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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Berlin
Beschluss verkündet am 30.07.2004
Aktenzeichen: OVG 8 S 336.02
Rechtsgebiete: AuslG, VwGO, AufenthG/EWG, StGB


Vorschriften:

AuslG § 45 Abs. 2 Nr. 2
AuslG § 47 Abs. 2 Nr. 1
AuslG § 47 Abs. 3 Satz 1
AuslG § 47 Abs. 3 Satz 2
AuslG § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2
VwGO § 4 Abs. 2 AG
AufenthG/EWG § 12 Abs. 7
AufenthG/EWG § 12 Abs. 8
StGB § 57 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
OVG 8 S 336.02

In der Verwaltungsstreitsache

hat der 8. Senat des Oberverwaltungsgerichts Berlin durch die Vizepräsidentin des Oberverwaltungsgerichts Xalter und die Richter am Oberverwaltungsgericht Dr. Schrauder und Weber am 30. Juli 2004 beschlossen:

Tenor:

Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 14. November 2002 wird geändert.

Die aufschiebende Wirkung der Klage - VG 10 A 384.01 - gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 30. August 2001 wird hinsichtlich der Ausweisung wiederhergestellt und bezüglich der Abschiebungsandrohung angeordnet.

Die Kosten des Verfahrens werden dem Antragsgegner auferlegt.

Der Wert des Beschwerdegegenstandes wird auf 2.000,- € festgesetzt.

Gründe:

I.

Der Antragsteller, ein türkischer Staatsangehöriger, reiste am 15. September 1990 im Wege des Kindernachzuges in das Bundesgebiet ein. Das Jugendschöffengericht Tiergarten in Berlin stellte mit Urteil vom 16. Januar 1995 fest, dass der Antragsteller der gefährlichen Körperverletzung schuldig ist, und wies ihn an, ein Anti-Gewalt-Seminar zu besuchen. Dasselbe Jugendschöffengericht verurteilte ihn am 23. Oktober 1995 wegen eines vorsätzlichen Verstoßes gegen das Waffengesetz in Tateinheit mit Bedrohung und Sachbeschädigung unter Einbeziehung des vorgenannten Urteils zu einer Jugendstrafe von einem Jahr, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Am 28. März 2000 erteilte ihm das Landeseinwohneramt Berlin eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. Mit Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 2. März 2000 wurde der Antragsteller wegen Körperverletzung mittels einer Waffe zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, deren weitere Vollstreckung das Landgericht Berlin mit Beschluss vom 5. September 2001 ab dem 14. September 2001 zur Bewährung aussetzte, wobei die Bewährungsfrist drei Jahre beträgt.

Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen seine wegen der letzten Bestrafung vom Landeseinwohneramt Berlin mit Bescheid vom 30. August 2001 auf der Grundlage der §§ 47 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 3 Satz 1, 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AuslG verfügte, von der Behörde für sofort vollziehbar erklärte Ausweisung und die gleichzeitig ausgesprochene, Kraft Gesetzes sofort vollziehbare Abschiebungsandrohung. Das Verwaltungsgericht hat den Antrag auf Wiederherstellung und Anordnung der aufschiebenden Wirkung (§ 80 Abs. 5 VwGO) der Klage (VG 10 A 384.01) mit Beschluss vom 14. November 2002 abgelehnt, weil es sich um eine Regelausweisung handele, an deren Rechtmäßigkeit keine ernstlichen Zweifel bestünden, sodass die sofortige Vollziehung im überwiegenden öffentlichen Interesse geboten sei.

Dagegen wendet sich der Antragsteller mit der Beschwerde.

II.

Die Beschwerde ist zulässig und begründet.

Bei der im Beschwerdeverfahren gebotenen summarischen Prüfung erweist sich der Bescheid des Antragsgegners vom 30. August 2001 nicht als offensichtlich rechtmäßig. Der Ausgang des Hauptsacheverfahrens ist vielmehr offen. Die vorzunehmende Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Ausreise nach dem privaten Bleibeinteresse des Antragstellers fällt zu seinen Gunsten aus.

