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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Berlin
Beschluss verkündet am 15.09.2004
Aktenzeichen: OVG 6 S 219.04
Rechtsgebiete: BSHG, VwGO, AuslG


Vorschriften:

BSHG § 120 Abs. 3 Satz 1
VwGO § 146 Abs. 4 Satz 3
AuslG § 44 Abs. 1
AuslG § 44 Abs. 1 Nr. 2
AuslG § 44 Abs. 1 Nr. 3
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
OVG 6 S 219.04

In der Verwaltungsstreitsache

hat der 6. Senat des Oberverwaltungsgerichts Berlin am 15. September 2004 beschlossen:

Tenor:

Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 25. Mai 2004 wird geändert.

Der Antragsgegner wird im Wege einstweiliger Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin ab dem 30. April 2004 (Antragseingang beim Verwaltungsgericht) bis zum 30. November 2004, längstens bis zur Bestandskraft des Bescheides vom 26. April 2004, laufende Hilfe zum Lebensunterhalt zu gewähren.

Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe:

Das Verwaltungsgericht hat den auf die Gewährung laufender Hilfe zum Leensunterhalt gerichteten Rechtsschutzantrag mit der Begründung abgelehnt, die Antragstellerin, eine polnische Staatsangehörige, habe den Ausschlusstatbestand des § 120 Abs. 3 Satz 1 BSHG verwirklicht, da sie sich nach summarischer Prüfung in die Bundesrepublik Deutschland begeben habe, um hier Leistungen der Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen. Diese Entscheidung kann aus den mit der Beschwerde gemäß § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO dargelegten Gründen keinen Bestand haben.

Die Rückkehr der Antragstellerin aus Polen nach Berlin am 26. April 2004 ist nicht als Einreise im Sinne von § 120 Abs. 3 Satz 1 BSHG zu verstehen. Die Beschwerde macht zu Recht geltend, dass es sich um eine Rückkehr "nach Hause" im Anschluss an einen nur vorübergehenden Aufenthalt in Polen handelte und daher der Ausschlusstatbestand des § 120 Abs. 3 Satz 1 BSHG nicht greift. Dass nach einem vorübergehenden Verlassen der Bundesrepublik nicht jede Wiedereinreise als ein "sich in die Bundesrepublik Deutschland begeben" im Sinne des § 120 Abs. 3 Satz 1 BSHG anzusehen ist, verkennt das Verwaltungsgericht nicht. Nicht gefolgt werden kann ihm allerdings, soweit es im konkreten Fall von einem nicht nur vorübergehenden Auslandsaufenthalt ausgeht.

Für die Frage, ob ein vorübergehender oder ein dauerhafter Auslandsaufenthalt vorliegt, ist dabei mangels besonderer Regelungen im BSHG an die aufenthaltsrechtlichen Regelungen des Ausländergesetzes anzuknüpfen (VGH Kassel, Beschluss vom 19. Januar 1994 - 9 TG 161.94 -, ZFS 1994, 240 = FEVS 45, 307). Das Erlöschen der Aufenthaltsgenehmigung infolge eines Verlassens der Bundesrepublik ist für die hier interessierende Fallgestaltung in § 44 Abs. 1 AuslG geregelt. Danach erlischt eine Aufenthaltsgenehmigung stets und ohne Rücksicht auf die individuellen Umstände dann, wenn ein Ausländer nicht innerhalb von sechs Monaten oder einer von der Ausländerbehörde bestimmten längeren Frist wieder einreist, § 44 Abs. 1 Nr. 3 AuslG. Vor Ablauf dieser Frist erlischt eine Aufenthaltsgenehmigung nur unter der Voraussetzung, dass der Ausländer aus einem seiner Natur nach nicht vorübergehenden Grund ausreist, § 44 Abs. 1 Nr. 2 AuslG. Ob ein solcher Grund vorliegt, ist unter Berücksichtigung aller konkreten Gegebenheiten des Einzelfalles zu ermitteln. Der Grund muss seiner Art nach objektiv nicht nur eine vorübergehende Abwesenheit erfordern (Renner, Ausländerrecht, 7. Aufl. 1999, § 44 AuslG Rdnr. 8), wobei der Träger der Sozialhilfe nach der objektiven Beweislastverteilung im Rahmen des § 120 Abs. 3 Satz 1 BSHG die Last der Nichterweislichkeit der tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Norm trägt (VGH München, Urteil vom 18. März 1993 - 12 B 90.3340 -, FEVS 45, 338).

