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Gericht: Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg
Urteil verkündet am 25.04.2007
Aktenzeichen: OVG 12 B 2.05
Rechtsgebiete: AufenthG


Vorschriften:

AufenthG § 32 Abs. 3

Entscheidung wurde am 30.11.2007 korrigiert: Die Rechtsgebiete und die Vorschriften wurden geändert, Stichworte, Sachgebiete und ein amtlicher Leitsatz wurden hinzugefügt.
1. § 32 Abs. 3 AufenthG enthält eine planwidrige Regelungslücke, wenn der Kindernachzug nur deshalb ausgeschlossen ist, weil das anzuwendende Heimatrecht des nachzugswilligen Kindes keine vollständige Sorgerechtsübertragung auf den im Bundesgebiet lebenden Elternteil zulässt.

2. In diesen Fällen ist § 32 Abs. 3 AufenthG analog anwendbar.


OBERVERWALTUNGSGERICHT BERLIN-BRANDENBURG IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

OVG 12 B 2.05

In der Verwaltungsstreitsache

hat der 12. Senat auf die mündliche Verhandlung vom 25. April 2007 durch für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 7. April 2005 aufgehoben. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides der Deutschen Botschaft in Skopje vom 23. Mai 2003 verpflichtet, der Klägerin ein Visum zur Familienzusammenführung mit ihrem Vater zu erteilen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst trägt.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung abwenden, wenn nicht die Beklagte zuvor in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die am 15. April 1987 geborene Klägerin, mazedonische Staatsangehörige, begehrt ein Visum zur Familienzusammenführung mit ihrem im Bundesgebiet lebenden Vater. Dieser hatte im Dezember 2001 eine deutsche Staatsangehörige geheiratet und eine befristete Aufenthaltserlaubnis erhalten. Im Dezember 2004 wurde ihm eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erteilt. Die Ehe mit der deutschen Staatsangehörigen ist inzwischen geschieden, und der Vater der Klägerin hat im August 2006 seine frühere mazedonische Ehefrau, die Mutter der Klägerin, erneut geheiratet. In dem von dieser betriebenen Visumsverfahren zur Familienzusammenführung mit ihrem Ehemann hat die Beklagte bislang noch keine Entscheidung getroffen.

Mitte 2002 stellte die Klägerin bei der Botschaft der Beklagten in Skopje einen Visumsantrag zur Familienzusammenführung mit ihrem Vater, weil ihre Betreuung in Mazedonien nicht mehr gesichert sei. Das Sorgerecht, das nach der Scheidung der Eltern zunächst ihre Mutter innegehabt habe, sei am 9. Mai 2002 durch das Amtsgericht Delcevo auf den Vater übertragen worden. Mit Bescheid vom 23. Mai 2003 lehnte die Deutsche Botschaft in Skopje den Visumsantrag ab, nachdem die Beigeladene ihre Zustimmung versagt hatte. Eine Aufenthaltserlaubnis nach § 20 Abs. 3 Satz 1 AuslG komme nicht in Betracht, weil das der Beklagten zustehende Ermessen zu Lasten der Klägerin ausgeübt werde.

Mit ihrer hiergegen erhobenen Klage hat die Klägerin geltend gemacht, dass sich ihre Betreuungssituation weiter verschlechtert habe. Nach Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes hat die Beklagte einen Anspruch der Klägerin auf Familienzusammenführung gemäß § 32 Abs. 3 AufenthG verneint, weil diese Vorschrift im Hinblick auf das Alter der Klägerin nicht anwendbar sei. Im Übrigen lägen die Tatbestandsvoraussetzungen auch deshalb nicht vor, weil die Übertragung des Sorgerechts auf nur einen Elternteil nach mazedonischem Recht nicht möglich sei. Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit Urteil vom 7. April 2005 abgewiesen. Die Beklagte habe die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 20 Abs. 3 Satz 1 AuslG ermessensfehlerfrei versagt. Der geltend gemachte Anspruch lasse sich auch nicht auf § 20 Abs. 4 AuslG stützen. Das Aufenthaltsgesetz vermittle der Klägerin keine günstigere Rechtsstellung (§ 104 Abs. 3 AufenthG). § 32 Abs. 3 AufenthG sei nicht anwendbar, weil die Klägerin das 16. Lebensjahr bereits vor Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes zum 1. Januar 2005 vollendet habe.