Der Antrag, die aufschiebende Wirkung der Klage wiederherzustellen und anzuordnen (§ 80 Abs. 5 VwGO), scheitert nicht daran, dass der Antragsteller vor Klageerhebung Recht- und Zweckmäßigkeit des Bescheides in einem Vorverfahren hätte überprüfen lassen müssen. Das Widerspruchsverfahren (§ 68 Abs. 1 VwGO) ist in Fällen der vorliegenden Art durch § 4 Abs. 2 AG VwGO rechtswirksam abgeschafft worden (§ 68 Abs. 1 Satz 2, 1. Alt. VwGO), sodass unmittelbar nach dem Erlass des Bescheides der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten beschritten werden konnte.

Art. 9 Abs. 1 Richtlinie Nr. 64/221 des Rats der EWG vom 25. Februar 1964 zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind (Richtlinie Nr. 64/221 - ABl. EG 1964 S. 850, auch abgedruckt bei Renner, Ausländerrecht, 7. Aufl. 1999, S. 915), steht der Abschaffung des Vorverfahrens, in dem Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit des Verwaltungsaktes nachzuprüfen sind (§ 68 Abs. 1 Satz 1 VwGO), in Fällen türkischer Staatsangehöriger, denen Aufenthaltsrechte nach dem Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG/Türkei über die Entwicklung der Assoziation vom 19. September 1980 (InfAuslR 1982, 33 - ARB 1/80) zustehen, nicht entgegen. Denn Art. 9 Abs. 1 Richtlinie Nr. 64/221 ist auf türkische Staatsangehörige nicht anwendbar (vgl. BVerwG, Urteil vom 29. September 1998 - 1 C 8.96 - InfAuslR 1999, 54, 57 und VGH BW, Urteil vom 27. Januar 2004 - 10 S 1610.03 - InfAuslR 2004, 189 [190 f.] zur Nichtanwendbarkeit von Art. 6 und Art. 7 bzw. Art. 8 und Art. 9 der Richtlinie 64/221 auf türkische Staatsangehörige). Es handelt sich um eine verfahrensrechtliche Norm, die nur für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten gilt (vgl. zur Ausweisung von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten: Europäischer Gerichtshof [EuGH], Urteil vom 29. April 2004 - Rs C-482.01 und Rs C-493.01 - Orfanopoulos/Oliveri).

Die Richtlinie Nr. 64/221 ist nach ihrem Art. 11 ausdrücklich nur an die Mitgliedstaaten gerichtet und ist hinsichtlich ihrer Art. 6 und 7 durch § 12 Abs. 7 und 8 AufenthG/EWG in innerstaatliches Recht umgesetzt worden. Sie ergänzt aber nicht zugleich das Assoziationsrecht mit unmittelbarer innerstaatlicher Rechtswirkung. Eine Verpflichtung, die verfahrensrechtlichen Garantien der Richtlinie Nr. 64/221 auch für türkische Staatsangehörige in innerstaatliches Recht umzusetzen, haben die Mitgliedstaaten gegenüber der Türkei weder in dem Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei vom 12. September 1963 (BGBl. 1964 II, 509/1959) und dem dazu vereinbarten Zusatzprotokoll vom 23. November 1970 (BGBl. 1972 II, 385/1973, II, 113) noch in dem auf dieser Grundlage ergangenen Assoziationsratsbeschluss Nr. 1/80 übernommen. Zwar leitet der Europäische Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung aus dem Wortlaut des Art. 12 des Assoziierungsabkommens und des Art. 36 des Zusatzprotokolls sowie aus dem Zweck des Assoziationsratsbeschlusses 1/80 her, dass die im Rahmen der Art. 39 ff. des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft i.d.F. vom 2. Oktober 1997 (EGV) geltenden Grundsätze soweit wie möglich auf türkische Arbeitnehmer, die die in diesem Beschluss eingeräumten Rechte besitzen, übertragen werden sollen (Urteil vom 6. Juni 1995 - Rs. C-434.93 - Bozkurt, NVwZ 1995, 1093 [1094], Rn. 14, 19 ff. und vom 10. Februar 2000 - Rs. C-340.97 - Nazli, DVBl. 2000, 550, 552, Rn. 54 m.w.N.). Dies gilt aber nur für die in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs anerkannten allgemeinen materiell-rechtlichen Grundsätze, z.B. zur Rechtmäßigkeit der Beschränkung von Grundfreiheiten und nicht für besondere prozessuale Rechte (BVerwG, Urteil vom 29. September 1998, a.a.O.; VGH BW, a.a.O.), die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union im Interesse der möglichst effektiven Verwirklichung der ihnen unmittelbar zustehenden Grundfreiheiten erst durch besondere sekundärrechtliche Vorschriften, hier die Richtlinie Nr. 64/221, eingeräumt worden sind. Eine andere Beurteilung ist nicht deshalb angezeigt, weil der Europäische Gerichtshof die von ihm entwickelten materiell-rechlichen Grundsätze zur Rechtmäßigkeit der Beschränkung der Grundfreiheit der Freizügigkeit der Arbeitnehmer, die Angehörige der Mitgliedstaaten sind, auf die Ausweisung von türkischen Staatsangehörigen anwendet, die die im Assoziationsratsbeschluss 1/80 eingeräumten Rechte besitzen (Urteil vom 6. Juni 1995, a.a.O. und vom 10. Februar 2000, a.a.O., Rn. 56). Dies ist nur deshalb gerechtfertigt, weil die Rechtsstellung türkischer Staatsangehöriger, die Rechte nach Art. 6 und 7 ARB 1/80 genießen, weitgehend derjenigen der Angehörigen der Mitgliedstaaten angeglichen werden soll. Nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs wird das durch den in Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit vorgesehenen Vorbehalt untermauert, der nahezu denselben Wortlaut hat wie der in Art. 39 Abs. 3 EGV (ehemals Art. 48 Abs. 3 EGV a.F.) enthaltene. Eine entsprechende, die Gleichstellung von Unionsangehörigen und türkischen Staatsangehörigen gestattende Entscheidung des Assoziationsrates ist für die in der Richtlinie Nr. 64/221 geregelten besonderen prozessualen Rechte, die der effektiven Wahrnehmung der Grundfreiheiten durch die Angehörigen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union dienen, aber nicht ergangen.

