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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Bremen
Beschluss verkündet am 04.03.2005
Aktenzeichen: 1 B 493/04
Rechtsgebiete: AuslG, AufenthG, EMRK, VwGO


Vorschriften:

AuslG § 47 Abs. 3
AuslG § 48 Abs. 1
AuslG § 50 Abs. 1
AufenthG § 53 Abs. 1
AufenthG § 56 Abs. 1
AufenthG § 59 Abs. 1
EMRK Art 8
VwGO § 80 Abs. 5 Satz 3
1. Ein gegen die sofortige Vollziehung der Ausweisung und Abschiebung gerichtetes Eilverfahren erledigt sich nicht durch die "freiwillige" Ausreise des Ausländers, wenn diese lediglich erfolgt, um einer andernfalls unittelbar drohenden Abschiebung zu entgegen. Die Verwaltungsgerichte können in einem solchen Fall zugleich mit der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO auch die Wiedereinreise des Ausländers auf Kosten der Ausländerbehörde anordnen.

2. Zur Vereinbarkeit der Ausweisung eines mit einer deutschen Staatsangehörigen verheirateten Ausländers der zweiten Generation mit Art. 8 EMRK.


Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen Beschluss

OVG: 1 B 493/04

In der Verwaltungsrechtssache

hat das Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen - 1. Senat - durch die Richter Stauch, Göbel und Alexy am 04.03.2005 beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts der Freien Hansestadt Bremen - 4. Kammer - vom 01.12.2004 wird zurückgewiesen.

Die Antragsteller tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 7.500,00 Euro festgesetzt.

Gründe:

I.

Die Beschwerde ist zulässig. Das Begehren der Antragsteller hat sich durch die Ausreise des Antragstellers zu 1. nicht erledigt.

Ist ein Verwaltungsakt, gegen dessen sofortige Vollziehung die Antragsteller vorläufigen Rechtsschutz begehren, zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Beschwerde schon vollzogen, kann das Oberverwaltungsgericht nach § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO zugleich mit der Anordnung bzw. Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung auch die Aufhebung der Vollziehung anordnen, wenn es das Begehren der Antragsteller für begründet hält. Das bedeutet im Fall der Abschiebung eines Ausländers, dass diesem gegebenenfalls die Wiedereinreise des Ausländers - auf Kosten der Ausländerbehörde - zu ermöglichen ist, die ihn abgeschoben hat.

Das gilt auch im Fall einer "freiwilligen" Ausreise, die der Ausländer lediglich unter dem unmittelbaren Druck ihm andernfalls drohender Vollzugsmaßnahmen ausreist. Auch durch einen solchen Druck bewirkte "freiwillige" Befolgung eines Verwaltungsakts ist der Behörde nämlich als Vollziehungsmaßnahme zuzurechnen (BVerwG, Beschl. v. =.9.09.1960 - V C 4.60 -, NJW 1961,90f.; BayVGH, Beschl. v. 25.08.1989 - 23 CS 89.02090 u.a. - , NVwZ-RR 1990,328 <329>; HessVGH, Beschl. v. 26.09.1994 - 5 TH 595/93 - , NVwZ 1995,1027: Kopp/Schenke, VwGO, 13. Aufl. 2003, Rn 179 zu § 80; Schoch, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Rn 232 zu § 80).

