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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Berlin
Urteil verkündet am 22.05.2003
Aktenzeichen: OVG 6 B 17.03
Rechtsgebiete: VwVfG, BauGB


Vorschriften:

VwVfG § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3
VwVfG § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4
VwVfG § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5
BauGB § 14 Abs. 3

Entscheidung wurde am 16.01.2004 korrigiert: nicht vollständig anonymisiert und nicht zur Veröffentlichung freigegebene Entscheidung komplett ersetzt
1. Wegen der Systematik der Widerrufstatbestände ist der Widerrufsgrund der nachträglich eingetretenen Tatsachen i.S.d. § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwVfG einschränkend auszulegen.

2. Den Beschluss zur Aufstellung eines Bebauungsplans als Widerrufsgrund i.S.d. § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwVfG auszulegen, widerspicht den fachgesetzlichen Regelungen des Baugesetzbuches, die ein differenziertes planerisches Instrumentarium zur Sicherung der gemeindlichen Planungsabsichten bereithalten.


OBERVERWALTUNGSGERICHT BERLIN Im Namen des Volkes Urteil

Aktenzeichen: OVG 6 B 17.03

Verkündet am 22. Mai 2003

In der Verwaltungsstreitsache

hat der 6. Senat des Oberverwaltungsgerichts Berlin auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 22. Mai 2003 durch den Präsidenten des Oberverwaltungsgerichts Kipp, den Richter am Oberverwaltungsgericht Dr. Korbmacher, die Richterin am Verwaltungsgericht Dr. Bumke, die ehrenamtliche Richterin Jaskolla und die ehrenamtliche Richterin Ewers

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 9. Dezember 1998 geändert.

Der Widerrufsbescheid der Senatsverwaltung für Bauen, Wohnen und Verkehr vom 9. April 1998 wird aufgehoben.

Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten gegen Sicherheitsleistung in Höhe des jeweiligen Vollstreckungsbetrages vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin ist Eigentümerin des mit dem so genannten (Haus bebauten Eckgrundstücks L Straße M in Berlin-Mitte. Sie wendet sich gegen den Widerruf der Baugenehmigung Nr. 533/97 vom 17. Oktober 1997.

Mit Schreiben vom 17. November 1995, eingegangen am 27. Februar 1996 beantragte die Klägerin die Erteilung einer Baugenehmigung zur Modernisierung und Instandsetzung aller Geschosse mit Ausnahme des Dachgeschosses sowie zur Erweiterung des Erdgeschosses. In der Baubeschreibung wies sie darauf hin, dass sie bereits am 30. März 1995 einen Bauantrag für den Neubau zweier Dachgeschosse (Dachaufstockung) gestellt habe.

Am 21. März 1996 erteilte das Bezirksamt Mitte von Berlin die Baugenehmigung Nr. 125/96 für die Dachaufstockung. Die mit Grünstempel versehenen Bauvorlagen enthalten Schnittzeichnungen, in denen die vorhandenen Treppenaufgänge bis ins Erdgeschoss zeichnerisch dargestellt sind. Die von der Berliner Feuerwehr geforderten Brandschutzauflagen, die sich z.T. auf den gesamten Treppenraum beziehen, sind der Baugenehmigung beigefügt worden.

Am 22. November 1996 bat die damalige Senatsverwaltung für Bauen, Wohnen und Verkehr das Bezirksamt, die am 27. Februar 1996 beantragte Baugenehmigung zur Modernisierung und Instandsetzung aller Geschosse mit Ausnahme des Dachgeschosses nicht zu erteilen. Zur Begründung wies die Senatsverwaltung unter anderem auf den KOAI-Beschluss vom 21. September 1992 und den Beschluss des Senatsausschusses "Berlin 2000" vom 28. April 1993 zur Neugestaltung der L Straße hin.

Im Januar 1997 teilte das Bezirksamt der Klägerin mit, dass die Bauunterlagen unvollständig seien. Am 15. April 1997 fand eine Besprechung des Bau- und Wohnungsaufsichtsamts mit dem Architekten der Klägerin statt, in der - wie sich aus dem Schreiben des Architekten vom 16. April 1997 ergibt - übereinstimmend festgestellt wurde, dass der Bauantrag noch nicht genehmigungsfähig sei.