Die Frage, ob die Richtlinie Nr. 64/221, die nach ihrem Art. 1 Abs. 1 nur für Staatsangehörige eines Mitgliedstaates gilt, die von ihren europarechtlichen Freizügigkeitsrechten Gebrauch machen, auch türkische Staatsangehörige erfasst, deren assoziationsrechtliche Rechtsstellung derjenigen der Angehörigen der Mitgliedstaaten der Gemeinschaft weitgehend angenähert ist, ohne dass ihnen die den Angehörigen der Mitgliedstaaten vorbehaltenen Freizügigkeitsrechte originär zustehen, kann der Senat ohne Verstoß gegen Art. 234 Abs. 3 EGV selbst entscheiden. Zwar hat der Österreichische Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 18. März 2003 (Zlen. EU 2003/0001, 0002-1-99/21/0018, 2002/21/0067, zitiert nach VGH BW, Urteil vom 17. Januar 2004 - 10 S 1610.03 - InfAuslR 2004, 189 [190]) dem Europäischen Gerichtshof die Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt, ob die Rechtsschutzgarantien der Art. 8 und 9 der Richtlinie Nr. 64/221 auf türkische Staatsangehörige anzuwenden sind, die Rechte nach Art. 6 oder 7 ARB 1/80 genießen; in eilbedürftigen oder summarischen Verfahren sind die Gerichte aber selbst dann nicht zur Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 234 Abs. 3 EGV verpflichtet, wenn ihre Entscheidungen nicht mehr mit Rechtsmitteln angefochten werden können (Krück, in Groeben/Thiesing/Ehlermann, Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, Bd. 4, 5. Aufl. Art. 177 [jetzt Art. 234] Rn. 70 mit Nachweisen aus der Rspr. des EuGH).

In materiell-rechtlicher Hinsicht ist der angefochtene Bescheid nicht offensichtlich rechtmäßig, sondern der Ausgang des Hauptsacheverfahrens vielmehr offen.

Der Antragsteller erfüllt, wie das Verwaltungsgericht zutreffend erkannt hat, den Regelausweisungstatbestand des § 47 Abs. 2 Nr. 1 AuslG, denn er ist durch Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 2. März 2000 wegen Körperverletzung mittels einer Waffe zu einer nicht zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt worden. Dass das Landgericht Berlin - Strafvollstreckungskammer - den Rest der Freiheitsstrafe gemäß § 57 Abs. 1 StGB ab dem 14. September 2001 für drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt hat, ändert nichts am Vorliegen des Ausweisungstatbestandes (BVerwG, Beschluss vom 25. März 1994 - 1 B 30/94 - zitiert nach juris).

