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Gericht: Oberverwaltungsgericht Brandenburg
Beschluss verkündet am 27.11.2002
Aktenzeichen: 4 B 196/02
Rechtsgebiete: VwGO, BSHG, EinglH-VO, SGB IX, SGB VIII


Vorschriften:

VwGO § 123 Abs. 1 Satz 2
BSHG § 7 Satz 2
BSHG § 39
BSHG § 40 Abs. 1
BSHG § 93 Abs. 2
BSHG § 93 Abs. 3
EinglH-VO § 1
EinglH-VO § 2
EinglH-VO § 3
SGB IX § 4 Abs. 3
SGB IX § 10
SGB VIII § 8
Im Rahmen der sozialhilferechtlichen Eingliederungshilfe führt der aus einer leichten geistigen Behinderung resultierende Integrationsbedarf nur ausnahmsweise zu einem Anspruch auf Leistungsgewährung in Form der Unterbringung in einer stationären Einrichtung.

Bei Bestimmung der richtigen Form der Eingliederungshilfe ist ein geistig leicht behinderter Jugendlicher nach seinem Entwicklungsstand anzuhören und zu beteiligen.


OBERVERWALTUNGSGERICHT FÜR DAS LAND BRANDENBURG BESCHLUSS

4 B 196/02

In dem verwaltungsgerichtlichen Verfahren

wegen Sozialhilferechts (Eingliederungshilfe);

hier: Beschwerde

hat der 4. Senat am 27. November 2002 durch den ..., den ... und den ...

beschlossen:

Tenor:

Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Potsdam vom 4. Juli 2002 geändert.

Der Antrag, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die Kosten einer stationären Unterbringung der Antragstellerin nach dem Schulunterricht vorläufig zu übernehmen, wird abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, trägt die Antragstellerin.

Gründe:

I.

Die Antragstellerin begehrt Eingliederungshilfe in Form der Kostenübernahme für eine vollstationäre Unterbringung nach dem Schulunterricht.

Die am ... 1987 geborene Antragstellerin, einziges Kind ihrer Eltern, leidet seit ihrer Kindheit an Neurodermitis und entwickelte sich in verschiedener Hinsicht geistig und körperlich verzögert. Seit Trennung der Eltern im Jahr 1996 lebt die Antragstellerin bei ihrer Mutter, die das alleinige Sorgerecht innehat.

Nach Einschulung im Jahr 1994 wurde sie bis zum Schuljahresende 1999/2000 an der Kooperationsschule in ... integrativ unterrichtet. Trotz zusätzlicher Förderung und logopädischer Behandlung wurde im Jahr 1998 festgestellt, dass sie durch die Beschulung nach dem Lehrplan für die allgemeine Förderschule überfordert war. Seitdem wird sie nach dem Rahmenplan für Menschen mit geistiger Behinderung unterrichtet.

Mit Bescheid vom 23. März 2000 stellte das Staatliche Schulamt für den Landkreis Havelland sonderpädagogischen Förderbedarf im Sinne einer geistigen und körperlichen Behinderung fest, der durch Zuweisung an die Förderschule für geistig Behinderte in ... ab dem Schuljahr 2000/2001 durch Unterricht in der Oberstufe nach den Unterrichtsvorgaben für die Förderschule für geistig Behinderte zu decken ist. Ein hiergegen gestellter Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz ist mit Beschluss des Verwaltungsgerichts Potsdam vom 25. August 2000 (Az.: 2 L 1035/00) abgelehnt worden. Das darauf bezogene Klageverfahren vor dem Verwaltungsgericht Potsdam (Az.: 12 K 2852/00) ist im Termin der mündlichen Verhandlung am 17. September 2001 zurückgenommen worden. Die Antragstellerin besucht seit dem Schuljahr 2000/2001 die Förderschule für geistig Behinderte in ... Es ist ihr ein Ausweis über eine Schwerbehinderung mit einem Grad von 50 % ausgestellt worden.

Im Verfahren der ersten Instanz hat die Antragstellerin beantragt,

den Antragsgegner unter Aufhebung seiner bisherigen Ablehnungsbescheide zu verpflichten, der Antragstellerin Eingliederungshilfe für die Unterbringung der Antragstellerin nach dem Schulunterricht in einem Internat zu gewähren.