Im Fall des Antragstellers zu 1. spricht die Aktenlage dafür, dass er nicht freiwillig, sondern unter dem Druck drohender Abschiebungsmaßnahmen ausgereist ist. Die Ausreise des Antragstellers zu 1. am 31.12.2004 ist aufgrund von Gesprächen erfolgt, die die Antragsgegnerin mit ihm ohne Einschaltung seines Bevollmächtigten geführt hat. Der Entschluss des Antragstellers zu 1. zur Ausreise am 31.12.2004 beruht nach der Darstellung der Antragsgegnerin auf dem Wunsch, die in Aussicht gestellten Mehrkosten einer Abschiebung zu vermeiden. Die Antragsgegnerin hat keinen Zweifel daran gelassen, dass der Antragsteller zu 1., wenn er nicht am 31.12.2004 ausreise, in jedem Fall abgeschoben werde. Das wird durch das Schreiben an den Prozessbevollmächtigten der Antragsteller vom 29.12.2004 hinreichend dokumentiert. Aus der Sicht des Antragstellers zu 1. bestand daher nur die Alternative, entweder ohne Rücksicht auf das noch laufende Beschwerdeverfahren bis zum 31.12.2004 "freiwillig" auszureisen oder aber nach dem 31.12.2004 bei negativem Ausgang des Beschwerdeverfahren abgeschoben zu werden. Der einstweilige Rechtsschutz liefe leer, wenn die Ausreise des Antragstellers zu 1. unter diesen Umständen nicht einer Vollziehung der Ausreisepflicht gleichgestellt, sondern als Erledigung des Eilverfahrens angesehen würde.

II.

Die Beschwerde ist aber unbegründet. Die nach § 80 Abs. 5 VwGO zu treffende Abwägung aller Umstände ergibt nämlich, dass das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsakts die privaten Interessen der Antragsteller an der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs überwiegt. Das Verwaltungsgericht hat zu Recht angenommen, dass der Widerspruch der Antragsteller aller Voraussicht nach erfolglos bleiben wird.

1. Zutreffend hat das Verwaltungsgericht insbesondere die Voraussetzungen einer Regel- Ausweisung nach § 47 Abs. 1 Nr. 1 , Abs. 3 i.V.m. § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AuslG (jetzt: § 53 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4, Sätze 2 und 3 AufenthG) angenommen. Zu Recht hat es auch angenommen, dass die Ausweisung gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 AuslG (jetzt: § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG) insbesondere auch unter spezialpräventiven Gesichtspunkten aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erfolgt. Wie in dem Urteil der Jugendkammer bei dem Amtsgericht Bremerhaven vom 20.12.2001 ausführlich dargestellt worden ist, ist es bei dem Antragsteller zu 1. immer wieder zu Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit Dritter gekommen, ohne dass die deswegen verhängten Sanktionen eine Verhaltensänderung hätten bewirken können. Aus der Brutalität und Intensität, die bei der letzten Straftat zu Tage getreten ist, hat die Jugendkammer auf eine hohe Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben und der Gesundheit anderer und die Gefahr der Begehung weiterer erheblicher Gewalttaten geschlossen. Besondere Umstände, die eine Ausnahme vom Regelfall der Ausweisung rechtfertigen könnten, hat das Verwaltungsgericht zu Recht verneint. Zur Vermeidung von Wiederholungen kann auf die entsprechenden Ausführungen im erstinstanzlichen Beschluss Bezug genommen werden. Die Beschwerde zeigt keine Gesichtspunkte auf, die insoweit eine abweichende Beurteilung rechtfertigen könnten.

2. Ob der Antragsteller zu 1. zu dem Personenkreis gehört, dem Art. 7 Satz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG/Türkei vom 19.09.1980 (ARB 1/80) eine aufenthaltsrechtliche Position vermittelt - so die Beschwerde - oder ob er diese Position wieder verloren hat - so das Verwaltungsgericht - , kann offen bleiben. Eine solche Position hindert nämlich nicht die Ausweisung des Antragstellers, wenn diese aus Gründen der öffentlichen Sicherheit gerechtfertigt ist (Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80). Solche Gründe liegen hier vor, weil - wie in anderem Zusammenhang im erstinstanzlichen Beschluss zutreffend dargestellt - von dem Antragsteller zu 1. die Gefahr weiterer Gewalttaten ausgeht. Allerdings darf die Ausweisung in einem solchen Fall nur aufgrund einer ausländerbehördlichen Ermessensentscheidung erfolgen (BVerwG; Urt. v. 03.08.2004 - 1 C 29,02 - , NVwZ 2005,224). In der Verfügung der Antragsgegnerin, die vor dem zitierten Urteil des Bundesverwaltungsgerichts ergangen ist, fehlt eine solche Ermessensausübung noch. Das ist indes unschädlich. Wegen der Änderung der Rechtsprechung wäre der Antragsgegnerin Gelegenheit zu geben, diese Ermessensentscheidung nachzuholen (BVerwG NVwZ 2005,224 <225>), wenn es nicht ohnehin auf die Ermessensausübung in dem noch ausstehenden Widerspruchsbescheid ankäme. Auch wenn der Ermessensentscheidung der Widerspruchsbehörde hier nicht vorgegriffen werden kann, lässt sich doch die Prognose rechtfertigen, dass eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für die Zurückweisung des Widerspruchs besteht. Nach der dem Oberverwaltungsgericht bekannten Verwaltungspraxis ist zu erwarten, dass die Widerspruchsbehörde der Gefahr weiterer erheblicher Gewalttaten, die im letzten jugendgerichtlichen Urteil festgestellt worden ist, auch für den Zeitpunkt ihrer Entscheidung ausschlaggebendes Gewicht beimessen wird.