Mit der von dem Verwaltungsgericht im Hinblick auf die Anwendbarkeit von § 104 Abs. 3 AufenthG zugelassenen Berufung machte die Klägerin geltend, dass ihr ein Anspruch auf Erteilung eines Visums gemäß § 32 Abs. 3 AufenthG zustehe. Die Behauptung der Beklagten, wonach das mazedonische Recht eine Sorgerechtsübertragung auf nur einen Elternteil nicht kenne, treffe nicht zu. Gemäß Art. 80 des mazedonischen Familiengesetzes Nr. 4828 vom 15. Dezember 1992 entscheide das Gericht mit dem Scheidungsurteil über Obhut, Erziehung und Unterhalt der gemeinsamen Kinder. Auf Antrag ändere es die Sorgerechtsentscheidung, sofern die veränderten Umstände dies - wie hier - erforderten. Diese Rechtslage werde auch durch das von der Beklagten in das Verfahren eingeführte Gutachten des Max-Planck-Institutes für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg vom 18. Juli 2005 bestätigt. Entgegen der Auffassung der Beklagten stelle das Gutachten nicht nur auf serbisches Recht ab, sondern würdige ausdrücklich auch mazedonisches Recht. Es habe serbisches Recht lediglich bei der Auslegung herangezogen, weil es historisch um denselben Rechtskreis gehe. Anders als das deutsche Recht unterscheide das mazedonische Recht nicht zwischen Sorge- und Umgangsrecht, sondern fasse alle Rechte und Pflichten unter dem Begriff "elterliches Recht" bzw. "Elternrecht" zusammen. Im Übrigen stehe der Klägerin auch ein Anspruch nach § 32 Abs. 2 AufenthG zu, weil sie - wie ihre Schulzeugnisse belegten - die deutsche Sprache sehr gut beherrsche.

Die Klägerin hat im Berufungsverfahren sowohl zu den aktuellen wirtschaftlichen Verhältnissen ihres Vaters als auch zu dessen Einkommenssituation im April 2003 verschiedene Nachweise erbracht.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 7. April 2005 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides der Deutschen Botschaft in Skopje vom 23. Mai 2003 zu verpflichten, der Klägerin ein Visum zur Familienzusammenführung mit ihrem Vater zu erteilen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie ist der Ansicht, dass der Vater der inzwischen volljährigen Klägerin entgegen § 32 Abs. 3 AufenthG nicht die alleinige Personensorge innegehabt habe. Ihm sei die Klägerin lediglich zur Obhut, Erziehung und zur Leistung des Unterhaltes anvertraut gewesen. Andere Aspekte wie z.B. die die Ausbildung betreffenden Entscheidungen und das Aufenthaltsbestimmungsrecht würden von der Sorgerechtsentscheidung nicht berührt und stünden Vater und Mutter weiterhin gemeinsam zu. Es handele sich daher um eine dem § 1687 BGB vergleichbare Regelung. Das mazedonische Familienrecht sehe eine vollständige Übertragung des Sorgerechts auf einen Elternteil nur in Ausnahmefällen vor. Dies ergebe sich auch aus einem in das Verfahren eingeführten Vermerk eines Mitarbeiters der Botschaft in Skopje vom 4. März 2005. Das Gutachten des Max-Planck-Instituts vom 18. Juli 2005 lege mit nicht nachvollziehbarer Begründung serbisches Recht zugrunde, ohne mazedonisches Recht zu würdigen. Komme folglich eine Besserstellung der Klägerin im Sinne von § 104 Abs. 3 AufenthG nicht in Betracht, richtet sich der Familiennachzug nach § 20 Abs. 2 bis 4 AuslG. Die Voraussetzungen dieser Vorschriften seien jedoch - wie das Verwaltungsgericht in dem angegriffenen Urteil zutreffend dargelegt habe - nicht erfüllt.

