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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss verkündet am 30.03.2006
Aktenzeichen: OVG 7 B 13.05
Rechtsgebiete: AufenthG, AÜG, DVAuslG


Vorschriften:

AufenthG § 4
AufenthG § 4 Abs. 1
AufenthG § 6
AÜG § 1 Abs. 1 Satz 1
DVAuslG § 1 Abs. 2 Nr. 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
OVG 7 B 13.05

In der Verwaltungsstreitsache

hat der 7. Senat auf die mündliche Verhandlung vom 30. März 2006 durch den Vorsitzenden Richter am Oberverwaltungsgericht Dr. Korbmacher, den Richter am Oberverwaltungsgericht Dr. Bodanowitz, die Richterin am Oberverwaltungsgericht Plückelmann sowie die ehrenamtlichen Richter Cimbollek und Eichholz beschlossen:

Tenor:

Das Verfahren wird ausgesetzt.

Dem Europäischen Gerichtshof werden gemäß Art. 234 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft folgende Fragen vorgelegt:

1) Ist Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zu dem Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei vom 23. November 1970 so auszulegen, dass eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs darin zu sehen ist, dass ein türkischer Staatsangehöriger, der für ein türkisches Unternehmen im grenzüberschreitenden Verkehr auf einem in Deutschland zugelassenen Lastkraftwagen als Fahrer tätig ist, für die Einreise nach Deutschland aufgrund der § 4 Abs. 1, § 6 des AufenthG vom 30. Juli 2004 und des Art. 1 Abs. 1 VO (EG) 539/2001 im Besitz eines Schengen-Visums sein muss, während er im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zusatzprotokolls sichtvermerksfrei in die Bundesrepublik Deutschland einreisen durfte?

2) Wenn die Frage zu 1) zu bejahen ist, muss Art. 41 Abs.1 des Zusatzprotokolls dahingehend ausgelegt werden, dass die in Nummer 1) genannten türkischen Staatsangehörigen für die Einreise nach Deutschland keinen Sichtvermerk benötigen?

Gründe:

I.

Die Kläger zu 1. und 3. (im Folgenden: Kläger) begehren die Feststellung, dass sie als Fernfahrer im grenzüberschreitenden Güterverkehr visumsfrei in die Bundesrepublik Deutschland einreisen dürfen; der Kläger zu 2. hat die Klage am 23. November 2005 zurückgenommen.

Die Kläger sind türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz in der Türkei und werden im grenzüberschreitenden Güterverkehr als Kraftfahrer auf in der Bundesrepublik Deutschland zugelassenen Lastkraftwagen der Firma O. Ç. GmbH, Grafenrheinfeld, eingesetzt. Sie sind Arbeitnehmer der Firma T. T., Istanbul, einer 1992 von dem Geschäftsführer der O. Ç. GmbH zusammen mit zwei Mitgesellschaftern gegründeten GmbH türkischen Rechts.

Bis zum Jahr 2000 hatte die Beklagte den Klägern auf entsprechende Anträge hin jeweils mehrfach Visa für die Einreise als Kraftfahrer auf Kraftfahrzeugen mit ausländischen Kennzeichnen im grenzüberschreitenden Güterkraftverkehr erteilt. Nachdem die Kläger mit in Deutschland zugelassenen Lastkraftwagen angetroffen worden waren, lehnte das Generalkonsulat der Beklagten in Istanbul weitere von ihnen gestellte Visa-Anträge im Oktober 2001 bzw. Januar 2002 ab.

Mit ihrer am 14. März 2001 bzw. 1. Februar 2002 vor dem Verwaltungsgericht Berlin erhobenen Klage haben die Kläger im Wesentlichen geltend gemacht, sie seien berechtigt, als Kraftfahrer für in der Türkei ansässige Unternehmen auf in der Bundesrepublik zugelassenen Lastkraftwagen visumsfrei einzureisen. Aufgrund der Stillhalteklausel des Artikel 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zu dem Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei vom 23. November 1970 (im Folgenden: Zusatzprotokoll) seien sie so zu behandeln, wie es der Rechtslage zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Zusatzprotokolls, also am 1. Januar 1973, entsprochen habe. Eine Visumspflicht habe damals für die Einreise zum Zwecke der von ihnen ausgeübten Tätigkeit noch nicht bestanden, sondern sei erst 1980 eingeführt worden. Der Stillhalteklausel des Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll komme auch Vorrang gegenüber der im sekundären Gemeinschaftsrecht festgelegten Visumspflicht (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. mit dem Anhang I VO 539/2001/EG - im Folgenden: EU-VisumVO) zu.