Am 10. Oktober 1997 wies die Senatsverwaltung das Bezirksamt an, die Baugenehmigung nicht zu erteilen, und forderte unter Berufung auf ihr Informationsrecht den Vorgang zum Baugenehmigungsverfahren an. Die damalige Baustadträtin wies am 14. Oktober 1997 ihrerseits die Baugenehmigungsbehörde an, die Weisung der Senatsverwaltung vom 10. Oktober 1997 nicht zu beachten. Daraufhin erteilte das Bezirksamt am 17. Oktober 1997 die Baugenehmigung Nr. 533/97 und händigte sie der Klägerin am selben Tag aus. Die Baugenehmigung enthält eine Reihe von Nebenbestimmungen, unter anderem unter Nr. 1 den Zusatz, dass mit den Bauarbeiten erst begonnen werden darf, wenn die besondere Baugenehmigung für den Standsicherheitsnachweis oder das Einverständnis des Prüfingenieurs für Baustatik im Bau- und Wohnungsaufsichtsamt vorliegt. Bei Aushändigung der Baugenehmigung erklärte die Klägerin schriftlich, dass sie auf Rechtsmittel verzichte.

Am 22. Oktober 1997 wies die Senatsverwaltung das Bezirksamt unter Bezugnahme auf eine bereits im März 1997 geäußerte Bitte an, einen Aufstellungsbeschluss für den Bebauungsplan I-55 zu fassen.

Am 24. Oktober 1997 teilte die Senatsverwaltung der Klägerin mit, dass beabsichtigt sei, die weisungswidrig erteilte Baugenehmigung Nr. 533/97 vom 17. Oktober 1997 zu widerrufen.

Nachdem das Bezirksamt der Weisung vom 22. Oktober 1997 nicht nachkam, trat die Senatsverwaltung in das Bebauungsplanverfahren ein und fasste am 26. November 1997 den Aufstellungsbeschluss für den Bebauungsplan I-55 (ABl. S. 4546). Anlass für die Einleitung des Bebauungsplanverfahrens war die Neugestaltung der L Straße. Das auf der Grundlage eines Wettbewerbs entwickelte städtebauliche und verkehrliche Konzept beruht unter anderem auf dem Beschluss des Senatsausschusses "Berlin 2000" zur Neugestaltung der L Straße vom 28. April 1993. Grundlage des städtebaulichen Konzepts ist der Umbau der L Straße unter Einhaltung der historischen Baufluchten von 22,5 m. Die Verkehrsfläche soll nach Rückbau auf die historische Breite insgesamt 28,5 m betragen. Um die Leistungsfähigkeit der U Straße zu erhalten, sollen im Kreuzungsbereich L Straße/M straße nach Verbreiterung der Fahrbahn von 13,5 m auf 16,5 m fünf Fahrspuren angelegt werden. Geplant sind eine Linksabbieger; eine Geradeaus- und eine kombinierte Geradeaus-/Rechtsabbiegerspur in der Knotenzufahrt (westliche Richtung) und zwei Geradeausspuren in der Knotenabfahrt (östliche Richtung). Der Bürgersteig auf der nördlichen Seite der L Straße soll unter sechs Meter breiten Arkaden geführt werden. Wie die Augenscheinseinnahme ergeben hat, sind auf den auf der nördlichen Seite gelegenen Grundstücken im Abschnitt zwischen F straße und M sowie auf einem weiteren Grundstück im Abschnitt zwischen M straße und L Platz bereits Arkaden angelegt worden. Der Arkadengang im Abschnitt zwischen straße und M straße endet auf der Höhe der Tiefgarageneinfahrt des benachbarten Hotels an der westlichen Grundstücksmauer des Hauses.