Entgegen der Auffassung des Antragstellers ist dieser Ausweisungstatbestand nicht etwa deshalb "verbraucht", weil ihm am 28. März 2000 eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erteilt worden ist. Das wäre dann der Fall, wenn er infolge der unbefristeten Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis schutzwürdig hätte darauf vertrauen dürfen, dass der Antragsgegner die Verurteilung zu einer gemäß § 47 Abs. 2 Nr. 1 AuslG relevanten Freiheitsstrafe nicht zum Anlass für eine Ausweisung nehmen werde (Senatsbeschluss vom 30. Januar 2003 - OVG 8 S 195.02 -; HessVGH, Beschluss vom 14. März 1996 - 12 TG 360.96 - EZAR 030 Nr. 5; Funke-Kaiser, in GK-AuslR, Stand August 1994, § 45 AuslG Rn. 733; Renner, Ausländerrecht in Deutschland 1998, 5. Teil Rn. 472, 7. Teil Rn. 100; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand Februar 2001, § 7 AuslG Rn. 18 ff.; Jakober/Welte, Aktuelles Ausländerrecht, 27. Erg.-Lief., § 7 Rn. 62; einschränkend Fraenkel, Einleitende Hinweise zum neuen Ausländergesetz, 1992 S. 128). Dies wiederum setzt voraus, dass der Antragsteller annehmen konnte, die ihm erteilte unbefristete Aufenthaltserlaubnis sei in Kenntnis der Verurteilung vom 2. März 2000 ausgesprochen worden. Das ist indessen nicht der Fall.

Der Inhalt der Ausländerakte gibt das nicht her. Eine Abschrift des amtsgerichtlichen Urteils vom 2. März 2000 ist dem Antragsgegner am 4. Mai 2000, also erst nach der Erteilung der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis zugegangen, sodass er im Erteilungszeitpunkt keine Kenntnis von der für das Vorliegen des Ausweisungstatbestandes maßgeblichen strafgerichtlichen Verurteilung hatte. Allerdings war ihm vor dem 28. März 2000, nämlich bereits im Mai 1999, bekannt geworden, dass der Antragsteller am 4. Mai 1999 in Untersuchungshaft genommen worden war. Der Antragsgegner hatte aber am 8. Juni 1999 erfahren, dass der Antragsteller bereits am 21. Mai 1999 aus dieser Haft entlassen worden war, sodass er der Verhaftung des Antragstellers keine besondere Bedeutung beimessen musste und insbesondere nicht gehalten war, Ermittlungen zum Grunde der Verhaftung anzustellen.

Der Senat sieht sich, anders als das Verwaltungsgericht, bei summarischer Prüfung nicht in der Lage, dem Antragsteller derzeit besonderen Ausweisungsschutz (gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AuslG) vorzuenthalten. Im Zeitpunkt der Ausweisung besaß dieser eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis und war nach seinen Angaben zum Geburtsdatum als Minderjähriger in das Bundesgebiet eingereist. Zwar bestehen erhebliche Zweifel daran, dass der Antragsteller tatsächlich - wie er behauptet - am 16. August 1975 geboren wurde; sein wirkliches Alter und die damit einhergehende Frage, ob er als Minder- oder Volljähriger in das Bundesgebiet eingereist ist, können aber im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nicht abschließend geklärt werden; dies ist vielmehr dem Hauptsacheverfahren vorzubehalten.

Die vom Antragsteller im Beschwerdeverfahren vorgelegte Geburtsurkunde ist nicht geeignet, die Zweifel am Geburtsdatum zu beheben. Ihr fehlt der erforderliche Beweiswert. Die Registrierung der Geburt erfolgte danach auf den Tag genau 15 Jahre nach dem angeblichen Geburtstermin, also in keinem zeitlichen Zusammenhang mit der Geburt selbst, aber einen Monat vor der Einreise des Antragstellers in das Bundesgebiet am 15. September 1990. Diese Datierung könnte darauf zurückzuführen sein, dass der Geburtszeitpunkt des Antragstellers so manipuliert worden ist, dass er im Zeitpunkt der Einreise als ein unter 16 Jahre alter Jugendlicher die Voraussetzungen eines Kindernachzuges zu erfüllen schien. Ein mit der erforderlichen Zuverlässigkeit urkundlich belegbares Geburtsdatum des Antragstellers ergibt sich entgegen seiner Auffassung auch nicht daraus, dass in den diversen gegen ihn geführten Strafverfahren das von ihm angegebene Alter ohne eingehende Prüfung zu Grunde gelegt und er infolge dessen in mehreren Strafverfahren als Jugendlicher behandelt worden ist, obwohl er bereits volljährig gewesen sein könnte.

