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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Bremen
Beschluss verkündet am 21.04.2009
Aktenzeichen: 1 B 144/09
Rechtsgebiete: AufenthG


Vorschriften:

AufenthG § 60a Abs. 1
Die Abschiebung eines psychisch erkrankten, suizidgefährdeten Ausländers, die nur unter der Bedingung der Fesselung oder medikamentösen Ruhigstellung durchgeführt werden kann, kann unverhältnismäßig sein.
Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen Beschluss

OVG: 1 B 144/09

In der Verwaltungsrechtssache

hat das Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen - 1. Senat - durch Richter Göbel, Richter Prof. Alexy und Richterin Feldhusen am 21.04.2009 beschlossen:

Tenor:

Der Beschluss des VG Bremen - 4. Kammer - vom 26.03.2009 wird mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung aufgehoben.

Die Antragsgegnerin wird im Wege einer einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Aufenthalt der Antragstellerin zu dulden.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren ebenfalls auf 2.500,00 Euro festgesetzt.

Der Antragstellerin wird unter Beiordnung von Rechtsanwalt ..., Hamburg, Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung bewilligt.

Gründe:

I.

Die 1952 im damaligen Jugoslawien geborene Antragstellerin, die jetzt die serbische Staatsangehörigkeit besitzt, reiste Anfang der siebziger Jahre als sogenannte Gastarbeiterin in die Bundesrepublik Deutschland ein. Sie arbeitete zunächst bei der Firma ... in Hamburg, dann als Kellnerin in verschiedenen Lokalen und nahm anschließend noch weitere Arbeitsstellen wahr. Die Antragsstellerin ist jetzt seit längerem arbeitslos und lebt von Sozialleistungen.

Die Antragstellerin hat zwei 1987 und 1989 im Bundesgebiet geborene Kinder.

Die Antragstellerin leidet unter einer Diabetes mellitus und einer koronaren Herzerkrankung, deswegen ist sie als zu 70 % schwerbehindert anerkannt. Sie befindet sich darüber hinaus wegen verschiedener Beeinträchtigungen des Bewegungsapparats in orthopädischer Behandlung; im Mai 2008 wurde ihr ein Rollator als Gehhilfe verordnet. Außerdem leidet die Antragstellerin unter einer chronifizierten depressiven Anpassungsstörung, wegen der sie seit längerem nervenfachärztlich behandelt wird.

Die Antragstellerin ist wiederholt strafrechtlich in Erscheinung getreten; der Auszug aus dem Bundeszentralregister weist 23 Eintragungen auf. Von den Eintragungen sind 20 älter als zehn Jahre (u. a. Fahren ohne Fahrerlaubnis; Diebstahl; Betrug). Bei den drei innerhalb der letzten zehn Jahre eintragenden Straftaten handelt es sich um Diebstahlsdelikte; der letzte Vorfall (Oktober 2007) betraf einen Ladendiebstahl über Waren 11,17 Euro.

Wegen der wiederholten Straftaten wurde die Antragstellerin von der Ausländerbehörde Hamburg mit Bescheid vom 05.07.1996 ausgewiesen. Die Ausweisungsverfügung ist rechtsbeständig geworden (Urteil des VG Hamburg vom 25.03.1999).

Vor einer im Oktober 2003 beabsichtigten Abschiebung unternahm die Antragstellerin am 30.09.2003 einen Suizidversuch. Sie befand sich danach für mehrere Wochen in stationärer psychiatrischer Behandlung. In der Klinik wurde die schwere Episode einer rezidivierenden depressiven Störung festgestellt.

Eine für Oktober 2005 geplante Abschiebung wurde nicht durchgeführt, nachdem das VG Bremen die Antragsgegnerin verpflichtet hatte, den weiteren Aufenthalt der Antragstellerin und ihrer beiden Kinder wegen des bevorstehenden Schulabschlusses der Kinder zu dulden.

Im Mai 2007 teilte die Antragsgegnerin der Antragstellerin mit, dass beabsichtigt sei, die Duldung nicht weiter zu verlängern, da die Kinder inzwischen unabhängig von ihr im Hamburg lebten.

Die Antragstellerin entgegnete, dass sie aufgrund ihrer verschiedenen Erkrankungen nicht reisefähig sei. Sie legte Atteste der behandelnden Ärzte vor (Facharzt für Allgemeinmedizin S.; Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. G., Facharzt für Orthopädie Dr. K.).