Das Verwaltungsgericht Potsdam hat den Antrag dahin ausgelegt, dass die Antragstellerin vorrangig die Übernahme der Kosten für die Unterbringung in dem Schulinternat des ... begehrt und ihm unter der einschränkenden Bedingung stattgegeben, dass die Antragstellerin in die Förderschule für geistig Behinderte oder eine nicht gemischte Förderschulklasse für geistig Behinderte des ... aufgenommen wird und dies dem Antragsgegner nachweist. Im Übrigen hat es den Antrag abgewiesen.

Mit der eingelegten Beschwerde wendet sich der Antragsgegner gegen den Beschluss, soweit das Verwaltungsgericht dem Begehren der Antragstellerin stattgegeben hat.

II.

Die Beschwerde des Antragsgegners hat Erfolg, denn dem im Beschwerdeverfahren noch streitgegenständlichen Antrag der Antragstellerin auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, soweit ihm das Verwaltungsgericht stattgegeben hat, steht auch in der vom Verwaltungsgericht eingeschränkten Weise kein Anordnungsanspruch zur Seite.

Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern. Der Antragsteller hat sowohl das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs als auch das Vorliegen eines Anordnungsgrundes nach § 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO glaubhaft zu machen.

Vorliegendenfalls hat die Antragstellerin keinen Anordnungsanspruch für die begehrte Leistung der Eingliederungshilfe mit der für die Vorwegnahme der Hauptsache erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit glaubhaft gemacht. Zwar ist nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes allein gebotenen summarischen Prüfung davon auszugehen, dass sie dem anspruchsberechtigten Personenkreis nach § 39 Abs. 1 Satz 1 BSHG angehört und daher grundsätzlich einen Anspruch auf Eingliederungshilfe hat (1.), jedoch sind keine Umstände hinreichend erkennbar, welche diesen Anspruch dahin konkretisierten, dass der Eingliederungsbedarf die Unterbringung in eine vollstationäre Einrichtung bzw. die Kostenübernahme für eine solche Unterbringung zwingend erfordert (2.).

1. Die Antragstellerin ist geistig behindert im Sinne des § 39 Abs. 1 Satz 1 BSHG i. V. m. § 2 Abs. 1 Satz 1 des 9. Buches des Sozialgesetzbuches - SGB IX. Nach letztgenannter Vorschrift sind Menschen dann geistig behindert, wenn ihre geistige Fähigkeit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Nach § 2 der Eingliederungshilfe-Verordnung vom 27. Mai 1964 (BGBl. I, S. 339) in der Fassung des Gesetzes zur Reform der Arbeitsförderung vom 19. Juni 2001 (BGBl. I, S. 1046) - EinglH-VO - sind Personen im Sinne des § 39 Abs. 1 Satz 1 BSHG dann geistig wesentlich behindert, wenn sie infolge einer Schwäche ihrer geistigen Kräfte in erheblichem Umfange in ihrer Fähigkeit zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft eingeschränkt sind.