Am 13. März 1998 wies die Senatsverwaltung das Bezirksamt an, die Baugenehmigung Nr. 533/97 vom 17. Oktober 1997 zu widerrufen. Das Bezirksamt folgte der Weisung nicht. Daraufhin trat die Senatsverwaltung in das Verfahren ein und hörte die Klägerin am 19. März 1998 zum beabsichtigten Widerruf an. Mit Bescheid vom 9. April 1998 widerrief die Senatsverwaltung die Baugenehmigung Nr. 533/97 unter Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit. In der Begründung wird darauf hingewiesen, dass eine Fortsetzung der Bauarbeiten geduldet werde, sofern dadurch die Anlegung einer Arkade im Erdgeschossbereich zur L Straße hin nicht behindert oder erschwert werde.

Ausweislich der vom Architekten der Klägerin mit Schreiben vom 27. Juli 1998 übersandten Baubeginnanzeige, in der auf die Baugenehmigung Nr. 125/96 Bezug genommen wird, ist am 22. Januar 1998 mit den Bauarbeiten begonnen worden. Wie die Augenscheinseinnahme ergeben hat, befindet sich das Dachgeschoss im Zustand des sogenannten erweiterten Rohbaus. Die Instandsetzung und Modernisierung des zweiten, dritten und vierten Geschosses ist abgeschlossen. Die über den Treppenaufgang zur L Straße hin zugänglichen Geschosse sind nach Angaben der Klägerin vorübergehend im Rahmen gewerblicher Vermietung genutzt worden.

Gegen den Widerruf vom 9. April 1998 hat die Klägerin am 8. Mai 1998 Klage-: erhoben. Am 1. Oktober 1998 hat sie die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes beantragt (VG 19 A 199.98).

Am 19. November 1998 erließ die Senatsverwaltung für Bauen, Wohnen und Verkehr die Verordnung über die Veränderungssperre I-55/3 (GVBl. S. 347). Die Verordnung über die Festsetzung des Bebauungsplans I-55 im Bezirk Mitte vom 7. September 1999 wurde im Gesetz- und Verordnungsblatt vom 17. September 1999 bekannt gemacht (GVBl. S. 509).

Mit Urteil vom 9. Dezember 1998 hat das Verwaltungsgericht die Klage gegen den Widerrufsbescheid vom 9. April 1998 abgewiesen (VG 19 A 78.98). Mit Beschluss vom selben Tag hat das Verwaltungsgericht auch den Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen den Widerruf abgelehnt, zur Begründung auf das Urteil im Verfahren VG 19 A 78.98 verwiesen und im Übrigen das besondere Vollzugsinteresse bejaht. Der Beschluss vom 9. Dezember 1998 ist rechtskräftig; ein Antrag auf Zulassung der Beschwerde wurde nicht gestellt.

Zur Begründung des Urteils vom 9. Dezember 1998 hat das Verwaltungsgericht im Wesentlichen ausgeführt: Der Widerruf sei rechtmäßig. Der Aufstellungsbeschluss vom 26. November 1997, mit dem das Bebauungsplanverfahren zur Sicherung der Arkadierung eingeleitet worden sei, stelle eine nachträgliche (Rechts-)tatsache i.S.d. § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwVfG dar. Die Behörde sei zum Zeitpunkt des Widerrufs auch berechtigt gewesen, den Verwaltungsakt nicht mehr zu erlassen. Denn das Vorhaben hätte gemäß § 15 Abs. 1 BauGB zurückgestellt werden können. Die Klägerin habe noch keinen Gebrauch von der Baugenehmigung Nr. 533/97 gemacht. Die Baufreigabe stehe unter der aufschiebenden Bedingung des Einverständnisses des Prüfingenieurs für Prüfstatik. Die Prüfunterlagen seien dem Prüfamt für Baustatik erst am 15. Mai 1998 vorgelegt worden. Da die Baugenehmigung mangels Eintritts der aufschiebenden Bedingung noch nicht wirksam geworden sei, seien die Maßnahmen der Klägerin zwar möglicherweise rechtmäßig gewesen, rechtlich stellten sie jedoch eine Vorleistung auf eine demnächst wirksam werdende Begünstigung dar. Die Ausnutzung der Genehmigung sei nicht im Vertrauen auf ihren Bestand, sondern im Vertrauen auf ihr Wirksamwerden erfolgt. Darin liege keine schutzwürdige Vertrauensbetätigung.