Die Antragsgegnerin veranlasste eine Untersuchung der Antragstellerin durch den sozialpsychiatrischen Dienst des Gesundheitsamtes Bremerhaven, der in einer Stellungnahme vom 11.03.2008 zu dem Ergebnis gelangte, dass aktuell die Beeinträchtigungen des Bewegungsapparats bei der Antragstellerin im Vordergrund stünden. Im Hinblick auf die psychische Verfassung der Antragstellerin sei im Falle einer erzwungenen Ausreise mit einer erhöhten Suizidgefahr zu rechnen. Es seien aus diesem Grund wirksame Sicherheitsmaßnahmen zu treffen und eine ärztliche Notfallversorgung sicher zu stellen.

In einer weiteren Stellungnahme des Gesundheitsamtes vom 18.04.2008 heißt es, dass amtsärztlicherseits weiterhin von einer Reisefähigkeit ausgegangen werde.

Daraufhin teilte die Antragsgegnerin der Antragstellerin mit, dass beabsichtigt sei, sie demnächst abzuschieben.

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnte es mit Bescheid vom 08.08.2008 ab, ein im Jahr 2004 von der Antragstellerin erfolglos durchgeführtes Asylverfahren (Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 02.03.2004) wieder aufzunehmen. In jenem Asylverfahren hatte die Antragstellerin geltend gemacht, dass ihr wegen ihrer verschiedenen Gesundheitsbeeinträchtigungen eine Rückkehr in das ehemalige Jugoslawien nicht zumutbar sei, dort sei eine angemessene medizinische Versorgung nicht sicher gestellt. Die 5. Kammer des VG hat es mit Beschluss vom 02.02.2009 abgelehnt, dass Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zu einer Wiederaufnahme des Asylverfahrens zu verpflichten (AZ: 5 V 3818/08.A).

Eine für Dezember 2008 vorgesehene Abschiebung wurde nicht durchgeführt, nachdem die Antragstellerin am 01.12.2008 beim VG einstweiligen Rechtsschutz beantragt hatte. Die 4. Kammer des Verwaltungsgerichts hat es mit Beschluss vom 26.03.2009 abgelehnt, die Antragsgegnerin zur Aussetzung der Abschiebung zu verpflichten. Die Antragstellerin sei entgegen ihrer Behauptung reisefähig.

Dagegen hat die Antragstellerin am 01.04.2009 Beschwerde eingelegt. Zur Begründung hat sie ausgeführt, dass die Einschätzung des Verwaltungsgerichts nicht haltbar sei. Das Verwaltungsgericht habe sich über die Stellungnahme der behandelnden Ärzte hinweg gesetzt.

Mit Schreiben vom 15.04.2009 hat die Antragsgegnerin dem Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin mitgeteilt, dass am 22.04.2009 die Abschiebung vorgesehen sei.

Das OVG hat der Antragsgegnerin mit Beschluss vom 21.04.2009 untersagt, vor Abschluss des Beschwerdeverfahrens Abschiebemaßnahmen gegen die Antragstellerin durchzuführen.

II.

Die Beschwerde der Antragstellerin ist erfolgreich. Die Voraussetzungen für den Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung (§§ 123 Abs. 1, Abs. 3 VwGO; 920 Abs. 2 ZPO) sind gegeben. Die Antragstellerin hat entgegen der Ansicht des VG Anordnungsanspruch und -grund glaubhaft gemacht.

1.

Keine Rolle spielt im vorliegenden Verfahren, ob die Erkrankungen der Antragstellerin in ihrem Heimatland sachgerecht behandelt werden können. Das Vorliegen eines derartigen zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernisses hat das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge mit Bescheid vom 02.03.2004 verneint. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat es am 08.08.2008 abgelehnt, diesen Bescheid abzuändern. Der dagegen gerichtete Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtschutzes ist erfolglos geblieben (VG Bremen, Beschluss vom 02.02.2009). Die im asylrechtlichen Verfahren getroffenen Feststellungen sind für das vorliegende Verfahren bindend (§ 42 AsylVfG).

2.

Die Antragstellerin hat aber glaubhaft gemacht, dass sie zur Zeit nicht reisefähig ist. Ihre Reiseunfähigkeit stellt ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis dar. Die Antragsgegnerin ist aus diesem Grunde verpflichtet, ihren Aufenthalt zu dulden.

Gemäß § 60 a Abs. 2 S. 1 AufenthG ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist. Reiseunfähigkeit führt zur Unmöglichkeit der Abschiebung. Sie liegt vor, wenn der Ausländer aus gesundheitlichen Gründen gar nicht transportfähig ist oder wenn das ernsthafte Risiko besteht, dass sich der Gesundheitszustand des Ausländers unmittelbar durch die Ausreise bzw. Abschiebung als unmittelbare Folge davon wesentlich verschlechtern wird. Auch eine konkrete, ernsthafte Suizidgefährdung mit Krankheitswert kann zu einem solchen Abschiebungshindernis führen (vgl. BayVGH, Beschluss vom 23.10.2007 - 24 CE 07.484 - juris).

