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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Bremen
Beschluss verkündet am 22.07.2004
Aktenzeichen: 1 B 201/04
Rechtsgebiete: AuslG, GG, EMRK, VwGO


Vorschriften:

AuslG § 47
GG Art. 6 Abs. 1
EMRK Art 8
VwGO § 80
1. Zur Vereinbarkeit der Ausweisung eines mit einer deutschen Staatsangehörigen verheirateten Ausländers, der wegen mehrfachen Handelns mit Heroin in nicht geringer Menge zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden ist, mit Art. 6 GG und Art. 8 EMRK.

2. Zur notwendigen Beschleunigung des Widerspruchsverfahren bei Anordnung der sofortigen Vollziehung einer Ausweisung.


Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen Beschluss

OVG: 1 B 201/04

In der Verwaltungsrechtssache

hat das Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen - 1. Senat - durch die Richter Alexy, Göbel und Dr. Grundmann am 22.07.2004 beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts der Freien Hansestadt Bremen - 4. Kammer - vom 04.06.2004 wird zurückgewiesen.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 3.000,00 Euro festgesetzt.

Gründe:

A. Der Antragsteller, ein 1971 geborener türkischer Staatsangehöriger, kam 1993 als Asylbewerber nach Deutschland. Er ist seit 1997 mit einer deutschen Staatsangehörigen verheiratet und seit 2001 im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis. Wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in drei Fällen wurde er 2002 zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Er befindet sich seit April 2002 in Haft. Mit Verfügung vom 06.01.2004 wies die Antragsgegnerin ihn aus und ordnete seine Abschiebung in unmittelbarem Anschluss an die Entlassung aus der Strafhaft an. Nachdem die Staatsanwaltschaft von der weiteren Vollstreckung der Strafhaft für den Fall der Abschiebung abgesehen hatte, ordnete die Antragsgegnerin mit Verfügung vom 25.03.2004 die sofortige Vollziehung der Ausweisung und Abschiebung an. Den Antrag, die aufschiebende Wirkung seines bereits zuvor erhobenen Widerspruchs wiederherzustellen, hat das Verwaltungsgericht abgelehnt. Dagegen richtet sich die Beschwerde des Antragstellers.

B. Das Oberverwaltungsgericht prüft nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO nur die vom Beschwerdeführer dargelegten Gründe. Diese rechtfertigen keine Abänderung der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung.

I. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers ist eine andere Entscheidung nicht durch den in Art. 6 GG verbürgten Schutz von Ehe und Familie geboten.

Der Gesetzgeber hat dem Schutz der ehelichen Lebensgemeinschaft eines Ausländers, der - wie der Antragsteller - wegen einer vorsätzlichen Straftat nach dem Betäubungsmittelgesetz zu einer Freiheitsstrafe von dreieinhalb Jahren verurteilt worden ist, mit einer deutschen Staatsangehörigen dadurch Rechnung getragen, dass der Ausländer nicht - wie an sich vorgesehen - in jedem Fall zwingend auszuweisen ist, die Ausweisung vielmehr nur im Regelfall erfolgen und damit Raum für die Berücksichtigung atypisch gelagerter Sachverhalte bleiben soll (§§ 47 Abs. 1 Nrn. 1 und 2, Abs. 3 Satz 1, 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AuslG). Daraus folgt zugleich, dass die Tatsache der ehelichen Lebensgemeinschaft mit einer deutschen Staatsangehörigen als solche allein nicht ausreicht, um einen atypischen Fall zu begründen. Den Belangen des Schutzes von Ehe und Familie kann in diesen Fällen allein durch eine angemessene Befristung der Ausweisung Rechnung getragen werden. Ein atypischer Fall, der es ermöglicht, von der Ausweisung abzusehen, kann aber vorliegen, wenn die Ehefrau des Ausländers - etwa wegen einer schweren Erkrankung - in besonderer Weise auf den familiären Beistand des Ausländers angewiesen ist.

Diese Voraussetzung ist hier aber nicht ersichtlich. Zwar beruft sich der Antragsteller darauf, dass seine Ehefrau an Depressionen leide und die Gefahr eines Suizids bestehe, wenn der Antragsteller abgeschoben werde. Die vorgelegte zweite ärztliche Bescheinigung des Allgemeinmediziners, der die Ehefrau behandelt, lässt aber nicht erkennen, dass eine solche Gefahr ernsthaft zu besorgen ist. Der Arzt bescheinigt zwar schwere Depressionen und sieht die Ehefrau als suizidgefährdet an. Konkrete Tatsachen zur Begründung dieser Einschätzung werden aber - abgesehen von den festgestellten Schlafstörungen - nicht genannt. Mit Suizidgedanken habe die Ehefrau "herumgespielt". Von Bedeutung ist insbesondere, dass der Arzt die Ehefrau des Antragstellers, obwohl er ihr bereits früher Depressionen und die Verschreibung von Schlafmitteln bescheinigt hatte, erst jetzt im Beschwerdeverfahren erklärt, er "werde" die Ehefrau an einen Psychiater überwiesen. Daraus kann nur geschlossen werden, dass bislang dazu offenbar keine Notwendigkeit bestanden hat, obwohl die Ehefrau auch schon bisher wegen der Inhaftierung des Antragstellers von diesem getrennt lebte. Angesichts der geringen Aussagekraft der vorgelegten ärztlichen Bescheinigung besteht auch - die Zulässigkeit einer solchen Maßnahme einmal unterstellt - kein Anlass, der Anregung des Antragstellers zu folgen, eine amtsärztliche Untersuchung der Ehefrau des Antragstellers durch das Gericht anzuordnen.