Gegen das Urteil hat die Klägerin am 28. Januar 1998 die Zulassung der Berufung beantragt. Mit Beschluss vom 15. März 1999 hat der 2. Senat des Oberverwaltungsgerichts Berlin die Berufung zugelassen.

Zur Begründung der Berufung trägt die Klägerin im Wesentlichen vor: Der Aufstellungsbeschluss vom 26. November 1997 sei keine nachträgliche Tatsache i.S.d. § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwVfG. Der Beklagte habe die Einleitung des Bebauungsplanverfahrens schuldhaft über mehrere Jahre verschleppt. Die Behörde dürfe nicht selbst die Tatsachen schaffen, mit denen sie dann einen Widerruf begründe. Die Klägerin genieße sowohl auf Grund der ursprünglichen Baugenehmigung als auch auf Grund der für die Dachaufstockung erteilten Baugenehmigung Nr. 125/96 vom 21. März 1996 Bestandsschutz. Die Baugenehmigung Nr. 125/96 umfasse auch das Treppenhaus zur L Straße. Das Treppenhaus sei stets benutzbar gewesen und diene als Notweg für die oberen Etagen. Der 2. Rettungsweg lasse sich im Falle der Arkadierung nicht verwirklichen. Der Beklagte habe im Schreiben vom 18. Februar 1997 darauf hingewiesen, dass das Verkehrskonzept auch ohne Inanspruchnahme des Grundstücks der Klägerin durchgeführt werden könne. Selbst wenn die Straße wie geplant verbreitert werde, sei eine Arkadierung des Gebäudes nicht zwingend. Denn der verbleibende Gehweg vor dem Gebäude könne weiter genutzt und mit einem Handlauf zum Schutz der Fußgänger vor dem Straßenverkehr gesichert werden. Die Überlegungen zur Einrichtung einer Straßenbahn zeigten im Übrigen, dass das Verkehrskonzept noch nicht endgültig sei. Unzutreffend sei die Auffassung, der Beklagte sei zum Zeitpunkt des Widerrufs berechtigt gewesen, die Baugenehmigung nicht mehr zu erteilen. Die Klägerin habe von der Baugenehmigung auch Gebrauch gemacht. Aus den vorgelegten Zwischenrechnungen ergebe sich, dass diverse Arbeiten im geplanten Arkadenbereich des Erdgeschosses ausgeführt worden seien. Das Verwaltungsgericht verkenne die Bedeutung des in der Bedingung enthaltenen Vorbehalts des Statiknachweises. Alle bis zum 9. April 1998 durchgeführten Arbeiten seien im Einverständnis mit dem Prüfingenieur für Baustatik erfolgt.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 9. Dezember 1998 zu ändern und den Widerrufsbescheid des Beklagten vom 9. April 1998 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Zur Begründung wird vertiefend auf den angefochtenen Bescheid und das Urteil des Verwaltungsgerichts Bezug genommen. Das Schreiben vom 18. Februar 1997 sei lediglich ein Versuch gewesen, die Klägerin von überhöhten Entschädigungsforderungen abzubringen. Die von der Klägerin vorgelegten Nachweise zum Baubeginn bezögen sich auf Maßnahmen des Dachgeschossausbaus, die Gegenstand der Baugenehmigung Nr. 125/96 vom 21. März 1996 seien. Ein Gebrauchmachen von der Baugenehmigung Nr. 533/97 vom 17. Oktober 1997 werde damit nicht belegt. Erst Mitte Mai 1998 sei ein Standsicherheitsnachweis für die Hofkellerdecke beim Prüfingenieur eingegangen. Zu diesem Zeitpunkt habe ein Standsicherheitsnachweis für die Modernisierung und Instandsetzung aller Geschosse nicht vorgelegen. Der Prüfingenieur habe erst mit Schreiben vom 24. Juli 2000 mitgeteilt, dass die statische Überprüfung - ohne Arkadenbereich - abgeschlossen sei. Der Knotenpunkt L Straße/Mauerstraße stelle einen gefährlichen Unfallschwerpunkt dar. Die Gefahren, die für die Verkehrsteilnehmer bestünden, seien als schwerer Nachteil i.S.d. § 49 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 VwVfG anzusehen.