Das Verwaltungsgericht hat die Klage durch Urteil vom 3. Juli 2002 abgewiesen und die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen. Es hat die Auffassung vertreten, den Klägern stünden nach Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll keine eigenen Rechte zu, da sie sich als bei einem Dienstleistungserbringer beschäftigte Arbeitnehmer nicht auf dessen Dienstleistungsfreiheit berufen könnten.

Gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts haben die Kläger am 27. Juli 2002 Berufung bei dem Oberverwaltungsgericht Berlin eingelegt. Nachdem es im Anschluss an das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 21. Oktober 2003 (Rechtssachen C-317/01 und C-369/01, Abatay) wegen einer Änderung des deutschen Arbeitsgenehmigungsrechts zu keiner Klärung der im vorliegenden Verfahren entscheidungserheblichen Rechtsfragen zum Arbeitnehmerüberlassungsrecht durch die Sozialgerichte gekommen ist, haben die Kläger das zwischenzeitlich ruhende Berufungsverfahren im Januar 2005 wieder aufgenommen.

II.

Die Entscheidung über die Berufung der Kläger hängt von der Auslegung des Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll ab. In Frage steht, ob eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs im Sinne dieser Bestimmung darin zu sehen ist, dass ein türkischer Staatsangehöriger, der für ein türkisches Unternehmen im grenzüberschreitenden Verkehr auf einem in Deutschland zugelassenen Lastkraftwagen als Fahrer tätig ist, für die Einreise nach Deutschland aufgrund der § 4 Abs. 1, § 6 des Aufenthaltsgesetzes - AufenthG - vom 30. Juli 2004 (BGBl. I S. 1950) und des Art. 1 Abs. 1 EU-VisumVO im Besitz eines Schengen-Visums sein muss, während er im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zusatzprotokolls sichtvermerksfrei in die Bundesrepublik Deutschland einreisen durfte. Sollte dies zu bejahen sein und die Einführung einer Visumspflicht von dem Anwendungsbereich des Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll erfasst werden, steht weiter in Frage, ob die genannte Bestimmung dahingehend ausgelegt werden muss, dass ein türkischer Staatsangehöriger für die Einreise nach Deutschland im Rahmen der genannten Fahrertätigkeit keinen Sichtvermerk benötigt.

1. Die eingangs bezeichneten Fragen sind in dem vorliegenden Berufungsverfahren entscheidungserheblich.

a) Die Kläger werden als türkische Fernfahrer von einem Unternehmen mit Sitz in der Türkei beschäftigt, das rechtmäßig Dienstleistungen in einem Mitgliedstaat, nämlich in der Bundesrepublik Deutschland, erbringt. Sie können sich in Bezug auf diese Beschäftigung grundsätzlich auf Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll berufen (vgl. EuGH, Urteil vom 21. Oktober 2003, Rechtssachen C-317/01 und C-369/01, Abatay, Rdnr. 105, 106, Informationsbrief Ausländerrecht - InfAuslR - 2004, 32 ff.).