So liegt es hier ausweislich der vorliegenden Befunde und Berichte. Nach dem Bericht der Landesklinik ... vom 4. Februar 2002 verfügt die Antragstellerin über ein allgemeines intellektuelles Leistungspotential, das nach Untersuchung ihrer Fähigkeiten in den Bereichen Allgemeinwissen/Rechtschreibkenntnisse, abstrakt-logisches Denken, sprachliche Fähigkeiten und Arbeitshaltung/Aufmerksamkeit mit dem Intelligenzquotienten von 57 berechnet und als "sehr unterdurchschnittliche Leistungsfähigkeit" bezeichnet worden ist. Im Ergebnis wurde festgestellt, dass die Antragstellerin ein unterdurchschnittliches Leistungsniveau mit relativen Stärken im sprachlichen Bereich zeigt, und die Behinderung als leichte intellektuelle Behinderung (Debilität) ICD-10: F 70 eingestuft. Diese Bewertung wird von der fachärztlichen Stellungnahme des Gesundheitsamtes des Landkreises Havelland vom 15. März 2002 und vom ergänzenden Befundbericht des Sozialpädiatrischen Zentrums an der ... (SPZ) vom 17. Dezember 2001 gestützt. Dass sich die geistige Beeinträchtigung über sechs Monate hinzieht, ergibt sich schon aus dem im Befundbericht des SPZ vom 30. Juni 1999 wiedergegebenen Entwicklungsverlauf der Antragstellerin und der dort geschilderten psychologischen Symptomatik. Soweit allerdings in dem letztgenannten Bericht abweichend von den beiden neueren Berichten von einer mittelgradigen mentalen Retardierung ausgegangen worden war, scheint diese Einschätzung durch die Entwicklung der Antragstellerin in den vergangenen drei Jahren überholt. Die Antragstellerin ist auch wesentlich behindert, denn im Rahmen ihres stationären Aufenthalts in der ... vom 12. Oktober 2001 bis zum 30. November 2001 konnte behinderungsbedingt ein großes Antriebsdefizit festgestellt werden. So habe sie keine eigenen Ideen, lasse sich immer wieder schwer zu Beschäftigungen motivieren und zeige häufig wenig Ausdauer. Aufgrund ihrer Intelligenzminderung habe sie wenig Möglichkeiten, im häuslichen Umfeld Kontakt zu gleichaltrigen Kindern zu pflegen, da sie durch ihr "Anderssein" ausgegrenzt werde und sich zurückziehe. Dies bestätigt das amtsärztliche Gutachten des Gesundheitsamtes vom 3. Januar 2002, welche die schlechte häusliche Betreuungssituation und mangelnde soziale Integration hervorhebt. Im Ergebnis lässt sich feststellen, dass die leichte geistige Behinderung dazu führt, dass die Antragstellerin in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, im Sinne von § 39 Abs. 1 Satz 1 BSHG eingeschränkt ist.

Ob die Antragstellerin zugleich auch körperlich behindert im Sinne des § 39 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 1 EinglH-VO ist, lässt sich nach gegenwärtiger Sachlage nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit feststellen. Weder im o.g. Bericht der Landesklinik ... noch in der fachärztlichen Stellungnahme des Gesundheitsamtes des Landkreises ... vom 15. März 2002 finden sich hierzu hinreichend eindeutige Feststellungen dafür, dass die Antragstellerin aufgrund ihrer Erkrankungen wesentlich in ihrer Fähigkeit, am Leben in der Gesellschaft teilhaben zu können, beeinträchtigt wäre (vgl. § 1 Eingl-VO). Vielmehr werden die körperlichen Beeinträchtigungen der Antragstellerin in der Stellungnahme des Gesundheitsamtes sogar als unwesentlich eingestuft. Entgegen der Ansicht der Antragstellerin lässt sich auch der fachärztlichen Stellungnahme des Gesundheitsamtes vom 3. Januar 2002 nichts Gegenteiliges entnehmen, denn die dort bejahte Mehrfachbeeinträchtigung wurde nicht als Mehrfachbehinderung, sondern ausschließlich als geistige Behinderung qualifiziert. Es liegt auch keine körperliche Behinderung im Sinne von § 1 Abs. 3 EinglH-VO vor, denn das nächtliche Einnässen, die Neurodermitis oder die Asthmaanfälle stellen sich weder allein noch im Zusammenwirken als organische Fehlfunktionen oder Erkrankungen der Haut dar, welche das körperliche Leistungsvermögen der Antragstellerin in erheblichem Umfang einschränken (vgl. Schellhorn/Schellhorn, BSHG 16. Aufl. 2002, § 1 EinglH-VO Rn. 9). Auch die in früheren Gutachten und Befunden des SPZ festgestellte statomotorische Retardierung, die leichte allgemeine Muskelhypotonie sowie der Strabismus finden im Bericht der Landesklinik ... vom 4. Februar 2002 wie auch im letzten Bericht des SPZ vom 17. Dezember 2001 keine Erwähnung mehr; vielmehr wird im Befund des SPZ ausdrücklich festgestellt, dass sich die Antragstellerin körperlich altersgerecht entwickelt habe, keine wesentlichen Dysmorphiezeichen und keinen Strabismus mehr aufweise.