Am 11. Juni 2001 hat die Klägerin beantragt festzustellen, dass die Verordnung über die Festsetzung des Bebauungsplans I-55 im Bezirk Mitte vom 7. September 1999 nichtig ist. Mit Urteil vom heutigen Tag hat der Senat den Normenkontrollantrag zurückgewiesen (OVG 6 A 12.03).

Der Senat hat die Örtlichkeiten in Augenschein genommen. Wegen der Einzelheiten der Augenscheinseinnahme sowie der mündlichen Verhandlung wird auf die Sitzungsniederschriften verwiesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Streitakte dieses Verfahrens sowie die Streitakte des gemeinsam verhandelten Verfahrens OVG 6 A 12.03, die Streitakte VG 19 A 199.98 und die Verwaltungsvorgänge (5 Bände "Hausakte", 3 Leitzordner "Senatsverwaltung", 1 Leitzordner "Bauakte Nr. 125/96", 1 Leitzordner "Bauakte Nachtrag zu Nr. 125/96", 1 Leitzordner "Bauakte Nr. 533/97", 1 Leitzordner "Eintritt/Widerruf", 1 Leitzordner "Akte II A 2"-) Bezug genommen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist begründet. Der Widerrufsbescheid vom 9. April 1998 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin daher in ihren Rechten (§113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

1. Der Widerruf kann nicht auf § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 VwVfG i.V.m. § 1 Abs. 1 VwVfG Bln gestützt werden. Entgegen der Auffassung des Beklagten begründet die derzeitige Verkehrssituation am Knotenpunkt L Straße/M straße keinen schweren Nachteil für das Gemeinwohl. Zutreffend hat das Verwaltungsgericht ausgeführt, dass der Begriff des schweren Nachteils i.S.d. § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 VwVfG eng auszulegen ist und das Vorliegen einer außergewöhnlichen Situation voraussetzt. Eine schlichte Gefährdung oder Beeinträchtigung öffentlicher Interessen reicht nicht aus. Der Widerrufsgrund ist auf Katastrophensituationen oder vergleichbare außergewöhnliche Umstände begrenzt (OVG Berlin, Urteil vom 27. November 1987 - 2 B 106.85 -, NVwZ-RR 1988, 6, 9). Eine solche Notstandssituation ist - wie das Verwaltungsgericht zu Recht festgestellt hat - nicht gegeben. Der Beklagte hat zwar nachvollziehbar dargelegt, dass angesichts der verkehrlichen Situation ein genereller Handlungsbedarf zur Steigerung der Leistungsfähigkeit der L Straße besteht. Im Rahmen der Augenscheinseinnahme hat sich bestätigt, dass ein Verzicht auf die geplante Arkadierung angesichts der geringen Breite der Fahrspuren und des Gesamtverkehrsaufkommens zu einer Gefährdung des öffentlichen Interesses führt. Anhaltspunkte dafür, dass am Knotenpunkt L Straße/M straße zwischenzeitlich ein notstandsähnlicher Unfallschwerpunkt entstanden wäre, liegen jedoch nicht vor. Der Beklagte hat diese Behauptung auch nicht belegen können. Abgesehen davon ist nicht zu erkennen, dass die behauptete akute Gefahrensituation allein durch den Widerruf der Baugenehmigung entschärft werden könnte.

2. Der Widerruf ist nicht von § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwVfG i.V.m. § 1 Abs. 1 VwVfG Bln gedeckt. Nach § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwVfG darf ein rechtmäßiger begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, widerrufen werden, wenn die Behörde aufgrund nachträglich eingetretener Tatsachen berechtigt wäre, den Verwaltungsakt nicht zu erlassen, und wenn ohne den Widerruf das öffentliche Interesse gefährdet würde.