Die Angaben seines Vaters zu Anzahl, Namen und Geburtsdaten seiner Kinder erlaubt ebenfalls keine hinreichend zuverlässige Feststellung, ob der Antragsteller als Minderjähriger oder Volljähriger in das Bundesgebiet eingereist ist. Der Vater des Antragstellers reiste im Jahre 1980 als kurdischer Asylbewerber hier ein, heiratete im Juni 1982 eine deutsche Staatsangehörige, von der er sich, nachdem er einen sicheren Aufenthaltsstatus erlangt hatte, scheiden ließ, um erneut seine frühere türkische Ehefrau zu heiraten. In den verschiedenen zu Alter und Zahl seiner Kinder gegenüber der Ausländerbehörde abgegebenen Erklärungen hat der Vater stets nur vier Kinder erwähnt. Soweit er ihre Vornamen angegeben hatte, was wiederholt geschehen ist, wird derjenige des Antragstellers nie genannt. Anlässlich einer Vorsprache bei der Ausländerbehörde in Schwelm, in deren Zuständigkeitsbereich der Vater des Antragstellers seinerzeit lebte, erklärte er am 2. Dezember 1985 wörtlich:

"Ich habe noch 4 Kinder in der Türkei zwischen 15 und 2 1/2 Jahren. Das Sorgerecht habe ich. Die Kinder leben bei meiner Mutter. Evtl. will ich sie nach Deutschland holen."

Wenn diese Angaben richtig sind, ist die Tochter D_____ nicht das älteste Kind, weil sie 1974 geboren sein soll; vielmehr müsste danach ein älteres Kind vorhanden sein. Bei dem damals 15-jährigen Kind könnte es sich durchaus um den Antragsteller handeln. Das Geburtsjahr 1970 könnte für den Antragsteller zutreffen und würde gut zu seinem Erscheinungsbild und dazu passen, dass als Geburtsjahr der Mutter des Antragstellers ursprünglich 1952 angegeben worden war. Zuletzt erwähnte der Vater des Antragstellers bei dem Antrag auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis vom 14. April 1986 wiederum vier Kinder mit Namen, jedoch nicht den Antragsteller. Eine plausible Erklärung dafür, warum der Vater des Antragstellers in zahlreichen Erklärungen gegenüber dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge und der Ausländerbehörde nur vier Kinder erwähnte, obgleich bei der Stellung des Asylantrages nach den Angaben der Mutter des Antragstellers bereits sechs Kinder geboren gewesen sein müssten, gibt es allenfalls für die während der Ehe des Vaters des Antragstellers mit der deutschen Staatsangehörigen geborenen Kinder, zu denen der Antragsteller jedoch nicht gehört; der bloße Hinweis des Antragstellers, dass sein Nachzug bzw. der der anderen, nicht erwähnten Kinder habe unterbleiben sollen, überzeugt nicht, weil die (zum Teil formularmäßigen) Fragen nach den Kindern ohne solche Einschränkung gestellt und daher entsprechend zu beantworten waren. - Es erscheint überdies denkbar, dass andere junge Verwandte als Kinder ausgegeben worden sein könnten, um ihnen Einreise und Aufenthalt im Bundesgebiet zu ermöglichen. Dass die Angaben der Eltern des Antragstellers zur Zahl ihrer Kinder und deren Geburtsdaten beliebig, vor allem verfahrensangepasst sind, ergibt auch die Erklärung des Vaters des Antragstellers in dem Strafverfahren (Gesch.-Z.: 63 Js 2023/96 Ns) vor dem Landgericht Berlin. Ausweislich des in jenem Verfahren ergangenen Urteils vom 12. März 1998 hat dieser angegeben, 13 leibliche Kinder zu haben, wovon neun in Deutschland lebten.