Ferner ist nach dem bisherigen Sachstand nicht hinreichend zu erkennen, dass die Antragstellerin seelisch behindert oder hiervon bedroht wäre und daher die hier begehrte Kostenübernahme vorrangig nach § 10 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII als Leistung der öffentlichen Jugendhilfe nach § 35a SGB VIII zu erbringen wäre. Nach § 35 a SGB VIII, der wie § 39 Abs. 1 Satz 1 BSHG durch § 3 EinglH-VO im Einzelnen legaldefiniert wird (vgl. VGH Kassel, NVwZ-RR 2002, 126 f.), sind Personen dann seelisch behindert, wenn infolge seelischer Störungen die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigt ist. Hierbei kommt es auf das Ausmaß, den Grad und die Dauer der seelischen Störungen an (BVerwG, ZfS 2000, 146 ff. = FEVS 49, 487; BVerwGE 112, 98 ff.). Hierfür gibt zum einen der Bericht der Landesklinik ... vom 4. Februar 2002 einen Anhalt, denn er führt aus, dass aufgrund der geistigen Behinderung und der schlechten Betreuungslage in der Folge eine seelische Behinderung der Antragstellerin drohen könne. Zum anderen wird auch in der fachärztlichen Stellungnahme des Gesundheitsamtes des Landkreises .... vom 15. März 2002 eine drohende seelische Behinderung infolge der anderen Beeinträchtigungen konstatiert. Da allerdings beide Prognosen nach Maßgabe der in § 3 Ziffern 1 bis 4 EinglH-VO genannten Störungen und Krankheitsbilder keine konkreten Aussagen zum Erscheinungsbild der drohenden seelischen Behinderung und ihren Auswirkungen enthält, geschweige denn diese insoweit substantiiert, dass zu dem Grad der Wahrscheinlichkeit gegenwärtig Stellung genommen werden könnte (vgl. § 35a Abs. 1 Ziff. 1 SGB VIII, § 39 Abs. 2 Satz 1 BSHG sowie BVerwG, a.a.O.), kann hieraus nicht der Schluss gezogen werden, dass eine seelische Behinderung besteht oder mit hinreichender Wahrscheinlichkeit einzutreten droht.

Danach verbleibt es infolge der summarisch allein feststellbaren geistigen Behinderung der Antragstellerin nach § 10 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII beim Vorrang der Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz gegenüber Leistungen der öffentlichen Jugendhilfe. Der Vollständigkeit halber ist an dieser Stelle anzumerken, dass einem Anspruch auf Eingliederungshilfe auch nicht ein Anspruch auf behindertengerechte Beschulung gegenüber dem Staatlichen Schulamt nach § 2 Abs. 1 BSHG vorgeht, denn wie sich aus dem Antrag der Antragstellerin ergibt, geht es ihr um eine außerschulische stationäre Unterbringung und Betreuung (vgl. auch Gemeinsame Empfehlung des Ministeriums für Bildung, Jugend und Sport und des Ministeriums für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Frauen an die Sozialämter, Jugendämter und Schulverwaltungsämter zur Abgrenzung der Leistungsverpflichtung für den zusätzlichen Hilfebedarf von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf vom 17. November 1998, ABl. vom 12. Januar 1999 -S. 8).

2. Die Antragstellerin hat jedoch keine Umstände glaubhaft gemacht, die ihre Betreuung in einer stationären Einrichtung erforderlich machen würden. Hierbei geht das Gericht von nachfolgenden Vorgaben und Grundsätzen für die Auswahl der angemessenen Leistungsform der Eingliederungshilfe aus.