Der Aufstellungsbeschluss für den Bebauungsplan I-55 vom 26. November 1997 stellt eine (Rechts-)Tatsache dar. Tatsachen sind konkrete Gegebenheiten, die das objektive Recht zur Voraussetzung einer Rechtswirkung gemacht hat. Ein Aufstellungsbeschluss ist rechtserheblich, da er der Baugenehmigungsbehörde die Möglichkeit eröffnet, einen nach gemeindlicher Beschlussfassung gestellten Bauantrag auf Antrag der Gemeinde gemäß § 15 Abs. 1 BauGB zurückzustellen bzw. eine vorläufige Untersagung auszusprechen. Entgegen der Auffassung der Klägerin kann ein Widerrufsgrund grundsätzlich auch auf Umstände gestützt werden, die die Behörde selbst geschaffen hat (vgl. Kopp/Ramsauer, VwVfG, 7. Aufl., 2003, § 49 Rdnr. 43 m.w.N.).

Aus der Systematik des § 49 Abs. 2 VwVfG ergibt sich jedoch, dass der Widerrufsgrund der nachträglich eingetretenen Tatsachen i.S.d. § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwVfG einschränkend auszulegen ist. Der Gesetzgeber hat den Fall der Änderung rechtlicher Umstände speziell in § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 geregelt und an strengere Voraussetzungen als im Fall der Änderung von Tatsachen nach Nr. 3 geknüpft. Anders als im Fall des § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwVfG ist ein Widerruf nach Nr. 4 ausgeschlossen, wenn der Begünstigte von der Vergünstigung Gebrauch gemacht hat. Dieser besondere Vertrauensschutz im Fall der Änderung rechtlicher Umstände macht deutlich, dass die Regelung in § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 abschließend gemeint ist. § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwVfG setzt nach Sinn und Zweck des Regelungszusammenhangs voraus, dass sich die Rechtslage, d.h. die Grundlage der Rechtsanwendung nicht geändert hat (Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 6. Aufl., 2001, § 49 Rdnr. 69). Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts besteht bei Fallkonstellationen nach § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwVfG auch keine Regelungslücke, die eine Ergänzung der Tatbestandsvoraussetzungen um das Merkmal des Gebrauchmachens erlaubt, um damit zugleich eine weite Auslegung des Widerrufsgrundes zu rechtfertigen. Dafür besteht nach Wortlaut und Systematik des § 49 Abs. 2 VwVfG kein Raum. Den mit dem Tatbestandsmerkmal des Gebrauchmachens verbundenen besonderen Vertrauensschutz hat der Gesetzgeber ausdrücklich nur im Fall der Änderung der Rechtslage i.S.d. § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwVfG vorgesehen. Damit wird zugleich ein systematisch gestuftes und exklusives Verhältnis der Fallkonstellationen des § 49 Abs. 2 VwVfG zum Ausdruck gebracht. Umstände, die als Verfahrenszwischenschritte auf eine Änderung der Rechtslage zielen, können nicht allein deswegen, weil sie bestimmte Rechtswirkungen zeitigen, als Widerrufsgrund i.S.d. § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwVfG angesehen werden. Der Aufstellungsbeschluss ist lediglich eine verfahrensrechtliche Vorbereitungshandlung. Er ist der erste Schritt in einem mehraktigen Verfahren; er dokumentiert die Planungsabsicht der Gemeinde und markiert den Beginn eines Planverfahrens, das zum Erlass einer Rechtsvorschrift i.S.d. § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwVfG führen kann, aber nicht muss. Sinn und Zweck der klar abgegrenzten Fallkonstellationen wie auch die Systematik verbieten es, bei einer Änderung rechtlicher Umstände "hilfsweise" nur deswegen auf den Widerrufsgrund nach § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwVfG zurückzugreifen, weil die Voraussetzungen nach § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwVfG (noch) nicht vorliegen.