Bei Anlegung dieser Maßstäbe kann von einer endgültigen Ausreise nicht gesprochen werden. Es kann dabei dahingestellt bleiben, ob die Antragstellerin auf Grund der sich Ende Dezember 2003 verstärkenden psychischen Erkrankung von ihrem Vater nach Polen geholt wurde oder ob sie zunächst, wie sie mit der Beschwerde vorträgt, nur ihre Eltern besuchen wollte, dann aber ihr Aufenthalt dort in einen unvorhergesehenen Krankenaufenthalt umschlug. Denn in beiden Fallvariationen ist Ursache für die Ausreise bzw. den Verbleib im Ausland eine akute psychische Erkrankung. Die Behandlung einer derartigen Krankheit stellt aber regelmäßig keinen seiner Art nach objektiv nicht nur eine vorübergehende Abwesenheit erfordernden Grund dar. Allein die Tatsache, dass die Dauer der Behandlung nicht von vornherein bestimmbar gewesen sein mag, genügt nicht, um von einer dauerhaften Ausreise auszugehen. Hierzu müssten weitere Anhaltspunkte hinzukommen, und insbesondere erkennbar sein, dass die Behandlung nach den Umständen des Einzelfalles auf Dauer nur im Ausland erbracht werden kann oder soll. So liegt es hier aber nicht. Soweit das Verwaltungsgericht aus einem Aktenvermerk des Antragsgegners vom 26. Januar 2004 über eine Rücksprache mit der Betreuerin folgert, es sei unabsehbar gewesen, ob die Antragstellerin überhaupt zurückkommen werde, vermag dies deswegen nicht zu überzeugen, weil die Beutreuerin zu diesem Zeitpunkt keinen persönlichen Kontakt mit der Antragstellerin hatte und ihre Informationen auf Angaben eines namentlich in dem Aktenvermerk nicht näher genannten "Bekannten" der Antragstellerin beruhten. Es fehlt zudem an Anhaltspunkten dafür, dass die Erkrankung der Antragstellerin ihrer Natur nach eine Behandlung in Polen erforderlich macht oder hiervon im Zeitpunkt der Ausreise auszugehen war. Der Umstand, dass die Antragstellerin im Augenblick, als es ihr besonders schlecht ging, bei ihrer Familie geblieben ist oder von dieser abgeholt wurde, stellt ein bei intakten Familienverhältnissen normales und wünschenswertes Verhalten dar und lässt nicht den Schluss zu, eine Besserung des Gesundheitszustandes erfordere eine Aufgabe des bisherigen Lebensmittelpunktes in Deutschland und mache eine dauerhafte Rückkehr zur Familie erforderlich. Auch der von der Antragstellerin vorgelegten Bescheinigung der psychiatrischen Abteilung des polnischen Krankenhauses, wonach es sich um den ersten Krankenhausaufenthalt der Antragstellerin handelte und sie nach zweieinhalb Monaten symptomfrei entlassen wurde, lassen sich keine entsprechenden Anhaltspunkte entnehmen. Dass die Antragstellerin auch außerhalb des familiären Umfeldes und sogar unter den gegenwärtigen bedrückenden materiellen Verhältnissen erfolgreich behandelt werden kann, wird durch das von ihr mit der Beschwerde vorgelegte Attest ihres sie gegenwärtig behandelnden Arztes bestätigt.

Die sonstigen Lebensumstände der Antragstellerin bei ihrer Ausreise lassen ebenfalls nicht den Schluss zu, sie sei in der Absicht eines dauernden Aufenthaltes nach Polen gefahren. Die Antragstellerin lebt seit 1996 in der Bundesrepublik. Sie war seit diesem Zeitpunkt bis zu dessen Tod im Jahr 2003 mit einem deutschen Staatsangehörigen verheiratet. Ihren Lebensunterhalt hat sie bis 2003 durch eigenes Arbeitseinkommen verdient. Irgendwelche Anhaltspunkte für längere Aufenthalte der Klägerin in Polen lassen sich weder der Ausländerakte noch den Sozialhilfeakten entnehmen und werden vom Antragsgegner nicht geltend gemacht.

Die Antragstellerin hat bei ihrer Ausreise auch nicht durch Aufgabe der Wohnung und Mitnahme oder Veräußerung des Hausrates zu erkennen gegeben, dass sie ihren Aufenthalt in Berlin endgültig beenden will. Die Wohnung hat sie vielmehr erst während des Aufenthaltes in Polen durch eine Kündigung ihrer Betreuerin wegen aufgelaufener Mietschulden verloren. Die Mietschulden sind entstanden, weil die Antragstellerin nach dem plötzlichen Tod ihres Ehemannes nicht mehr in der Lage war, ihre Wohnungs- und Behördenangelegenheiten zu regeln (Vermerk des sozialpsychiatrischen Dienstes vom 29. April 2004). Der Hausrat ist sogar durch das Sozialamt in der zutreffenden Einschätzung einer Rückkehr der Antragstellerin eingelagert worden. Dass die Antragstellerin gegenwärtig nicht mehr über eine Wohnung verfügt und sich in gewisser Weise hier erst wieder eine Existenz aufbauen muss, ist bei der Beurteilung des Ausreisegrundes unerheblich. Daher spielt auch die vom Verwaltungsgericht aufgeworfene Frage, welche sozialen und menschlichen Kontakte der Antragstellerin im Zeitpunkt der Rückkehr noch verblieben sind, keine Rolle. Im Übrigen hat die Antragstellerin durch die mit der Beschwerde beigebrachten Bescheinigungen von Freunden und Bekannten das Bestehen sozialer Kontakte in Berlin dargelegt.

Schließlich sind auch die Antragstellerin und ihre Familie erkennbar von Anfang an nicht von einem auf Dauer angelegten Aufenthalt in Polen ausgegangen. So hat der Vater der Antragstellerin der Betreuerin in Berlin die Aufnahme in das Krankenhaus am 15. Januar 2004 unverzüglich und unter Vorlage einer ins Deutsche übersetzten ärztlichen Bescheinigung angezeigt. Hierzu hätte bei der Annahme einer dauernden Rückkehr nach Polen kein Anlass bestanden. Am 5. April 2004, also kurze Zeit nach der Entlassung der Antragstellerin aus dem Krankenhaus am 28. März 2004, hat er erneut bei der Betreuerin angerufen und die Rückkehr der Antragstellerin nach Berlin angekündigt. Die Rückkehr ist von der Antragstellerin nur auf Anraten ihrer Betreuerin, die noch die Unterkunftsfrage klären wollte, zunächst noch etwas herausgeschoben worden.

Es entspricht der ständigen Praxis des Senats, in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes eine Verpflichtung des Sozialhilfeträgers zur (vorläufigen) Leistung ab dem Antragseingang beim Verwaltungsgericht und für maximal drei Monate nach dem Zeitpunkt der Entscheidung des Senats auszusprechen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Ende der Entscheidung

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