Aufgabe der Eingliederungshilfe nach § 39 Abs. 3 Satz 1 BSHG ist es, eine drohende Behinderung zu verhüten oder eine Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und die behinderten Menschen in die Gesellschaft einzugliedern. Nach § 39 Abs. 3 Satz 2 BSHG gehört hierzu vor allem, behinderten Menschen die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern, ihnen die Ausbildung eines angemessenen Berufs oder einer sonstigen angemessenen Tätigkeit zu ermöglichen oder sie soweit wie möglich unabhängig von Pflege zu machen. Da nach § 39 Abs. 4 Satz 1 BSHG für die Leistungen zur Teilhabe die Vorschriften des 9. Buches Sozialgesetzbuch gelten, soweit sich aus dem Bundessozialhilfegesetz und den aufgrund dieses Gesetzes erlassenen Rechtsverordnungen nichts Abweichendes ergibt, finden auch die Grundsätze für eine Leistungsgewährung nach § 4 SGB IX Anwendung. Nach § 4 Abs. 3 S. 1 SGB IX sind Leistungen für behinderte und von Behinderung bedrohte Kinder so zu planen und gestalten, dass nach Möglichkeit Kinder nicht von ihrem sozialen Umfeld getrennt und gemeinsam mit nichtbehinderten Kindern betreut werden können. Entgegen der Ansicht der Antragstellerin ist diese Vorschrift auch im Sozialhilferecht anwendbar, denn es finden sich nicht nur keine abweichenden Bestimmungen im Bundessozialhilfegesetz, sondern im Gegenteil wird der normative Gehalt des § 4 Abs. 3 Satz 1 SGB IX durch das Gebot nach § 7 Satz 2 BSHG, dem zufolge die Sozialhilfe die Kräfte der Familie zur Selbsthilfe anregen und den Zusammenhalt der Familie festigen soll, familienbezogen verstärkt.

Ferner sind nach § 39 Abs. 4 Satz 1 BSHG i. V. m. § 4 Abs. 3 Satz 2 SGB IX behinderte Kinder alters- und entwicklungsentsprechend an der Planung und Ausgestaltung der Maßnahmen der Eingliederungshilfe zu beteiligen und ihre Sorgeberechtigten intensiv in Planung und Gestaltung der Hilfen einzubeziehen (vgl. auch § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII), wobei nach Möglichkeit dem Wunschrecht des hilfebedürftigen Kindes nach § 3 Abs. 2 Satz 1 BSHG entsprochen werden soll, sofern sich der Wunsch im Rahmen des erkennbaren Eingliederungsbedarfs hält. Ist bei der Bestimmung der Leistung der Eingliederungshilfe die Auswahl einer Einrichtung zu besorgen, hat der zuständige Träger der Sozialhilfe im Übrigen auch die Vorschriften der §§ 93 bis 93 d sowie § 3 Abs. 2 Sätze 2 und 3 sowie § 3 a BSHG zu beachten.

Ausgehend von diesen Maßstäben lässt sich zunächst feststellen, dass einer Entscheidung für eine Unterbringung in dem Internat ... nicht - wie der Antragsgegner meint - zwingend die Vorschrift des § 93 Abs. 2 BSHG entgegensteht, wonach der Träger der Sozialhilfe zur Übernahme der Vergütung für die Leistung solcher Einrichtungen nur dann verpflichtet ist, wenn mit dem Träger der Einrichtung oder seinem Verband eine Vereinbarung über Leistung, Vergütung und Prüfung besteht. Denn in Abweichung von dieser Regel sieht § 93 Abs. 3 Satz 1 BSHG vor, dass der Träger der Sozialhilfe Hilfe durch diese Einrichtung auch dann gewähren kann, wenn dies nach der Besonderheit des Einzelfalles geboten ist. Hierbei ist allerdings wiederum einschränkend zu berücksichtigen, dass sich eine Leistungsgewährung nach dieser Vorschrift bei systematischer Auslegung nur ausnahmsweise ergeben kann, denn der Anwendungsbereich der Bestimmung wird durch die in § 3 Abs. 2 Satz 2 und 3 BSHG niedergelegten Grenzen des Wunschrechts des Hilfeempfängers eingegrenzt (vgl. Münder in LPK-BSHG, 5. Aufl. 1998, § 93 Rn. 45; Schellhorn/Schellhorn, BSHG, 16. Aufl. 2002, § 93 Rn. 35; Fichtner, BSHG, § 93 Rn. 22).