Erst nachdem der Vater des Antragstellers seine frühere türkische Ehefrau, deren Geburtsjahr von ihr selbst anlässlich ihres Antrages auf Erteilung eines Visums zum Ehegattennachzug mit 1958 angegeben worden ist, erneut geheiratet hatte, gab diese nach der Einreise am 9. März 1991 in ihrem Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis anstelle von vier insgesamt sieben im Zeitraum vom 11. Oktober 1974 bis zum 16. August 1985 geborene Kinder an, darunter erstmals den Antragsteller. Selbst wenn danach das Geburtsdatum des Antragstellers und nicht das der Tochter D_____ zurückdatiert worden sein könnte, um ihm den Kindernachzug zu ermöglichen, rechtfertigen die aufgezeigten Zweifel allerdings andererseits nicht mit hinreichender Zuverlässigkeit die Annahme, der Antragsteller habe in dem für die Zuerkennung besonderen Ausweisungsschutzes maßgeblichen Zeitpunkt der Einreise (15. September 1990) bereits das 18. Lebensjahr vollendet gehabt. Dazu bedarf es ggf. der Altersbestimmung durch ein entsprechendes medizinisches Gutachten, dessen Einholung dem Hauptsacheverfahren vorzubehalten ist.

Ist im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes daher zu Gunsten des Antragstellers anzunehmen, dass er besonderen Ausweisungsschutz (§ 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AuslG) genießt, so ist gemäß § 47 Abs. 3 Satz 2 AuslG davon auszugehen, dass über seine Ausweisung nach Ermessen zu entscheiden war. Solches Ermessen hat das Landeseinwohneramt Berlin ausgeübt. Dabei hat es jedoch entgegen §§ 47 Abs. 3 Satz 2, 45 Abs. 2 Nr. 2 AuslG die Folgen der Ausweisung für die Familienangehörigen des Antragstellers, die sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten und mit ihm in familiärer Lebensgemeinschaft leben, nicht berücksichtigt, sondern ist ausweislich der Begründung des Ausweisungsbescheides unzutreffend davon ausgegangen, dass der Antragsteller nicht über besondere schutzwürdige persönliche Bindungen im Bundesgebiet verfüge.

Der Antragsteller lebte indessen in dem nach innerstaatlichem Recht für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisungsverfügung vom 30. August 2001, die seinem Verfahrensbevollmächtigten am 10. September 2001 gegen Empfangsbekenntnis ausgehändigt worden war, mit einer türkischen Staatsangehörigen, die über eine (befristete) Aufenthaltserlaubnis verfügt, in eheähnlicher Lebensgemeinschaft. Letzteres hat die Lebensgefährtin des Antragstellers glaubhaft eidesstattlich versichert. Aus dieser Verbindung ist das am 22. August 2000 geborene Kind S_____ hervorgegangen, dessen Vaterschaft der Antragsteller am 28. November 2000 anerkannte und mit dem er gemeinsam mit der Mutter in familiärer Lebensgemeinschaft zusammen lebt. Die nachträgliche, erst im gerichtlichen Verfahren erfolgte Geltendmachung dieser familiären Bindungen, steht ihrer entscheidungserheblichen Berücksichtigung zu Gunsten des Antragstellers nicht entgegen. Zwar obliegt es ihm, seine Belange und für ihn günstige Umstände, soweit sie nicht offensichtlich oder bekannt sind, unverzüglich geltend zu machen und die erforderlichen Nachweise über seine persönlichen Verhältnisse unverzüglich beizubringen (§ 70 Abs. 1 Satz 1 AuslG); auch kann die Ausländerbehörde, wie hier mit Anhörungsschreiben vom 7. Mai 2001 geschehen, ihm dafür eine angemessene Frist setzen, mit der Folge, dass sie nach Fristablauf geltend gemachte Umstände und beigebrachte Nachweise außer Acht lassen kann (§ 70 Abs. 1 Sätze 2 und 3 AuslG). Der Verstoß gegen diese Obliegenheiten hat jedoch nicht zur Folge, dass die dem Antragsteller günstigen Umstände auch im gerichtlichen Verfahren unberücksichtigt bleiben können (Renner, Ausländerrecht, 7. Aufl. 1999, § 70 Rn. 10 m.w.N.). Allerdings ist es dem Antragsgegner bei nachträglicher Geltendmachung solcher Umstände nicht verwehrt, durch Nachschieben von Ermessenserwägungen (vgl. § 114 Satz 2 VwGO) zu reagieren, um die Aufhebung der Ausweisungsverfügung zu vermeiden. Der Antragsgegner hat es indessen in seinem Schriftsatz vom 21. Januar 2002 in der Sache abgelehnt, solche zusätzlichen Ermessenserwägungen anzustellen, indem er den Antragsteller darauf hingewiesen hat, es bleibe ihm unbenommen, wegen der Vaterschaftsanerkennung zu gegebener Zeit einen Antrag auf Befristung der Wirkungen der Ausweisung zu stellen (§ 8 Abs. 2 Sätze 3 und 4 AuslG). Diesen Standpunkt hat er auch nach Anzeige der Geburt weiterer Kinder des Antragstellers mit Schriftsatz vom 2. April 2004 bekräftigt.