Die Beigeladene, die keinen Antrag gestellt hat, schließt sich der Auffassung der Beklagten an.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Streitakte und die von der Beklagten und der Beigeladenen vorgelegten Verwaltungsvorgänge Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung hat Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Der versagende Bescheid der Beklagten vom 23. Mai 2003 ist rechtswidrig, denn die Klägerin hat einen Anspruch auf Erteilung eines Visums zur Familienzusammenführung mit ihrem Vater, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.

Die begehrte Visumserteilung richtet sich nach §§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1, 6 Abs. 4 Satz 2 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz - AufenthG) vom 30. Juli 2004 (BGBl. I S. 1950), zuletzt geändert durch Art. 2 des Gesetzes zur Anpassung von Rechtsvorschriften des Bundes infolge des Beitritts der Republik Bulgarien und Rumäniens zur Europäischen Union vom 7. Dezember 2006 (BGBl. I S. 2814) in Verbindung mit § 32 Abs. 3 AufenthG. Diese Vorschrift ist hier gemäß § 104 Abs. 3 AufenthG anwendbar (vgl. dazu OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 18. August 2005 - OVG 7 B 24.05 -, juris), weil sie der Klägerin eine günstigere Rechtsstellung vermittelt als § 20 des Gesetzes über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern im Bundesgebiet (Ausländergesetz - AuslG) vom 9. Juli 1990 (BGBl. S. 1354), aufgehoben durch das Aufenthaltsgesetz vom 30. Juli 2004 (BGBl. I S. 1950). Nach § 32 Abs. 3 AufenthG ist dem minderjährigen ledigen Kind eines Ausländers, welches das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn beide Eltern oder der allein personensorgeberechtigte Elternteil eine Aufenthaltserlaubnis oder Niederlassungserlaubnis besitzen.

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist bei Verpflichtungsklagen auf Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung grundsätzlich insoweit auf die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz abzustellen, als es um die Frage geht, ob schon aus Rechtsgründen eine Erlaubnis erteilt oder versagt werden muss (vgl. u.a. BVerwGE 97, 301, 310; 114, 9, 12 f.). Daher kann die auf Erteilung eines Visums gerichtete Verpflichtungsklage nur Erfolg haben, wenn die allgemeinen Voraussetzungen des Familiennachzugs (§ 29 AufenthG) wie auch die sonstigen Regelerteilungsvoraussetzungen (§ 5 AufenthG) zu diesem Zeitpunkt gegeben sind. In der Rechtsprechung ist jedoch weiter geklärt, dass für die Einhaltung der in § 32 Abs. 3 AufenthG festgelegten Altersgrenze der Zeitpunkt der Antragstellung maßgeblich ist, weil anderenfalls der damit verfolgte Zweck, Kindern unter 16 Jahren die Herstellung der Familieneinheit im Bundesgebiet zu ermöglichen, vielfach aufgrund Zeitablaufs entfiele. Im Hinblick auf diese gesetzliche Zielsetzung müssen die für die Erteilung der Erlaubnis erforderlichen weiteren tatbestandlichen Voraussetzungen (§§ 29, 5 AufenthG) mithin nicht nur zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung, sondern bereits bei Vollendung des 16. Lebensjahres gegeben sein (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 18. August 2005 - OVG 7 B 24.05 -, juris; BVerwG NVwZ-RR 1998, 517, 518 zu § 20 Abs. 3 Satz 1 AuslG; BVerwG NVwZ-RR 1998, 677 zu § 23 Abs. 1 Nr. 2 AuslG). Dies bedeutet hier, dass der Vater der Klägerin, die das Visum im Alter von 15 Jahren rechtzeitig beantragt hat und inzwischen 20 Jahre alt ist, bei Vollendung ihres 16. Lebensjahres bis zum Eintritt der Volljährigkeit personensorgeberechtigt sein musste. Ferner muss eine ausreichende wirtschaftliche Existenzgrundlage sowohl bei Vollendung des 16. Lebensjahres der Klägerin als auch im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung bestanden haben bzw. bestehen.