Im Übrigen aber spricht nach den oben dargelegten Maßstäben Überwiegendes gegen eine Unterbringung der Antragstellerin in eine stationäre Einrichtung, gleich ob es sich hierbei um das Haus des ... Potsdam oder die integrative Wohneinrichtung in ... handelt. Zwar kann nicht ausnahmslos davon ausgegangen werden, dass die Unterbringung in einem Internat nicht auch der Eingliederung behinderter Menschen in die Gesellschaft dienen kann und daher als Leistung der Eingliederungshilfe auch unabhängig davon, ob sie im Leistungskatalog des § 40 Abs. 1 BSHG erwähnt wird, gewährt werden kann (vgl. z. B. BVerwG, FEVS 37, 457, 460). Allerdings sprechen die den Bestimmungen der § 4 Abs. 3 Satz 1 SGB IX und § 3 Abs. 2 Satz 2 und § 3a BSHG zugrunde liegenden gesetzgeberischen Wertungen dafür, dass eine vollstationäre Unterbringung nur ausnahmsweise in Betracht kommt. Insbesondere der erkennbare Zweck des § 4 Abs. 3 Satz 1 SGB IX, behinderte Kinder nicht von ihrem sozialen Umfeld zu trennen, zielt auf den Erhalt bestehender familiärer und sonstiger gewachsener Beziehungen, welche dem Integrationszweck förderlich sind; zugleich sollen sie der Zuordnung von behinderten Kindern in spezialisierten Versorgungssystemen entgegenwirken (BT-Ds. 14/5074, S. 99, abgedr. in Knittel, SGB IX, Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen, § 4 Rn. 11; vgl. auch Beschluss des Senats vom 1. November 2001 - 4 B 258/01 - JAmt 2001, 597, 600 zum jugendhilferechtlichen Anspruch auf Internatsunterbringung nach § 34 SGB VIII). Danach ist eine Internatsunterbringung lediglich ausnahmsweise in solchen Fällen in Betracht zu ziehen, in denen entweder kein erhaltungswürdiges soziales Umfeld vorhanden ist und auch absehbar nicht aufgebaut werden kann, oder aber die Behinderung selbst eine umfassende Betreuung durch Fachkräfte in einer vollstationären Einrichtung unabweisbar macht. In diese Richtung weist auch die fiskalische Belange wahrende Zweckrichtung der Vorschriften des § 3 Abs. 2 Sätze 2 und 3 sowie des § 3 a Satz 1 BSHG, wonach die erforderliche Hilfe soweit wie möglich außerhalb von Anstalten, Heimen oder gleichartigen Einrichtungen zu gewähren ist.

Der Senat vermag einen solchen unabweisbaren Eingliederungsbedarf in Form einer Leistungsgewährung durch die nachschulische Unterbringung in einem Internat o. ä. nicht zu erkennen, denn das soziale und familiäre Umfeld der Antragstellerin ist erhaltungswürdig (a) und es ist nicht ausgeschlossen, sondern erscheint durchaus möglich, dass ihr behinderungsbedingter Integrationsbedarf voraussichtlich durch offene Hilfen vor Ort gedeckt werden kann (b).

a) Aus dem Bericht der Landesklinik ... vom 4. Februar 2002 ergibt sich, dass die Antragstellerin an ihrem Zuhause in ... hängt, denn sie äußerte bei der Aufnahme in die Klinik .... Die Eltern sind nach dem psychischen Befund präsent. Dabei fällt maßgeblich ins Gewicht, dass sich die Mutter in der Vergangenheit um ihre schulische Förderung und sonstige Entwicklung intensiv bemüht hat und als allein Sorgeberechtigte die Hauptbezugsperson der Antragstellerin sein dürfte, zumal der Kindsvater nur sporadisch von seinem Umgangsrecht Gebrauch macht. Hinzu kommt, dass ihre 82-jährige Großmutter, welche sie im Kindesalter häufig betreut hat, im Nachbarhaus lebt und jedenfalls als vertraute Ansprechperson zur Verfügung steht. Darüber hinaus wird im Notfall sicher auch die ebenfalls in ... mit eigener Familie wohnhafte Tante der Antragstellerin Anlaufpunkt für die Antragstellerin sein können. Zudem lässt sich dem vorliegenden Einsatzplan der Mutter der Antragstellerin entnehmen, dass die Mutter zwischen ihren Arbeitsschichten regelmäßig zwischen zwei und vier Tagen ganz frei hat und im Übrigen sowohl bei Tages- als auch bei Nachtschichten einige Stunden gemeinsam mit der Antragstellerin verbringen kann. Ferner hat die Antragstellerin im Elternhaus ein eigenes Zimmer, mithin einen eigenen Bereich der Lebensführung.

