden Abstandsflächen unbeachtlich, soweit die für den Gebäudebestand ermittelten Abstandsflächen nicht überschritten werden. Es spricht zwar einiges dafür, dass das Gebäude der ehemaligen Poliklinik rechtmäßig errichtet wurde, insbesondere zum Zeitpunkt seiner Errichtung nicht gegen abstandsflächenrechtliche Bestimmungen verstoßen hat (vgl. die von dem weiteren Beteiligten erstellte "Historie", wonach das nunmehr mit dem von der Antragsgegnerin betriebenen Seniorenwohnheim bebaute Grundstück ursprünglich Teil des Geländes war, auf dem bereits 1926/1927 das nunmehr vom Antragsteller umgebaute Haus II des ehemaligen Vereinskrankenhauses des Roten Kreuzes errichtet worden war; die Verletzung abstandsflächenrechtlicher Bestimmungen dürfte wohl erst im Zuge einer Grundstücksteilung entstanden sein). Dies kann indes dahingestellt bleiben, denn die Voraussetzungen des § 6 Abs. 12 Satz 1 BbgBO sind jedenfalls deshalb nicht erfüllt, weil die für den Gebäudebestand ermittelten Abstandsflächen durch die Erweiterung des Gebäudes auf der dem Grundstück der Antragsgegnerin zugewandten Seite um einen Anbau und eine Außentreppe überschritten werden.

Eine 'Überschreitung' der Abstandsflächen des Bestandsgebäudes im Sinne dieser Vorschrift ist stets zu bejahen, wenn die durch das geänderte Gebäude geworfenen Abstandsflächen größer sind als diejenigen, die das Bestandsgebäude ausgelöst hat, auch wenn die hinzutretenden Bauteile für sich genommen die Regelungen über die erforderlichen Abstandsflächen einhalten. Für diese Auslegung der Vorschrift spricht, dass mit der Einfügung des § 6 Abs. 12 BbgBO die abstandsrechtlichen Vorschriften dergestalt geändert werden sollten, dass die Änderung bestandsgeschützter Gebäude, die die erforderlichen Abstandsflächen auf dem eigenen Grundstück nicht einhalten, in den Fällen erleichtert wird, in denen sich durch die Änderung keine neuen nachteiligen Auswirkungen auf das Nachbargrundstück ergeben (vgl. Gesetzentwurf, LT-Drs. 4/1318 S.2; ebenso Jäde/Dirnberger/Reimus, Bauordnungsrecht Brandenburg, Kommentar, Stand November 2005, § 6 Rdnr. 23), der Nachbar also bauliche Änderungen hinzunehmen hat, wenn sie ihn nicht anders oder stärker belasten als der Gebäudebestand (vgl. Gesetzentwurf, a.a.O., S. 5). Auch eine für sich genommen den abstandsflächenrechtlichen Bestimmungen entsprechende bauliche Änderung kann aber die von einem materiell rechtswidrigen Bestandsgebäude ausgehenden nachteiligen Auswirkungen auf die durch die abstandsflächenrechtlichen Vorschriften geschützten Belange der Belichtung, Belüftung und Besonnung des Brandschutzes oder des Wohnfriedens verstärken, etwa den Lichteinfall weiter verringern oder weitere Einsichtsmöglichkeiten auf das Nachbargrundstück gewähren. Dieser Auslegung des § 6 Abs. 12 Satz 1 BbgBO kann nicht entgegengehalten werden, dass die Vorschrift so verstanden lediglich die bereits herrschende Auffassung in der Rechtsprechung aufgreifen und somit ihren Zweck verfehlen würde, Investitionen in bestandsgeschützte Gebäude zu erleichtern, die gegen abstandsflächenrechtliche Vorschriften verstoßen (vgl. Gesetzentwurf a.a.O. S. 2). Nach den in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen ist bei der baulichen Änderung eines Gebäudes dieses uneingeschränkt an den Abstandsflächenbestimmungen zu messen, wenn durch die Änderung des Gebäudes ein rechtswidriger Zustand herbeigeführt oder ein bestehender - materiell - rechtswidriger Zustand in abstandsflächenrechtlich relevanter Weise zu Lasten des Grundstücksnachbarn verstärkt wird (so OVG Berlin, Urteil vom 21. August 1992 - OVG 2 B 12.89 -, BRS 54 Nr. 93, vgl. auch VGH München, Urteil vom 20. Februar 1990 - 14 B 88.02464 -, BauR 1990, 455; OVG Greifswald, Beschluss vom 27. August 1998 - 3 M 65/98 -, BRS 60 Nr. 115), was auch dann der Fall sein kann, wenn - etwa durch den Einbau weiterer Fenster - keine weiteren Abstandsflächen geworfen werden. § 6 Abs. 12 Satz 1 BbgBauO schließt dem gegenüber eine erneute Prüfung der Abstandsflächen bereits dann aus, in denen durch eine bauliche Veränderung des Bestandsgebäudes keine weiteren Abstandsflächen geworfen werden.