Unabhängig davon widerspricht eine Aufspaltung der Verfahrensschritte, d.h. die Konstruktion des Aufstellungsbeschlusses als "isolierter" Widerrufsgrund i.S.d. § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwVfG, auch den fachgesetzlichen Regelungen des Baugesetzbuches, die ein differenziertes planerisches Instrumentarium zur Sicherung der gemeindlichen Planungsabsichten bereithalten. § 15 BauGB eröffnet die Möglichkeit der Zurückstellung eines Bauantrags. § 15 BauGB setzt aber - wie sich bereits aus dem Wortlaut ergibt - voraus, dass zunächst ein Aufstellungsbeschluss gefasst worden ist und dann über die Zulässigkeit eines Bauvorhabens zu entscheiden ist. Die Gemeinde kann jedoch nicht nachträglich Rechtsfolgen zum Nachteil eines Bauherrn daraus ableiten, dass die Voraussetzungen für die Zurückstellung eines Vorhabens gemäß § 15 BauGB bzw. den Erlass einer Veränderungssperre nach § 14 BauGB erfüllt gewesen wären, wenn sie tatsächlich weder von dem einen noch von dem anderen Sicherungsinstrument Gebrauch gemacht hat (BVerwG, Beschluss vom 2. Oktober 1998 - 4 B 72.98 -, NVwZ 1998, 523). Hat sie die ihr eröfffneten Möglichkeiten nicht wahrgenommen, lässt sich das planungsrechtliche Versäumnis nicht durch Rückgriff auf den Widerrufsgrund nach § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwVfG korrigieren.