I. Alleiniges Personensorgerecht setzt im Hinblick auf den Wortlaut des § 32 Abs. 3 AufenthG voraus, dass die ausländische Sorgerechtsentscheidung den im Ausland lebenden Elternteil von der Personensorge für das Kind ausschließt. Die Frage, ob der im Bundesgebiet lebende Elternteil des nachzugswilligen Kindes allein personensorgeberechtigt im Sinne von § 32 Abs. 3 AufenthG ist, beurteilt sich gemäß Art. 21 EGBGB nach dem Recht des Staates, in dem das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, weil das Rechtsverhältnis zwischen einem Kind und seinen Eltern diesem Recht unterliegt.

Gemessen daran sind die Voraussetzungen für die Erteilung des begehrten Visums hier selbst dann erfüllt, wenn das Personensorgerecht für die Klägerin bis zur Vollendung ihres 16. Lebensjahres nicht vollständig auf ihren im Bundesgebiet lebenden Vater übertragen werden konnte, weil dem mazedonischen Recht die Ausübung der Personensorge durch nur einen Elternteil grundsätzlich fremd ist. In derartigen Fällen besteht eine planwidrige Regelungslücke, die durch eine analoge Anwendung des § 32 Abs. 3 AufenthG zu schließen ist.

1. Es spricht einiges dafür, dass der Vater der Klägerin nach dem mazedonischen Familiengesetz Nr. 4828 vom 15. Dezember 1992 in der hier maßgeblichen Fassung vom 8. Februar 1996 - FamG - (abgedruckt bei Bergmann/Ferid/Henrich, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, Länderteil Mazedonien, 132. Lieferung 1998, S. 34 ff.) trotz der durch gerichtlichen Vergleich erfolgten Sorgerechtsübertragung nicht einem personensorgeberechtigten Elternteil im Sinne von § 1631 BGB gleichzustellen war. Gemäß § 1631 BGB umfasst die tatsächliche Sorge für die Person insbesondere die Pflicht und das Recht, das Kind zu pflegen, zu erziehen, zu beaufsichtigen sowie seinen Aufenthalt zu bestimmen. Hierzu gehören z.B. die Schulwahl, die ärztliche Versorgung und die Einwilligung in Operationen, die Berufswahl und die Freizeitgestaltung (vgl. Michalski, in: Erman, BGB, 11. Auflage, Band II, § 1626 Rn. 15).

Dem vor dem Amtsgericht Delcevo am 9. Mai 2002 geschlossenen Vergleich zufolge ist die Klägerin an Stelle der Mutter, die die "Obhut und Erziehung" aufgrund des Scheidungsurteils innehatte, ihrem Vater zur "Obhut und Erziehung" anvertraut worden. Dass diese Vereinbarung nicht anzuerkennen wäre, ist weder geltend gemacht noch ersichtlich. Sie entspricht Art. 80 Abs. 4 FamG, wonach das Gericht die frühere Sorgerechtsentscheidung auf Antrag eines geschiedenen Ehepartners oder des Zentrums für Sozialarbeit bezüglich der Obhut und der Erziehung der Kinder und bezüglich der Beziehungen der geschiedenen Ehepartner zu ihren gemeinsamen Kindern ändern kann, sofern die veränderten Umstände dies erfordern.