All dies lässt nicht den Schluss auf Verhältnisse zu, die eine Herausnahme der Antragstellerin aus ihrer vertrauten Umgebung unabweisbar machen würde.

b) Hinsichtlich des Eingliederungsbedarfes lässt sich unabhängig vom streitigen Begehren der Antragstellerin vorab feststellen, dass sich die Schulbildung in der Förderschule für geistig Behinderte in ... als geeignet und angemessen ausreichend darstellt, denn der Bescheid des zuständigen Staatlichen Schulamtes vom 23. März 2000 über den sonderpädagogischen Förderungsbedarf und über die Zuweisung der Antragstellerin an diese Schule ist nach Rücknahme des verwaltungsgerichtlichen Klageverfahrens bestandskräftig geworden und bindet daher den Sozialhilfeträger (vgl. BVerwG, FEVS 36, 1, 6; OVG Münster, FEVS 52, 513, 514 m. w. N.). Ferner ist die Antragstellerin in der Lage, sich selbst zu verpflegen und auf Hygiene und Kleidung zu achten. Ihr sind der Schulweg und die Straßenverkehrsregeln bekannt; sie findet sich an ihrem Wohnort zurecht. Der behinderungsbedingte Eingliederungsbedarf resultiert daher vielmehr aus ihrer mental bedingten Antriebsschwäche und Rückzugstendenz, welche nach den insoweit zutreffenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts eine überschaubare und berechenbare Betreuungssituation mit stabilen, ihr überwiegend verfügbaren und zugewandten Bezugspersonen erforderlich macht.

Allerdings sprechen die Umstände nicht für die Einschätzung des Verwaltungsgerichts, dass allein durch eine stationäre Unterbringung in dem Schulinternat eine stabile Betreuungssituation herbeigeführt werden kann. Zwar ist eine zuvörderst der Mutter der Antragstellerin obliegende Betreuung infolge ihres Schichtdienstes beim ... nicht durchgängig möglich wie auch der Großmutter solches nicht mehr zugemutet werden kann, aber nach den vom Antragsgegner aufgewiesenen ambulanten Betreuungsalternativen erscheint es möglich, dass eine solche stabile Betreuungssituation durch den Einsatz eines Einzelfallhelfers, wie dies das Jugendamt des Antragsgegners bereits angeboten hatte, oder durch sozialpädagogische Familienhilfe durch den Lebens-, Alters- und Behindertenhilfe e.V. (LAB) in Form von sonstiger Hausbetreuung mit einer regelmäßigen Betreuungszeit bis 19.00 Uhr und ausnahmsweise auch bis 22.00 Uhr - soweit erforderlich - herbeigeführt werden könnte;, welche zugleich auch eine Entlastung der Mutter bewirkte. Alternativ ist in diesem Zusammenhang auch zu erwägen, ob nicht eine nachmittägliche Freizeitbetreuung in dem Kinder- und Jugendtreff der Arbeiterwohlfahrt in der Gemeinde ... eine geeignete Betreuungsmöglichkeit bietet. Zu einem Einsatz jener ambulanten Hilfen ist es indessen aufgrund der diesbezüglichen Weigerung der Mutter der Antragstellerin bislang nicht gekommen.

Soweit sich die Antragstellerin auf die Stellungnahme des SPZ vom 27. März 2000 bezieht, vermag dies die Erforderlichkeit der beantragten Leistung nicht zu begründen. In der recht kurz geratenen "kinderärztlichen Bescheinigung zur Vorlage beim Schulamt" ist lediglich die Rede davon, dass "die Beschulung in der Körperbehindertenschule des ... Potsdam ... aus unserer Sicht optimal" sei. Aus dieser Aussage lässt sich nicht ableiten, dass eine ambulante Betreuung und Therapie der Antragstellerin durch geeignete Fachkräfte unter Einbindung in andere soziale Gruppen vor Ort nicht gleichermaßen geeignet wäre, eine stabile Betreuung der Antragstellerin zu gewährleisten. Gleiches gilt für die Aussage im Befund der brandenburgischen Klinik vom 4. Februar 2002, wonach die Mutter der Antragstellerin in der Suche nach einem geeigneten Heim- oder Internatsplatz Unterstützung finden solle. Diese lediglich Empfehlungscharakter tragende Aussage ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass die Kindesmutter selbst mehrfach in der gemeinsam vorgenommenen Anamnese den Wunsch geäußert hat, die Antragstellerin in einem Internat unterzubringen. Auch die Aussage im schulärztlichen Gutachten vom 24. Januar 2000 lässt den Schluss auf eine zwingend erforderliche stationäre Unterbringung der Antragstellerin in einem Internat oder sonstigen vollstationären Einrichtung nicht zu. Es heißt dort: "Ich halte eine Beschulung in der Allgemeinen Förderschule für erforderlich, wofür eine Internatsunterbringung günstig wäre." Abgesehen davon, dass es sich bei dieser Aussage lediglich um eine vorsichtige Einschätzung hinsichtlich der zukünftigen Beschulung der Antragstellerin handelt, ist sie zeitlich überholt, denn im weiteren Gutachten des Gesundheitsamtes vom 15. März 2002 ist lediglich ein gewisser pflegerischer Aufwand, nicht aber eine Heimunterbringung für erforderlich gehalten worden. Auch lässt sich aus dem hinsichtlich ihrer körperlichen Leiden erfolgreichen Aufenthalt in der Landesklinik Brandenburg nicht zwingend schließen, dass nur eine vergleichbare stationäre Unterbringung geeignet wäre, den Betreuungs- und Eingliederungsbedarf der Antragstellerin zu decken.