Im Falle der Antragstellerin ist danach ein Abschiebungshindernis gegeben. Die Antragstellerin leidet unter einer chronifizierten depressiven Anpassungsstörung, wegen der sie aktuell in nervenfachärztlicher Behandlung ist (Bescheinigung des Facharztes der Neurologie und Psychiatrie Dr. G. vom 29.01.2008). Die Erkrankung ist seit längerem vorhanden. Nach einer in der Ausländerakte befindlichen Bescheinigung (Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. T. vom 11.07.2003) ist die Behandlung 1997 aufgenommen worden. In jener Bescheinigung wird ausgeführt, die Erkrankung habe zur Folge, dass die Antragstellerin nicht arbeitsfähig sei. Nach einem am 30.09.2003 - im Rahmen einer anstehenden Abschiebung - unternommenen Suizidversuch ist die Antragstellerin mehrwöchig stationär psychiatrisch behandelt worden. Dort ist eine aktuelle schwere Episode einer rezidivierenden depressiven Störung festgestellt worden (Bescheinigung des Klinikums Nord, Hamburg, vom 27.10.2003).

Die konkrete Suizidgefahr für den Fall der erzwungenen Ausreise hat ihren Grund in dieser psychischen Verfassung der Antragstellerin. Von solch einer Gefahr geht auch das Gesundheitsamt Bremerhaven in seiner Stellungnahme vom 11.03.2008 aus (Fachärztin für Psychiatrie Dr. P.). Dass der Suizid nur angedroht wird, um einen weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet zu erzwingen, kann im Falle der Antragstellerin hinreichend sicher ausgeschlossen werden.

Wegen dieser Gefahr hält es das Gesundheitsamt Bremerhaven für erforderlich, dass im Rahmen der Abschiebung "entsprechende Sicherheitsmaßnahmen (Anlegen von Hand- und Fußfesseln, medikamentöse Behandlung, evtl. auch stationäre Behandlung)" getroffen werden und "jederzeit eine ärztliche Notfallversorgung vom Zeitpunkt der Ankündigung bis zum Abschluss der Maßnahme" gewährleistet ist. Nach der in einem Eilverfahren nur möglichen vorläufigen rechtlichen Prüfung ist das OVG zu der Überzeugung gelangt, dass eine unter diesen Bedingungen durchgeführte Abschiebung der Antragstellerin die von Verfassungs wegen gezogenen Grenzen überschreiten würde.

Zwar kann davon ausgegangen werden, dass die konkrete Form, in der eine Abschiebung vollzogen wird, wesentlich dazu beitragen kann, eine etwaige Suizidgefahr zu beherrschen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 26.02.1998 - 2 BvR 185/98 - InfAuslR 98, 241; OVG Bremen, Beschluss vom 26.02.2008 - 1 B 539/07 -; BayVGH, Beschluss vom 09.10.2007 - 24 CE 07.2403 - juris). In dieser Hinsicht ist etwa an eine psychologische Vorbereitung und Betreuung sowie eine ärztliche Begleitung der Abschiebung zu denken. Mittel, wie sie im vorliegenden Fall in Rede stehen (Fesselung, medikamentöse Ruhigstellung), wecken jedoch rechtliche Bedenken. Dabei verdeutlicht der Hinweis in der Stellungnahme des Gesundheitsamtes Bremerhaven vom 11.03.2008, dass eine jederzeitige ärztliche Notfallversorgung sicherzustellen sei, das Erfordernis der Engmaschigkeit und Effektivität der genannten Sicherheitsmaßnahmen. Die Abschiebung ließe sich danach nur durchführen, wenn intensiv in die Bewegungsfreiheit und körperliche Integrität der psychisch erkrankten Antragstellerin eingegriffen werden würde. Unter diesen Umständen drängt es sich auf, dass die Abschiebung eine unverhältnismäßige Maßnahme wäre.

3.

Es besteht neben den Anordnungsanspruch auch ein Anordnungsgrund. Der Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung ist geboten, um wesentliche Nachteile von der Antragstellerin abzuwenden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO; die Streitwertfestsetzung auf §§ 53 Abs. 3, 52 Abs. 2 GKG.

Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe und die Entscheidung über die Beiordnung eines Rechtsanwalts beruhen auf §§ 186 VwGO, 114, 121 Abs. 1 ZPO.

Ende der Entscheidung

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