Die von der westlichen Seitenwand des Gebäudes der ehemaligen Poliklinik geworfenen Abstandsflächen werden durch den Anbau sowie die Außentreppe vergrößert. Die Seitenwand enthielt vor ihrem Umbau Fenster zu Aufenthaltsräumen, hatte also auf einer Breite von 7,91 m (vgl. die eingereichten Bauvorlagen zum Gebäudebestand) mit einer Wandhöhe von 10,05 m (vgl. amtlichen Lageplan vom 27. Juli 2004) gemäß § 6 Abs. 5 Satz 1 BbgBO eine Abstandsfläche von 5,025 m Tiefe einzuhalten. Tatsächlich hält sie einen Abstand von 4,06 m Tiefe ein. Hinzu treten nunmehr die von dem Anbau mit einer Höhe von - unter Berücksichtigung der Brüstung der Dachterrasse - 6,51 m (vgl. amtlichen Lageplan vom 27. Juli 2004) auf einer Breite von 6 m einzuhaltende Abstandsfläche von 3,255 m Tiefe sowie die von der Außentreppe mit einer Höhe von 9,98 m plus 1 m Geländerhöhe (vgl. amtlichen Lageplan vom 27. Juli 2004) auf einer Breite von 7,20 m (vgl. Bauvorlage Nr. 2 - Grundriss EG -zum Bescheid vom 3. August 2004) einzuhaltende Abstandsfläche von 4,14 m bis 5,49 m Tiefe (vgl. amtlichen Lageplan vom 27. Juli 2004), die vollständig auf dem Grundstück des Antragstellers liegen. Im Hinblick auf den Umfang der durch Anbau und Außentreppe einzuhaltenden zusätzlichen Abstandsflächen von etwa 49 m² bedarf an dieser Stelle keiner weiteren Erörterung, ob - wie in dem Widerspruchsbescheid vom 3. August 2004 ausgeführt - die Seitenwand des Bestandsgebäudes nach Schließung der in ihr enthaltenen Fenster lediglich eine Abstandsfläche von 4,02 m Tiefe einzuhalten hat und ob im Rahmen des § 6 Abs. 12 BbgBO eine "Verrechnung" dieser Verringerung mit den hinzutretenden Abstandsflächen erfolgen kann. Entscheidend ist, dass die für den ursprünglichen Gebäudebestand ermittelten Abstandsflächen überschritten werden. Auf das Ausmaß der Überschreitung kommt es nicht an.

b) Da das Vorhaben nicht gemäß § 6 Abs. 12 BbgBO privilegiert ist, ist entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts wegen der baulichen Änderungen an dem Bestandsgebäude eine uneingeschränkte Beurteilung des gesamten Baukörpers einschließlich des Altbestandes anhand der abstandsflächenrechtlichen Regelungen erforderlich.