Allerdings legt ein Vergleich mit weiteren Vorschriften des mazedonischen Familiengesetzes zum Umfang des elterlichen Rechtes, das grundsätzlich beiden Eltern zusteht (Art. 45 und Art. 76), nahe, dass sich das elterliche Recht nicht nur auf die dem Vater der Klägerin übertragene "Obhut und Erziehung" erstreckt. So werden z.B. in Art. 8 Abs. 2 und Art. 46 FamG als Rechte und Pflichten der Eltern neben der Obhut und Erziehung auch ausdrücklich die Sorge für Bildung bzw. die Sorge für Schulbildung und Ausbildung angeführt. Daraus ließe sich der Schluss ziehen, dass es sich bei (Aus-)bildungsangelegenheiten um einen eigenständigen Bestandteil des Elternrechts handelt, der nach mazedonischem Familienrecht - anders als bei der Übertragung der Personensorge im Sinne von § 1631 BGB - grundsätzlich stets bei beiden Elternteilen verbleibt. Ein Elternteil übt das elterliche Recht lediglich dann (allein) aus, wenn der andere Elternteil gestorben oder unbekannt ist, ihm das elterliche Recht entzogen wurde oder er aus anderen Gründen verhindert ist, das elterliche Recht auszuüben. Die Entziehung des elterlichen Rechts setzt wiederum voraus, dass ein Elternteil die Ausübung des elterlichen Rechts missbraucht oder die Ausübung des elterlichen Rechts grob vernachlässigt (Art. 90 FamG).

Ebenso wenig lässt das mazedonische Familiengesetz eindeutig erkennen, wer nach der Übertragung von Obhut und Erziehung über den Aufenthalt und Umgang des Kindes zu bestimmen hat. Beides stellt nach deutschem Recht (§§ 1631 Abs. 1, 1633 BGB) neben der Pflege und Erziehung einen (weiteren) wesentlichen Bestandteil der Personensorge dar. Gleichermaßen unklar bleibt die Vertretungsregelung bei getrennt lebenden Eltern. Für diesen Fall sieht Art. 49 FamG lediglich vor, dass Urkunden und Mitteilungen über die minderjährigen Kinder vollgültig an den Elternteil geschickt werden können, bei dem das Kind lebt.

Angesichts dieses Befundes ist das von der Beklagten vorgelegte Gutachten des Max-Planck-Instituts (MPI) vom 18. Juli 2005, das eine weitgehende Identität zwischen der Personensorge nach dem BGB und nach dem mazedonischen Familiengesetz annimmt, nicht hinreichend überzeugend. Es basiert weitgehend auf Vermutungen und lässt vor allem nicht erkennen, dass die aktuelle mazedonische Rechtspraxis einbezogen wurde. Soweit das Gutachten wegen gemeinsamer Wurzeln das Recht Jugoslawiens und der jugoslawischen Nachfolgestaaten für maßgeblich hält, zeigt es nicht konkret auf, wie die Gesetzeslage und die Rechtspraxis in diesen Staaten sind.