II. Auch Art. 8 EMRK, auf den sich der Antragsteller zusätzlich beruft, rechtfertigt keine andere Entscheidung. Die Ausweisung stellt einen gesetzlich vorgesehenen Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens dar, der das Ziel der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verhütung von Straftaten verfolgt. Er ist auch "notwendig in einer demokratischen Gesellschaft" im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK. Zu Unrecht meint der Antragsteller, aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) sei zu folgern, dass die Ausweisung im Fall des Klägers unverhältnismäßig sei.

Die Rechtsprechung des EGMR weist, wie das Bundesverfassungsgericht kürzlich (Kammerbeschluss vom 01.03.2004, NVwZ 2004,852 <853>) formuliert hat, stark kasuistische Züge auf, so dass ihrer Heranziehung als Auslegungshilfe insofern Grenzen gesetzt sind; dennoch lassen sich ihr verallgemeinerungsfähige allgemeine Grundlinien hinsichtlich der für die Verhältnismäßigkeitsprüfung heranzuziehenden Umstände entnehmen. Danach ist zwar zu berücksichtigen, inwieweit der Ausländer noch einen Bezug zu dem Land seiner Staatsangehörigkeit hat, allein die Tatsache, dass ein Ausländer, der - wie der Antragsteller - als erwachsener Mann eingereist ist, seit 11 Jahren in seinem jetzigen Aufenthaltsland lebt, steht einer Ausweisung aber nicht entgegen. Bedeutsamer ist demgegenüber die Tatsache, dass der Ausländer mit einer Staatsangehörigen seines Aufenthaltslandes verheiratet ist. Aber auch eine solche Ehe führt nicht generell und unabhängig von den weiteren Umständen des Falls zur Unverhältnismäßigkeit der Ausweisung. Ein wesentlicher Umstand für die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit ist nämlich nach Auffassung des EGMR die Schwere der von dem Ausländer begangenen Straftaten. Dabei wirken sich Drogendelikte in besonderer Weise zu Ungunsten des Ausländers aus (vgl. die Nachweise in dem zitierten Beschluss des BVerfG, NVwZ 2004, 852 <853f.>). Bei Betäubungsmitteldelikten äußert der Gerichtshof regelmäßig "Verständnis dafür, dass die Vertragsstaaten gegen diejenigen, die zur Verbreitung dieser Geißel beitragen, entschlossen durchgreifen" (Urt. v. 17.03.2003 in Sachen Yilmaz gegen Deutschland unter Ziffer 46, NJW 2004,2147 <2148> m.w.Nwn.). Die Ausweisung eines Ausländers, der wegen mehrfachen Handelns mit nicht unbeträchtlichen Mengen Heroins - nach Einschätzung des Strafgerichts auf der "mittleren Ebene der Drogenhandelskette" - zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden ist, kann deshalb nach den Maßstäben der Rechtsprechung des EGMR auch dann nicht als unverhältnismäßig angesehen werden, wenn der Ausländer mit einer Staatsangehörigen seines Aufenthaltslandes verheiratet ist.

Der Eingriff in sein Recht auf Achtung des Familienlebens, der mit einer Ausweisung verbunden ist, kann aber im Einzelfall unverhältnismäßig sein, wenn er nicht von Amts wegen mit einer Befristung der Ausweisung verbunden ist; das gilt auch dann, wenn ein entsprechender Antrag (noch) nicht gestellt worden ist (vgl. das zit. Urteil des EGMR vom 17.03.2003 unter Ziffer 48, NJW 2004, 2147 <2149>). Die Widerspruchsbehörde wird deshalb bei ihrer noch ausstehenden Entscheidung auch zu prüfen haben, in welcher Weise eine Befristung der Ausweisung des Antragstellers durch Art. 8 EMRK geboten ist.

C. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass die Widerspruchsbehörde verpflichtet ist, das bei ihr anhängige Verfahren mit möglichster Beschleunigung zu betreiben; kommt sie dieser Verpflichtung nicht nach, kann die derzeit gerechtfertigte Anordnung der sofortigen Vollziehung nachträglich verfassungswidrig werden, so dass die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs doch noch wiederhergestellt werden muss (vgl. BVerfGE 35,382 <405>). Durch eine erhebliche Verzögerung des Verfahrens gibt die Widerspruchsbehörde zu erkennen, dass sie ein zwingendes öffentliches Interesse an einer sofortigen Entfernung des Ausländers aus Deutschland nicht für gegeben hält (BVerfGE 35,177 <178>; vgl. auch den Kammerbeschluss vom 12.09.1995, NVwZ 1996,58 <59>). Hier hat die Widerspruchsbehörde zwar in ihrem Schreiben vom 08.03.2004, mit dem sie den Eingang des Rechtsmittels bestätigt, angekündigt, dass eine "zeitgerechte" Bearbeitung der Widersprüche wegen Personalmangels nicht möglich sei. Diese Ankündigung führt aber - abgesehen davon, dass sie im Beschwerdeverfahren nicht gerügt worden ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) - noch nicht zur Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung, weil es die Widerspruchsbehörde noch in der Hand, die in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aufgezeigten Folgen einer erheblichen Verzögerung durch den alsbaldigen Erlass eines Widerspruchsbescheids abzuwenden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 13 Abs. 1, 20 Abs. 3 GKG aF.

Ende der Entscheidung

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