Eine derartige Neubeurteilung ist, wie das Verwaltungsgericht insofern zutreffend dargelegt hat (Beschlussausfertigung S. 8), bei der baulichen Änderung eines Gebäudes dann erforderlich, wenn durch die Änderung des Gebäudes ein rechtswidriger Zustand herbeigeführt oder ein bestehender - materiell - rechtswidriger Zustand in abstandsflächenrechtlich relevanter Weise zu Lasten des Grundstücksnachbarn verstärkt wird (so OVG Berlin, Urteil vom 21. August 1992 - OVG 2 B 12.89 -, BRS 54 Nr. 93, vgl. auch VGH München, Urteil vom 20. Februar 1990 - 14 B 88.02464 -, BauR 1990, 455; OVG Greifswald, Beschluss vom 27. August 1998 - 3 M 65/98 -, BRS 60 Nr. 115).

Der hinsichtlich des Bestandsgebäudes bestehende rechtswidrige Zustand (vgl. vorstehend) dauert ungeachtet der Schließung der in der westlichen Seitenwand des Bestandsgebäudes vorhandenen Fenster an. Wie das Verwaltungsgericht (Beschlussausfertigung S. 6 f) und auch die Antragsgegnerin zutreffend ausgeführt haben, hat dieser Teil der neuen westlichen Seitenwand trotz der Schließung der in ihm befindlichen Fenster nicht gemäß § 6 Abs. 5 Satz 2 BbgBO lediglich eine Abstandsfläche von 0,4 H einzuhalten, da die Außenwand im Bereich des Anbaus nach wie vor über Fenster zu Aufenthaltsräumen verfügt. Unter Außenwänden im Sinne dieser Vorschrift sind entgegen der Auffassung des weiteren Beteiligten nicht lediglich einzelne Wandabschnitte im Sinne des § 6 Abs. 4 Satz 3 BbgBO zu verstehen, sondern es ist die gesamte Wand in den Blick zu nehmen. Die Seitenwand des Bestandsgebäudes hat somit gemäß § 6 Abs. 5 Satz 1 BbgBO mit einer Wandhöhe (vgl. § 6 Abs. 4 Satz 1 und 2 BbgBO) von 10,05 m (vgl. amtlichen Lageplan vom 27. Juli 2004) weiterhin eine Abstandsfläche von 5,025 m einzuhalten, ist aber tatsächlich nur in einem Abstand von 4,06 m zur Grundstücksgrenze errichtet.