Die Dienstleistungserbringung erweist sich vorliegend insbesondere auch nach dem Gesetz zur Regelung der gewerbsmäßigen Arbeitnehmerüberlassung (Arbeitnehmerüberlassungsgesetz - AÜG -, in der Fassung der Bekanntmachung vom 3. Februar 1995, BGBl. I S. 158, zuletzt geändert durch Art. 6 Nr. 4 des Gesetzes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes und weiterer Gesetze vom 14. März 2005, BGBl. I S. 721) als rechtmäßig. Die Kläger üben ihre Tätigkeit für die Osman Çat GmbH nicht im Rahmen einer gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 AÜG erlaubnispflichtigen Arbeitnehmerüberlassung aus. Nach dieser Bestimmung bedürfen "Arbeitgeber, die als Verleiher Dritten (Entleihern) Arbeitnehmer (Leiharbeitnehmer) gewerbsmäßig zur Arbeitsleistung überlassen wollen, (...) der Erlaubnis." Eine solche Arbeitnehmerüberlassung (vgl. zu den Voraussetzungen Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 6. August 2003 - 7 AZR 98/03 -, Betriebs-Berater 2004, 669 ff.; Hamann, in: Schüren, Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, Kommentar, 2. Aufl. 2003, § 1 Rdnrn. 117 f., 178 ff., 252) ist hier nicht gegeben, da es aufgrund der Beweisaufnahme im Rahmen der mündlichen Verhandlung zur Überzeugung des Senats feststeht, dass das arbeitsbezogene Weisungsrecht gegenüber den Klägern auch während der Dauer ihres Einsatzes für die O. Ç. GmbH in wesentlichem Umfang von der Firma T. T. ausgeübt wird.

b) Nach der bei Inkrafttreten des Zusatzprotokolls geltenden Rechtslage bedurften türkische Arbeitnehmer, die wie die Kläger im grenzüberschreitenden Güterkraftverkehr tätig waren, für die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland keiner Aufenthaltsgenehmigung. Diesen Arbeitnehmern war vielmehr aufgrund der Regelung in § 1 Abs. 2 Nr. 2 der Verordnung zur Durchführung des Ausländergesetzes (DVAuslG - in der Fassung vom 12. März 1969, BGBl I S. 207) eine Einreise ohne Visum gestattet.

§ 1 Abs. 2 Nr. 2 DVAuslG lautete:

"(2) Staatsangehörige der in der Anlage zu dieser Verordnung aufgeführten Staaten [Anm. d. Senats: dazu zählte die Türkei], die Inhaber von Nationalpässen sind, bedürfen keiner Aufenthaltserlaubnis, wenn sie (...)

2. sich im Dienst eines nicht im Geltungsbereich des Ausländergesetzes ansässigen Arbeitgebers zu einer ihrer Natur nach vorübergehenden Dienstleistung als Arbeitnehmer im Geltungsbereich des Ausländergesetzes aufhalten, sofern die Dauer des Aufenthalts zwei Monate nicht übersteigt Die Befreiung gilt nicht für Ausländer, die im Geltungsbereich des Ausländergesetzes ein Reisegewerbe (§ 55 der Gewerbeordnung) ausüben wollen".

Generell visumspflichtig wurden türkische Staatsangehörige erst mit Inkrafttreten der Elften Verordnung zur Änderung der Verordnung zur Durchführung des Ausländergesetzes vom 1. Juli 1980 (BGBl. I S. 782).

Aktuell ergibt sich die Visumspflicht für türkische Staatsangehörige wie die Kläger aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. dem Anhang I EU-VisumVO sowie aus §§ 4 Abs. 1, 6 AufenthG.

Diese Vorschriften lauten wie folgt:

"Art. 1 [EU-VisumVO]. (1) Die Staatsangehörigen der Drittländer, die in der Liste in Anhang I aufgeführt sind [Anm. d. Senats: dazu zählt die Türkei], müssen beim Überschreiten der Außengrenzen der Mitgliedstaaten im Besitz eines Visums sein."