Sofern der Antragsgegner beabsichtigt, die fehlenden Ermessenserwägungen nachzuholen, wird er zusätzlich Folgendes zu prüfen haben: Der Antragsteller lebt nach seinen Angaben im Beschwerdeverfahren auch mit seinen zwei weiteren am 29. März 2002 und am 18. November 2003 geborenen Kindern in familiärer Lebensgemeinschaft. Zwar handelt es sich dabei um persönliche Verhältnisse, die nach dem Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisungsverfügung entstanden sind; europarechtlich könnte die Beachtlichkeit solch nachträglicher Entwicklung jedoch zu bejahen sein, sofern der Antragsteller über eine assoziationsrechtlich erhebliche Rechtsposition der Art. 6 und/oder 7 ARB 1/80 verfügt und sofern die weiteren Voraussetzungen für eine Berücksichtigung nachträglicher Entwicklungen gegeben sind (vgl. zur Ausweisung von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten, EuGH, Urteil vom 29. April 2004, a.a.O., Tz. 72 ff. [82]).

Ist die Ausweisungsverfügung demnach nicht offensichtlich rechtmäßig, weil tatsächliche und ggf. rechtliche Fragen zu klären sind, so ist es dem Antragsteller nicht zuzumuten, vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens die familiären Beziehungen zu seinen sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhaltenden noch sehr jungen und daher auf seine ständige Anwesenheit in besonders hohem Maße angewiesenen Kinder auf längere Zeit zu unterbrechen (vgl. zur Bedeutung des Kindesalters, BVerfG, Beschluss vom 31. August 1999 - 2 BvR 1523.99 - NVwZ 2000, 282 [284]). Das öffentliche Interesse der Allgemeinheit daran, dass der Antragsteller, dessen Gefährlichkeit wegen wiederholten Schusswaffengebrauchs nicht von der Hand zu weisen ist, alsbald die Bundesrepublik Deutschland verlässt, muss zurückstehen, zumal da eine Wiederholungsgefahr sich durch die im Zeitpunkt der Straftaten noch nicht gegebene Verfestigung der familiären Verhältnisse des Antragstellers vermindert haben könnte. Außerdem ist hier zu Gunsten des Antragstellers zu berücksichtigen, dass das Landgericht die Vollstreckung eines Restes der Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt hat, weil es von einer Nachreifung während der Haft ausgegangen ist. Maßgebend für die landgerichtliche Bewertung war vor allem, dass der Antragsteller bei seiner dortigen Anhörung sein Versagen in der zur Verurteilung führenden Tatsituation unumwunden eingeräumt hat. Durch sein insgesamt reflektiertes Verhalten vermochte er dem dortigen Richter den Eindruck zu vermitteln, aus jenem Versagen die Konsequenz gezogen zu haben, in ähnlichen Konfliktsituationen, die sich jederzeit wiederholen könnten, entweder dem Konflikt aus dem Wege zu gehen oder aber sich auf eine angemessene verbale Auseinandersetzung zu beschränken.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Festsetzung des Wertes des Beschwerdegegenstandes beruht auf §§ 20 Abs. 3, 14 Abs. 1, 13 Abs. 1 Satz 2 GKG a.F.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Ende der Entscheidung

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