Durch die baulichen Änderungen wird der bestehende rechtswidrige Zustand auch verstärkt. Hierbei ist nicht von Belang, ob - wie vorliegend - die neu errichteten Anbauten für sich betrachtet die abstandsflächenrechtlichen Vorschriften einhalten (vgl. OVG Berlin a.a.O.; VGH München a.a.O.). Mit der Errichtung des Anbaus und der Außentreppe entsteht eine neue, einheitliche Außenwand, die nahezu dreimal so lang ist wie die bisherige. Dass eine derartige Verlängerung der Wand deren Auswirkungen auf das Grundstück verstärkt, steht außer Frage. Eine Wand mit einer Länge von ca. 21 m hat schon optisch eine massigere Wirkung als eine solche mit einer Länge von ca. 7,90 m, auch wenn diese Wand sowohl in der Höhe gestaffelt als auch teilweise zurückversetzt ist. Darüber hinaus hat das Verwaltungsgericht selbst dargelegt, dass die verlängerte Außenwand zumindest eine geringfügige Betroffenheit des Nachbargrundstücks im Hinblick auf die Belange der Belichtung und Besonnung auslöst (Beschlussausfertigung S. 10) und der neu errichtete Anbau jedenfalls wegen der darin enthaltenen Fenster zu Aufenthaltsräumen und der darauf befindlichen Dachterrasse eine weitergehende Belastung des Nachbargrundstücks hinsichtlich des Sozialabstandes verursacht (Beschlussausfertigung S. 9 unten). Bei dieser Sachlage kann es entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht darauf ankommen, ob diese Nachteile durch die Schließung von Fenstern zu Aufenthaltsräumen in der westlichen Seitenwand des Bestandsgebäudes aufgewogen werden und deshalb bei einer "saldierenden" Betrachtung keine Verschlechterung der Situation auf dem Grundstück der Antragsgegnerin festzustellen ist. Insoweit verkennt das Verwaltungsgericht, dass der Grund dafür, dass bei der baulichen Veränderung eines bestehenden Gebäudes unter Umständen die Einhaltung der Abstandsflächen durch das Bestandsgebäude nicht erneut geprüft wird, darin liegt, dass sich der Eigentümer insoweit auf Bestandsschutz berufen kann. Der Bestandsschutz sichert bauliche Anlagen gegenüber Änderungen der Baurechtsordnung und erstreckt sich dabei auf den genehmigten Bestand und die genehmigte Funktion. Er erfasst jedoch Bestandsänderungen grundsätzlich nicht, weil diese über den genehmigten Zustand hinausgreifen und ein solches Hinausgreifen von den die Eigentümerstellung regelnden Bauvorschriften nicht gedeckt ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 15. Dezember 1995 - 1 BvR 1713/92 - BRS 57 Nr. 246). Daraus folgt, dass der Nachbar zwar die von dem Bestandsgebäude ausgehenden Belastungen hinzunehmen hat, nicht aber solche Beeinträchtigungen, die erst durch die Änderung des genehmigten Bestandes entstehen, unabhängig davon, ob diese Beeinträchtigungen durch Verbesserungen an anderer Stelle aufgewogen werden.

c) Die Baugenehmigung erweit sich auch nicht etwa deshalb als rechtmäßig, weil der weitere Beteiligte mit Bescheid vom 7. Dezember 2004 eine Abweichung von der Vorschrift des § 6 Abs. 5 Satz 1 BbgBO zugelassen hat. Hierbei kann dahingestellt bleiben, ob die Zulassung einer Abweichung von den Bestimmungen über die erforderlichen Abstandsflächen bereits durch die Regelung des § 6 Abs. 2 Satz 3 BbgBO ausgeschlossen ist, die eine in ihren Abmessungen im Einzelnen definierte geringfügige - hier überschrittene - Erstreckung von Abstandsflächen auf das Nachbargrundstück für zulässig erklärt (vgl. Knuth, Die Brandenburgische Bauordnung auf neuen Wegen, LKV 2004, 193; vgl. auch Dhom, in: Simon/Busse, Bayerische Bauordnung, Kommentar, Stand Dezember 2005, Art. 70 Rdnr. 20), denn der Bescheid erweist sich bei summarischer Prüfung aus anderen Gründen als rechtswidrig. Gemäß § 60 Abs. 1 Satz 1 BbgBO kann die Bauaufsichtsbehörde auf Antrag Abweichungen von Anforderungen unter anderem dieses Gesetzes zulassen, wenn die Abweichungen dem Schutzziel der jeweiligen Anforderung in gleicher Weise entsprechen (Nr. 1), die öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Interessen nicht beeinträchtigen (Nr. 2) und mit den öffentlichen Belangen vereinbar sind (Nr. 3).

Schon die Voraussetzungen für die Erteilung einer Abweichungsgenehmigung liegen nicht vor. So erscheint bereits fraglich, ob die genehmigte Abweichung insbesondere im Hinblick auf den durch die abstandsflächenrechtlichen Regelungen geschützten Wohnfrieden dem Schutzziel der Vorschrift des § 6 Abs. 5 Satz 1 BbgBO in gleicher Weise entspricht.