"§ 4 [AufenthG] Erfordernis eines Aufenthaltstitels. (1) Ausländer bedürfen für die Einreise und den Aufenthalt im Bundesgebiet eines Aufenthaltstitels, sofern nicht durch Recht der Europäischen Union oder durch Rechtsverordnung etwas anderes bestimmt ist oder auf Grund des Abkommens vom 12. September 1963 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei (BGBl. 1964 II S. 509) (Assoziationsabkommen EWG/Türkei) ein Aufenthaltsrecht besteht. Die Aufenthaltstitel werden erteilt als

1. Visum (§ 6),

2. Aufenthaltserlaubnis (§ 7) oder

3. Niederlassungserlaubnis (§ 9)."

"§ 6 [AufenthG] Visum. (1) Einem Ausländer kann

1. ein Schengen-Visum für die Durchreise oder

2. ein Schengen-Visum für Aufenthalte von bis zu drei Monaten innerhalb einer Frist von sechs Monaten von dem Tag der ersten Einreise an (kurzfristige Aufenthalte) erteilt werden, wenn die Erteilungsvoraussetzungen des Schengener Durchführungsübereinkommens und der dazu ergangenen Ausführungsvorschriften erfüllt sind. In Ausnahmefällen kann das Schengen-Visum aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland erteilt werden, wenn die Erteilungsvoraussetzungen des Schengener Durchführungsübereinkommens nicht erfüllt sind. In diesen Fällen ist die Gültigkeit räumlich auf das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland zu beschränken.

(2) Das Visum für kurzfristige Aufenthalte kann auch für mehrere Aufenthalte mit einem Gültigkeitszeitraum von bis zu fünf Jahren mit der Maßgabe erteilt werden, dass der Aufenthaltszeitraum jeweils drei Monate innerhalb einer Frist von sechs Monaten von dem Tag der ersten Einreise an nicht überschreiten darf.

(3) Ein nach Absatz 1 Satz 1 erteiltes Schengen-Visum kann in besonderen Fällen bis zu einer Gesamtaufenthaltsdauer von drei Monaten innerhalb einer Frist von sechs Monaten von dem Tag der ersten Einreise an verlängert werden. Dies gilt auch dann, wenn das Visum von einer Auslandsvertretung eines anderen Schengen-Anwenderstaates erteilt worden ist. Für weitere drei Monate innerhalb der betreffenden Sechsmonatsfrist kann das Visum nur unter den Voraussetzungen des Absatzes 1 Satz 2 verlängert werden.

(4) Für längerfristige Aufenthalte ist ein Visum für das Bundesgebiet (nationales Visum) erforderlich, das vor der Einreise erteilt wird. Die Erteilung richtet sich nach den für die Aufenthalts- und Niederlassungserlaubnis geltenden Vorschriften. Die Dauer des rechtmäßigen Aufenthalts mit einem nationalen Visum wird auf die Zeiten des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis oder Niederlassungserlaubnis angerechnet."

2. Bislang ist noch keine Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu der Frage ergangen, ob die Einführung einer Visumspflicht durch das nationale Ausländerrecht oder das Gemeinschaftsrecht eine "neue Beschränkung" des freien Dienstleistungsverkehrs im Sinne von 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll darstellt bzw. darstellen kann; insbesondere ist über das anhängige Vorabentscheidungsersuchen des Raad van Staate (Niederlande) vom 19. Juli 2005 (Rechtssache C-296/05) zur Einführung einer Visumspflicht durch das niederländische Ausländerrecht (Art. 3.71 Abs. 1 des Vreemdelingenbesluit 2000) noch nicht entschieden.

a) Geklärt ist in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs im Zusammenhang mit Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll, dass eine (nationale) Regelung eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs dann darstellt, "wenn sie die Erbringung von Dienstleistungen durch ein in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenes Unternehmen im Inland von der Erteilung einer behördlichen Erlaubnis wie einer Arbeitserlaubnis abhängig macht" (Urteil Abatay, a.a.O., Rdnr. 111 m.w.N.). Um eine solche (spezifische) Erlaubnis für die Erbringung bestimmter Dienstleistungen (vgl. auch EuGH, Urteil vom 9. März 2000, Kommission/Königreich Belgien, Rechtssache C-355/98, Rdnr. 35, EuGHE I 2000, 1221 ff.) geht es bei der Einführung einer Visumspflicht allerdings nicht.