Abgesehen davon sprechen die jugoslawische bzw. die serbische Gesetzeslage eher gegen die Auffassung des Gutachtens, wonach "jugoslawische" Personensorge und deutsche Personensorge identisch seien. Das (inzwischen außer Kraft getretene) serbische Gesetz über die Ehe und die Familienbeziehungen vom 22. April 1984 in der Fassung vom 30. Mai 1994 (abgedruckt bei Bergmann/Ferid, 136. Lieferung, Jugoslawien) bestimmte zwar, dass bei einem Getrenntleben oder einer Scheidung der Eltern derjenige Elternteil das Elternrecht selbständig ausübte, dem das Kind zur Obhut und Erziehung anvertraut worden war (Art. 124 Abs. 3). In diesem Fall entschieden jedoch beide Eltern weiterhin einvernehmlich über Fragen, die für die Entwicklung des Kindes von wesentlicher Bedeutung waren, wenn der Elternteil, der das Elternrecht nicht ausübte, seine Pflichten gegenüber dem Kind erfüllte (Art. 126). Das derzeit gültige Familiengesetz der Republik Serbien vom 24. Februar 2005 (abgedruckt bei Bergman/Ferid, 169. Lieferung, Serbien) enthält zu dem Recht auf Mitentscheidung desjenigen Elternteils, der das Elternrecht nicht ausübt, vergleichbare Regelungen, die zudem konkretisiert worden sind. So nennt Art. 78 Abs. 4 als Fragen, die das Leben des Kindes wesentlich betreffen und daher auch bei alleiniger Ausübung des Elternrechts eine gemeinsame Entscheidung beider Eltern verlangen (Art. 78 Abs. 3), "insbesondere die Ausbildung des Kindes, die Vornahme größerer medizinischer Eingriffe beim Kind, die Änderung des Wohnortes des Kindes und die Verfügung über das Kindesvermögen von größerem Wert." Das Recht auf Mitentscheidung kann - ebenso wie das Recht auf Unterhaltung persönlicher Beziehungen - entzogen werden (Art. 82 Abs. 4).

2. Letztlich braucht der Senat die Frage nach der Übertragung alleiniger Personensorge im mazedonischen Recht nicht abschließend zu klären. Selbst wenn man im vorliegenden Fall ein alleiniges Personensorgerecht des Vaters der Klägerin aus im mazedonischen Recht liegenden Gründen verneint, ist § 32 Abs. 3 AufenthG jedenfalls entsprechend anwendbar.

a) Es stellt eine vom Gesetzgeber des Aufenthaltsgesetzes weder gesehene noch gewollte Reglungslücke dar, alle einem bestimmten Staat angehörenden Kinder von einem Anspruch auf Nachzug zu einem im Bundesgebiet lebenden Elternteil auszuschließen, wenn dies allein darauf beruht, dass das Heimatrecht des Kindes nur eine partielle und keine vollständige Sorgerechtsübertragung auf einen Elternteil kennt. Das Gesetzgebungsverfahren zum Aufenthaltsgesetz legt nahe, dass sich der Bundesgesetzgeber bei der Formulierung in § 32 Abs. 3 AufenthG von der deutschen Rechtslage hat leiten lassen, wonach das Personensorgerecht für ein minderjähriges Kind vollständig auf einen Elternteil übertragen werden kann, während dem anderen Elternteil in der Regel lediglich ein Umgangsrecht zusteht. Dass er damit ganze Nationen, die eine vergleichbare Sorgerechtsregelung nicht kennen, von einem Anspruch auf Kindernachzug ausschließt, hat er offensichtlich nicht in Erwägung gezogen und daher auch keine Regelung geschaffen, die die Interessenlage der ausgeschlossenen Kinder angemessen berücksichtigt (vgl. den Entwurf eines Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthaltes und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern, BT-Drucks. 15/420, S. 83). Falls diese Regelungslücke nicht geschlossen würde, käme ein Anspruch auf Kindernachzug in Fällen wie dem vorliegenden nur dann in Betracht, wenn dem im Ausland verbliebenen Elternteil das (restliche) Personensorgerecht wegen eines gravierenden Fehlverhaltens entzogen würde.

Im Übrigen zeigen auch die den Regelungsbereich des § 32 AufenthG erweiternden vorläufigen Anwendungshinweise des Bundesministeriums des Innern vom 22. Dezember 2004 zu § 32 (Ziffer 32.0.2), dass eine generelle Benachteiligung aller Kinder aus Staaten wie dem Heimatstaat der Klägerin nicht beabsichtigt war. Den Anwendungshinweisen zufolge muss der hier lebende Elternteil ausnahmsweise dann nicht sorgeberechtigt sein, wenn die Sorgerechtsübertragung insbesondere wegen der Rechtsordnung des Herkunftsstaates aussichtslos erscheint (anders hingegen im Hinblick auf den Wortlaut des Gesetzes Hailbronner, Kommentar zum Ausländerrecht, § 32 AufenthG, Rn. 10, und A. 32.0 der vorläufigen Anwendungshinweise der Ausländerbehörde Berlin vom 7. März 2007, wonach ein Anspruch gemäß § 32 Abs. 3 AufenthG auch dann ausgeschlossen ist, wenn das alleinige Sorgerecht für den hier aufhältlichen Elternteil aus Rechts- oder sonstigen Gründen nicht zu beschaffen ist).