Eine weite Auslegung des Widerrufsgrundes nach § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwVfG widerspricht auch der Regelung des § 14 Abs. 3 BauGB: Da nach § 14 Abs. 3 BauGB ein Widerruf selbst im Fall einer Veränderungssperre unzulässig wäre, hat dies erst recht zu gelten, wenn bislang nur ein Aufstellungsbeschluss gefasst wurde. DerRegelungsgehalt des § 14 Abs. 3 BauGB beschränkt sich nicht lediglich auf die Klarstellung, dass das In-Kraft-Treten einer Veränderungssperre nicht die Wirksamkeit der erteilten Baugenehmigung berührt. Das ist - wie das Verwaltungsgericht betont - an sich selbstverständlich (vgl. dazu auch Grauvogel, in: Brüggelmann, BauGB, Stand 1996, § 14 Rdnr. 116). Das Bundesverwaltungsgericht hat zwar in einer Entscheidung auf die Möglichkeit eines Widerrufs hingewiesen (BVerwG, Urteil vom 3. Februar 1984 - 4 C 39.82 - ZfBR 1984, 144, 145, insoweit nicht abgedruckt in: BVerwGE 69, 1; vgl. dazu auch Lemmel, in: Berliner Kommentar, 3. Aufl., 2002, § 14 Rdnr. 21). Es bleibt jedoch unklar, welcher Widerrufsgrund gemeint ist, da in diesem Zusammenhang sowohl die Veränderungssperre als auch der Bebauungsplan genannt werden. Insofern lässt sich dieser Entscheidung keine Klärung der Frage entnehmen, ob der Erlass einer Veränderungssperre einen Widerruf nach § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwVfG rechtfertigen würde. Der gegen eine Auslegung des § 14 Abs. 3 BauGB als fachgesetzliche Sonderregelung gerichtete Einwand, es gebe keinen Grund, weshalb einer noch nicht ausgenutzten Baugenehmigung eine größere Schutzwirkung zukommen solle, als anderen begünstigenden Verwaltungsakten (vgl. Lemmel, in: Berliner Kommentar, 3. Aufl., 2002, § 14 Rdnr. 21; Schmaltz, in: Schröter, BauGB, 6. Aufl., 1998, § 14 Rdnr. 24; Weidemann, BauR 1987, 9, 11; Dürr, JuS 1984, 770, 774; OVG Lüneburg, Urteil vom 5. März 1982 - 1 A 85.81 -, ZfBR 1982, 181, 182), überzeugt nicht. Der Unterschied zu anderen begünstigenden Verwaltungsakten liegt darin, dass der Bauherr durch die formell wirksame Baugenehmigung eine eigentumskräftig verfestigte, d.h. eine von Art. 14 Abs. 1 GG geschützte Rechtsposition erhält. § 14 Abs. 3 BauGB schützt den Bauherrn mit Blick auf seine Baufreiheit vor den Unsicherheiten des Bebauungsplanverfahrens. Denn zum Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens einer Veränderungssperre ist noch nicht absehbar, ob es zur beabsichtigten planungsrechtlichen Änderung kommt. Es stellt sich nicht selten erst nach In-Kraft-Treten des Bebauungsplans, jedenfalls aber häufig erst im Laufe des Planverfahrens heraus, ob das genehmigte Vorhaben den künftigen Festsetzungen widersprechen wird. Das ist auch der Grund, warum der Widerruf wegen einer Veränderungssperre ausgeschlossen, nach In-Kraft-Treten des Bebauungsplans jedoch gemäß § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwVfG - sofern die weiteren Voraussetzungen vorliegen - zulässig ist. Darin liegt kein Wertungswiderspruch. Der Sinn und Zweck des § 14 Abs. 3 BauGB liegt in der gesetzgeberischen Wertung zugunsten eines Vorrangs der rechtmäßigen Baugenehmigung. Das Risiko, dass eine Baugenehmigung bis zum In-Kraft-Treten eines Bebauungsplanes ausgenutzt werden kann, wird der Gemeinde zugeschrieben (vgl. Bielenberg/Stock, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg, BauGB § 14, Rdnr. 61; Grauvogel, in: Brüggelmann, BauGB, Stand 1996, § 14 Rdnr. 116; Schenke, WiVerw 1994, 253, 275 f.; VG Arnsberg, Urteil vom 6. September 1988 - 4 K 110.88 -, NVwZ 1990, 592; Gailus, NVwZ 1990, 536; vgl. auch Ortloff, NVwZ 1983, 705, 708; Stelkens, ZfBR 1980, 119, 123; Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 6. Aufl., 2001, § 49 Rdnr. 47; Bronnenmeyer, Der Widerruf rechtmäßig begünstigender Verwaltungsakte nach § 49 VwVfG, 1994, S. 144). Dass § 14 Abs. 3 BauGB als eine die allgemeinen Widerrufsvorschriften verdrängende Sonderregelung zu verstehen ist, wird bestätigt, wenn man die Änderung des § 14 Abs. 3 BauGB durch das Bau- und Raumordnungsgesetz (BauROG vom 18. August 1997, BGBl I S. 2081) in den Blick nimmt: Die Änderung betrifft Vorhaben, die ohne Genehmigung auf Grund anderer baurechtlicher Vorschriften zulässig sind. Auch in diesem Fall gilt gemäß § 14 Abs. 3 BauGB, dass sie von einer nachträglich erlassenen Veränderungssperre nicht berührt werden. Diese Vorhaben erweisen sich aber zudem mangels Verwaltungsakt als "widerrufsfest". Wäre dagegen im Fall einer Genehmigung auf Grund eines Baugenehmigungsverfahrens ein Widerruf unter Verweis auf eine nachträglich erlassene Veränderungssperre zulässig, würde die besondere Schutzwirkung, die mit der Erteilung einer Baugenehmigung verbunden ist, unterlaufen. Eine solche Auslegung würde eine Schlechterstellung des Bauherrn bedeuten, der über eine Baugenehmigung verfügt (VGH Mannheim, Beschluss vom 9. Januar 2001 - 3 S 2413.00 -, VBlBW 2001, 323, 324). Auch das stützt die aus der Systematik des § 49 Abs. 2 VwVfG abgeleitete und aus Sinn und Zweck gebotene restriktive Auslegung des Widerrufsgrundes gemäß § 49 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 VwVfG.

Dem Beklagten war es untersagt, planungsrechtliche Versäumnisse, die unter anderem mit kommunalrechtlichen Differenzen und dem damit verbundenen zeitlichen Vorlauf des aufsichtsrechtlichen Einschreitens zusammenhingen, im Wege des Widerrufs nach § 49 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 VwVfG zu korrigieren. § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwVfG macht deutlich, dass der Bauherr im Fall eines solchen Versäumnisses bis zum In-Kraft-Treten des Bebauungsplans auf die ihm erteilte rechtmäßige Baugenehmigung vertrauen darf.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. § 709 ZPO.

Die Revision war nicht zuzulassen, weil keiner der in § 132 Abs. 2 VwGO genannten Gründe vorliegt.

Ende der Entscheidung

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