b) Geklärt ist durch das Urteil Savas (vom 11. Mai 2000, Rechtssache C-37/98, Rdnrn 58, 65, EuGHE I 2000, 2927 ff.) und daran anknüpfend das Urteil Abatay (a.a.O., Rdnr. 62) auch, dass die Vorschriften über die Assoziation EWG-Türkei beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts die Befugnis der Mitgliedstaaten "unberührt" lassen, Vorschriften sowohl über die Einreise türkischer Staatsangehöriger in ihr Hoheitsgebiet als auch über die Voraussetzungen für deren erste Beschäftigung zu erlassen. Diese Urteile geben jedoch keinen Aufschluss hinsichtlich der fraglichen Auslegung von Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll. Die Ausführungen zu den Regelungsbefugnissen der Mitgliedstaaten dürften nämlich nicht im Sinne einer inhaltlichen Beschränkung des Anwendungsbereichs der genannten Bestimmung zu verstehen sein (so auch Hailbronner, Die Stillhalteklauseln des Assoziationsrechts EWG/Türkei, Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik - ZAR - 2004, 46, 49). Vielmehr hat der Europäische Gerichtshof damit lediglich einen allgemeinen Grundsatz formuliert, der gerade durch Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll eine Einschränkung erfahren könnte (vgl. Urteil Abatay, a.a.O., Rdnrn. 65 und 66).

c) Soweit der Europäische Gerichtshof in dem Urteil Abatay ausführt, dass die in den dort zugrunde liegenden Ausgangsverfahren in Rede stehenden türkischen Fahrer für jeden ihrer Aufenthalte in Deutschland über ein ordnungsgemäß ausgestelltes Visum verfügten (a.a.O., Rdnrn. 88, 44), lässt dies ebenfalls keinen Schluss auf diese Auslegungsfrage bzw. auf das Bestehen einer Visumspflicht zu. Die genannte Feststellung hat der Gerichtshof ersichtlich ohne weitere Prüfung dazu getroffen, ob jene Fahrer auch bei Berücksichtigung des Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll einer Visumspflicht für die Einreise nach Deutschland unterlagen. Anlass für eine solche Prüfung bestand insoweit auch nicht, da die Visumspflicht im Verfahren Abatay nicht in Frage gestellt worden war.

d) Der Europäische Gerichtshof hat in Bezug auf die Niederlassungsfreiheit festgestellt, die Stillhalteklausel des Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll verwehre es einem Mitgliedstaat, "neue Maßnahmen zu erlassen, die den Zweck oder die Folge haben, dass die Niederlassung und damit verbunden der Aufenthalt eines türkischen Staatsangehörigen in diesem Mitgliedstaat strengeren Bedingungen als denjenigen unterworfen werden, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Zusatzprotokolls gegenüber dem betreffenden Mitgliedstaat galten" (Urteil Savas, a.a.O., Rdnr. 69). Dies spricht dafür, Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll im Sinne eines umfassenden Verschlechterungsverbots auch in Bezug auf das allgemeine Einreise- und Aufenthaltsrecht zu verstehen und darauf abzustellen, ob durch die Maßnahme die "Situation" des türkischen Staatsbürgers hinsichtlich der Erbringung von Dienstleistungen (oder der Niederlassungsfreiheit) "erschwert" wird (vgl. Urteil Savas, a.a.O., Rdnr. 70; Urteil Abatay, a.a.O., Rdnr. 116). Da die Visumspflicht für die Transportunternehmen zu einem Kosten- und Gebührenaufwand führt und überdies auch den flexiblen Einsatz der Fahrer erschwert, wäre danach vom Vorliegen einer "neuen Beschränkung" i.S.v. Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll auszugehen. Der Umstand, dass das vorgeschaltete Visumsverfahren auch Vorteile für die Unternehmen und die Fahrer hat - nämlich u. a. Rechtssicherheit hinsichtlich der Einreisemöglichkeit sowie die damit entfallende Notwendigkeit, die Voraussetzungen für die visumsfreie Einreise nach § 1 Abs. 2 Nr. 2 DVAuslG bei der Grenzkontrolle nachweisen zu müssen - würde keine andere Bewertung rechtfertigen; denn auch nach der Rechtslage am 1. Januar 1973 bestand die Möglichkeit - aber eben nicht die Verpflichtung -, sich vorab die Zulässigkeit der Einreise bescheinigen zu lassen.