Im Übrigen sei bemerkt, dass die Antragstellerin bislang nicht entsprechend ihrem Alter und Entwicklungsstand bei der Planung der von der Mutter gewünschten Leistung einbezogen worden ist, wie dies in § 4 Abs. 3 Satz 2 SGB IX i. V. m. § 39 Abs. 4 Satz 1 BSHG vorgeschrieben ist, und daher ihr nach § 9 Satz 1 SGB IX und § 3 Abs. 2 Satz 1 BSHG zu berücksichtigender Wunsch noch nicht ermittelt werden konnte. Das Vorbringen des Verfahrensbevollmächtigten, wonach es allein auf den Wunsch der Mutter infolge des ihr eingeräumten Sorgerechts ankommen soll, überzeugt deshalb nicht. Es liegen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die 15-jährige Antragstellerin infolge ihrer leichten geistigen Behinderung nicht in der Lage wäre, ihren Wunsch zu äußern. Vielmehr geben der Bericht der Landesklinik Brandenburg vom 4. Februar 2002 und der schulische Entwicklungsbericht vom 30. März 2001 durchaus zu erkennen, dass sie ihre Wünsche und Gefühle deutlich äußern kann.

Es bedarf an dieser Stelle keiner weiteren Ausführungen, welcher ambulanten Hilfestellungen die Antragstellerin im Einzelnen tatsächlich bedarf. Wie der Senat zur Eingliederungshilfe in Form einer angemessenen Schulbildung nach §§ 39, 40 Abs. 1 Ziff. 4 BSHG ausgeführt hat, ist eine integrierte Beschulung an Regelschulen, wie sie in § 29 Abs. 3 Brandenburgisches Schulgesetz vorgesehen ist, zumeist im Zusammenwirken aller Beteiligten zu entwickeln und zu optimieren, so dass ein behindertes Kind nicht automatisch auf eine erfolgreiche Integration hoffen kann (vgl. Beschluss des Senats vom 22. Mai 2002 - 4 B 60/02 - S. 4 d. E.A.; Beschluss des Senats vom 12. September 2002 - 4 B 129/02 - S. 7 d. E.A.). Gleiches gilt für die hier zu bestimmende offene Eingliederungshilfe, denn auch sie kann ihrem Wesen nach nur prozesshaft verstanden werden. Vorliegendenfalls wird es daher maßgeblich darauf ankommen, dass das Sozialamt des Antragsgegners im Zusammenwirken mit seinem Jugendamt und möglicherweise auch noch anderen Rehabilitationsträgern nach § 6 SGB IX die Planung und Durchführung der Leistung der Eingliederungshilfe nach § 10 SGB IX koordiniert und optimiert.

Mit Abänderung der erstinstanzlichen Entscheidung hat sich zugleich der Antrag des Antragsgegners auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der eingelegten Beschwerde gegen die erstinstanzliche Entscheidung nach § 149 Abs. 1 VwGO erledigt.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 188 VwGO.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 152 Abs. 1 VwGO.

Ende der Entscheidung

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