b) Die dargelegte planwidrige Regelungslücke ist durch eine analoge Anwendung von § 32 Abs. 3 AufenthG zu schließen. Ein Rückgriff auf die Härteklausel des § 32 Abs. 4 AufenthG, die eine Auffangnorm darstellt, ist hier nicht sachgerecht. Sie eröffnet der Beklagten - anders als § 32 Abs. 3 AufenthG - Ermessen und verlangt zudem die Erfüllung weiterer Tatbestandsvoraussetzungen (Kindeswohl und familiäre Situation), die § 32 Abs. 3 AufenthG im Gegensatz zur Vorläuferregelung des § 20 Abs. 3 AuslG bewusst nicht mehr fordert. Nach alledem ist der hier vorliegende, nicht unmittelbar von § 32 Abs. 3 AufenthG erfasste Sachverhalt jedenfalls dann mit dem in § 32 Abs. 3 AufenthG geregelten Sachverhalt vergleichbar, wenn dem im Bundesgebiet lebenden ausländischen Elternteil nach dem Heimatrecht des Kindes das Sorgerecht in dem größtmöglichen Umfang übertragen worden ist, wobei allerdings gerade kein den Sorgerechtsentzug rechtfertigendes Fehlverhalten des anderen Elternteils gefordert wird. Diese Voraussetzungen sind hier - wie dargelegt - erfüllt.

II. Auch die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen sind - ohne dass Beigeladene oder Beklagte insoweit Einwendungen erhoben hätten - erfüllt. Der Lebensunterhalt der Klägerin im Bundesgebiet war sowohl bei Vollendung ihres 16. Lebensjahres mit Ablauf des 14. April 2003 als auch im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat gesichert.

1. a) Der aktuelle Lebensunterhalt der Klägerin ist nach §§ 5 Abs. 1 Nr. 1, 2 Abs. 3 Satz 1 AufenthG gesichert, wenn er einschließlich ausreichenden Krankenversicherungsschutzes ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestritten werden kann. Die Feststellung dieser Voraussetzung erfordert einen Vergleich des voraussichtlichen Unerhaltsbedarfs mit dem tatsächlich zur Verfügung stehenden Einkommen (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 18. August 2005 - OVG 7 B 24.05 -, juris). Der Unterhaltsbedarf setzt sich aus der Summe der auf die Familie entfallenden Regelsätze nach §§ 20, 28 des Sozialgesetzbuches Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitssuchende - (SGB II) vom 24. Dezember 2003 (BGBl. I S. 2954) in der Fassung vom 20. Juli 2006 (BGBl. I S. 1706), den Kosten für die Unterkunft (§ 22 SGB II in der Fassung vom 20. Juli 2006 [BGBl. I S. 1706]) und den Beiträgen zur Kranken- und Pflegeversicherung (§ 26 SGB II in der Fassung vom 20. Juli 2006 [BGBl. I S. 1706]) zusammen.