Gegen ein Verständnis von Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll im Sinne eines umfassenden Verschlechterungsverbots auch in Bezug auf das allgemeine Einreise- und Aufenthaltsrecht wird allerdings eingewandt, die Bestimmung könne keine Zementierung der allgemeinen mitgliedstaatlichen Regelungsbefugnis bedeuten, welche sich in irgendeiner Weise auf die Situation türkischer Staatsangehöriger auswirken könnte (vgl. Hailbronner, a.a.O., ZAR 2004, 46, 49 mit weiterführenden Differenzierungen).

e) Ungeklärt ist in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ferner, ob das Verschlechterungsverbot nach Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll nicht nur mitgliedstaatliche, sondern auch gemeinschaftsrechtliche Regelungen erfasst. Hierfür spricht zwar der Wortlaut von Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll ("Vertragsparteien"), der - anders als Art. 13 des Assoziationsrats-Beschlusses Nr. 1/80 - keine ausdrückliche Beschränkung auf Maßnahmen der Mitgliedstaaten vorsieht. Dagegen, das Verschlechterungsverbot auf Regelungen der Gemeinschaft zu erstrecken, werden jedoch Bedenken für den Fall geltend gemacht, dass es - wie vorliegend - um einen Regelungsbereich geht, der bei Inkrafttreten des Zusatzprotokolls in die Kompetenz der Mitgliedstaaten fiel (vgl. Hailbronner, a.a.O., ZAR 2004, 46, 48; Welte, Visumpflicht - türkische Staatsangehörige, InfAuslR 2004, 177). Damit würde nämlich die einheitliche Geltung des Gemeinschaftsrechts tangiert, da dieses gegebenenfalls bezogen auf diejenigen Mitgliedstaaten nicht angewendet werden dürfte, in denen sich die gemeinschaftsrechtliche Regelung im Vergleich zu der zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zusatzprotokolls bestehenden nationalen Rechtslage als Verschlechterung auswirkt. Andererseits würde das den Anwendungsbereich des Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll auf nationale Regelungen beschränkende Verständnis zur Folge haben, dass die Übertragung mitgliedstaatlicher Kompetenzen auf die Gemeinschaft zu einer Reduzierung der völkervertraglichen Pflichten einzelner Mitgliedstaaten gegenüber einem Drittstaat - hier der Türkei - führen könnte (vgl. Hailbronner, a.a.O.).

3. Sollte die Frage zu 1) zu bejahen sein, ist für das Berufungsverfahren ferner entscheidungserheblich, ob Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll so auszulegen ist, dass er auch vor solchen Bestimmungen des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts Vorrang beansprucht, die einer mit der Stillhalteklausel übereinstimmenden Auslegung nicht zugänglich sind. Letzteres ist hier hinsichtlich der abschließenden Regelung in Art. 4 EU-VisumVO zu möglichen - vorliegend nicht einschlägigen - Ausnahmen von der im Übrigen zwingenden Visumspflicht nach Art. 1 Abs. 1 i.V.m. dem Anhang I EU-VisumVO der Fall. Auch diese Frage ist bislang nicht hinreichend geklärt. Entschieden hat der Europäische Gerichtshof im Urteil Kommission/Deutschland (vom 10. September 1996, Rechtssache C-61/94, Rdnr. 52, EuGHE I 1996, 3989 ff.) lediglich, dass der "Vorrang der von der Gemeinschaft geschlossenen völkerrechtlichen Verträge vor den Bestimmungen des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts" gebietet, "diese nach Möglichkeit in Übereinstimmung mit diesen Verträgen auszulegen" (Urteil vom 10. September 1996, C-61/94, Kommission/Deutschland, Rdnr. 52). Vorliegend geht es aber gerade um die Frage, wie die völkerrechtlichen Verpflichtungen mit dem abgeleiteten, keiner solchen Auslegung zugänglichen Gemeinschaftsrecht in Einklang zu bringen sind.

Ende der Entscheidung

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