Jedenfalls sind aber die öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Interessen der Antragsgegnerin beeinträchtigt. Die Feststellung der Beeinträchtigung erfordert eine auf den konkreten Einzelfall bezogene Interessen- und Güterabwägung, insbesondere unter dem Gesichtspunkt der konkret situationsbezogenen Zumutbarkeit. So werden danach nachbarliche Interessen durch eine Abweichung dann nicht beeinträchtigt, wenn durch diese der Nachbar faktisch nicht spürbar nachteilig berührt wird (Jäde in: Jäde/Dinberger/Reimus, Bauordnungsrecht Brandenburg, Stand November 2005, § 60 Rdnr. 19). Eine Rechtsverletzung des Nachbarn ist jedoch bei einer Unterschreitung der Abstandsflächen stets zu bejahen, ohne dass es darauf ankäme, dass eine tatsächliche Beeinträchtigung vorliegt. Die Regelungen über die Abstandsflächen sind drittschützend. Zwar spricht vieles dafür, dass der hier vorliegenden Beeinträchtigung kein großes Gewicht beizumessen ist, weil bereits das Bestandsgebäude abstandsrechtliche Bestimmungen verletzt hat, die von diesem ausgehenden Beeinträchtigungen durch Schließung von Fenstern gemildert wurde und die von Anbau und Außentreppe ausgehenden Beeinträchtigungen, wie das Verwaltungsgericht ausführt, bei isolierter Betrachtung von der Antragsgegnerin hinzunehmen wären. Allerdings sind bei der Zulassung von Abweichungen von unmittelbar nachbarschützenden Vorschriften - wie denjenigen über die Abstandsflächen - auch Standort- und Planungsalternativen zu berücksichtigen, die eine Ausführung des Vorhabens ohne oder mit einer geringeren Beeinträchtigung der nachbarlichen Interessen ermöglichen; bestehen solche Möglichkeiten, kommt die Zulassung einer Abweichung jedenfalls dann nicht in Betracht, wenn sich dies durch vergleichsweise geringfügige, dem Bauherrn zumutbare Modifikationen seines Vorhabens erreichen lässt (Jäde a.a.O. Rdnr. 21). So liegt der Fall hier. Hätte der Antragsteller sein Vorhaben etwa dahingehend anders geplant, dass auch in dem Anbau an die westlichen Seitenwand keine Fenster enthalten wären sowie entweder keine Dachterrasse vorgesehen oder diese zumindest mit einer Sichtblende in Richtung auf das Grundstück der Antragsgegnerin versehen wäre, hätte die gesamte Außenwand gemäß § 6 Abs. 5 Satz 2 BbgBO lediglich eine Abstandsfläche von 0,4 H einzuhalten; das Bauvorhaben würde die erforderlichen Abstände einhalten. Es ist auch nicht ersichtlich, dass eine derartige Modifikation dem Antragsteller nicht zumutbar wäre. Bei dieser Sachlage kommt die Zulassung einer Abweichung nicht in Betracht. § 60 BbgBO ist kein Instrument zur Legalisierung von Abstandsflächenverletzungen (vgl. OVG Münster, Beschluss vom 22. April 2004 - 10 B 828/04 -, Juris). Da nach alledem davon auszugehen ist, dass die Klage der Antragsgegnerin gegen die dem Antragsteller erteilte Baugenehmigung erfolgreich sein wird, weil die Baugenehmigung wegen Verletzung der abstandsrechtlichen Bestimmungen rechtswidrig ist und auch keine sonstigen Gründe ersichtlich sind, die ein überwiegendes Interesse des Antragstellers an der Vollziehung der Baugenehmigung rechtfertigen könnten, überwiegt das Interesse der Antragsgegnerin, von einer - weiteren - Vollziehung der Baugenehmigung verschont zu bleiben.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 3 Nr. 2 i.V.m. § 52 Abs. 1, § 47 Abs. 1 des Gerichtskostengesetzes - GKG -. Der Senat folgt insoweit der Begründung des erstinstanzlichen Beschlusses.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).

Ende der Entscheidung

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