b) Unter Zugrundelegung dieses Maßstabes erzielt der Vater der Klägerin ein monatliches Nettoeinkommen von 1790,39 Euro, das um die Beträge nach § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 - 5, Satz 2 SGB II (100,00 Euro) und § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 in Verbindung mit § 30 SGB II (180,00 Euro) zu mindern ist (vgl. dazu ausführlich OVG Berlin-Brandenburg, Urteile vom 25. April 2007 - OVG 12 B 16.07 - und -OVG 12 B 19.06 -). Somit ergibt sich ein zu berücksichtigendes monatliches Einkommen von 1510,39 Euro. Dieses Einkommen deckt den monatlichen Bedarf von 892,00 Euro, der sich aus dem Regelbedarf für den Vater der Klägerin und die Klägerin nach § 20 Abs. 3 SGB II (622,00 Euro) sowie die Unterkunftskosten in Höhe von 270,00 Euro zusammensetzt. Krankenversicherungskosten fallen für die zwanzigjährige Klägerin nicht an, weil sie nach ihrer Einreise gemäß § 10 Abs. 2 Nr. 2 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch - SGB V- beitragsfrei familienversichert ist. Im Übrigen könnten Krankenversicherungskosten aus dem Differenzbetrag zwischen Einkommen und Regel- bzw. Unterkunftsbedarf (618,39 Euro) bestritten werden, bis die Klägerin eine Erwerbstätigkeit aufgenommen oder eine Ausbildung begonnen hat. Der Regelbedarf für die Ehefrau des Vaters ist nicht zu berücksichtigen, weil ihr im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung noch kein Visum erteilt worden war.

2. Der Lebensunterhalt der Klägerin war auch bei Vollendung ihres 16. Lebensjahres gesichert. Der im April 2003 noch anwendbare § 17 Abs. 2 Nr. 3 1. Halbsatz AuslG verlangte, dass der Lebensunterhalt des Familienangehörigen aus eigener Erwerbstätigkeit des Ausländers, aus eigenem Vermögen oder sonstigen eigenen Mitteln gesichert war. Da der Vater der Klägerin im ersten Halbjahr 2003 ein durchschnittliches Nettoeinkommen von 1369,31 Euro erzielte, seine Ehefrau als Raumpflegerin mit rund 1300 Euro brutto ebenfalls über eigenes Einkommen für sich und ihren Sohn verfügte und der Vater der Klägerin im Fall ihres Nachzugs für sie Kindergeld erhalten hätte, erübrigt sich eine genaue Berechnung des sozialhilferechtlichen Bedarfs nach dem Bundessozialhilfegesetz, der jedenfalls nicht über dem aktuellen Bedarf lag. Hinzu kommt, dass die Unterkunftskosten im April 2003 lediglich 414,15 Euro betrugen, von denen lediglich die Hälfte (207,08 Euro) auf den Bedarf für den Vater der Klägerin und die Klägerin anzurechnen gewesen wären. Krankenversicherungskosten wären aufgrund der beitragsfreien Familienversicherung (§ 10 Abs. 2 Nr. 1 SGB V) nicht angefallen.

II. Schließlich stand bzw. steht der Klägerin bei Vollendung ihres 16. Lebensjahres bzw. im Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung hinreichend großer Wohnraum zur Verfügung (§ 17 Abs. 4 AuslG, § 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG). Die Größe der Wohnung, die der Vater der Klägerin seinen Angaben zufolge mit seiner deutschen Ehefrau und deren Sohn bewohnte, belief sich auf 55 m²; die ab 1. Februar 2005 gemietete Wohnung, die der Vater der Klägerin allein bewohnt, ist 41 m² groß. Beides ist ausreichend (vgl. dazu OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 18. August 2005 - OVG 7 B 24.05 -, Rn. 43 f. zitiert nach juris).

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2, 162 Abs. 3 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 10, § 711 der Zivilprozessordnung.

Die Revision ist zuzulassen. Der Rechtssache kommt im Hinblick auf die Frage nach der analogen Anwendung des § 32 Abs. 3 AufenthG in den Fällen, in denen die Sorgerechtsübertragung für ein nachzugswilliges minderjähriges Kind auf den im Bundesgebiet lebenden Elternteil aus Gründen ausgeschlossen ist, die im anzuwendenden ausländischen Recht liegen, grundsätzliche Bedeutung zu, § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.

Ende der Entscheidung

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