3. Die Eheschließung des Antragstellers zu 1. mit einer deutschen Staatsangehörigen, der Antragstellerin zu 2., und die zwischenzeitliche Geburt eines gemeinsamen Kindes sind in die noch ausstehende Ermessensentscheidung einzustellen. Entgegen der Auffassung der Beschwerde zwingt der in Art. 6 GG und Art. 8 EMRK verankerte Schutz von Ehe und Familie nicht in jedem Fall dazu, von der Ausweisung des Antragstellers abzusehen.

Dem Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG hat der Gesetzgeber dadurch hinreichend Rechnung getragen, dass der Ausländer, der mit einer deutschen Staatsangehörigen in familiärer Lebensgemeinschaft lebt, nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden darf und die Ist-Ausweisung zu einer Regel-Ausweisung herabgestuft wird. Dadurch wird ermöglicht, die konkrete familiäre Situation zu berücksichtigen und von der Ausweisung abzusehen, wenn dies aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls geboten ist. Der Schutz von Ehe und Familie führt hingegen nicht dazu, dass allein schon das Bestehen einer familiären Lebensgemeinschaft mit deutschen Staatsangehörigen die Ausweisung auch dann in jedem Fall hindert, wenn der Ausländer in schwerwiegender Weise straffällig geworden ist und die Gefahr besteht, dass er erneut schwerwiegende Straftaten begeht (vgl. BVerwG, Beschl. v. 27.06.1997 - 1 B 123.97 - , Buchholz 402 § 47 AuslG Nr. 15 m.w.Nwn.).

Art. 8 EMRK steht der Ausweisung von straffällig gewordenen Ausländern der zweiten Generation, die mit einer deutschen Staatsangehörigen verheiratet sind und ein gemeinsames Kind haben, nicht in jedem Fall entgegen. Auch bei solchen Ausländern kann die Ausweisung gerechtfertigt, weil "notwendig in einer demokratischen Gesellschaft" sein. Ob das der Fall ist, hängt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte von einer Verhältnismäßigkeitsprüfung im Einzelfall ab. Maßgebend dafür sind die Schwere der begangenen Straftat, die familiäre Situation des Ausländers und die Frage, inwieweit der Ausländer noch über einen Bezug zu dem Staat seiner Staatsangehörigkeit verfügt (vgl. zuletzt die Beschlüsse des Senats vom 08.02.2005 - 1 B 430/04 und 1 B 6/05 -, jeweils m.w.Nwn.). Der Schwere der zuletzt begangenen Straftat kommt hier ausschlaggebende Bedeutung zu. In ihr ist eine erschreckende Gewaltbereitschaft sichtbar geworden, die nach den Feststellungen der Jugendkammer auch künftig von dem Antragsteller zu 1. zu befürchten ist. Überzeugende Anhaltspunkte dafür, dass eine Wiederholungsgefahr inzwischen nicht mehr besteht, sind nicht ersichtlich. Dass der Antragsteller zu 1. zur Tatzeit gerade volljährig geworden und auf ihn noch Jugendstrafrecht angewandt worden ist, hindert die Ausweisung nicht (vgl. zur Ausweisung minderjähriger Straftäter EGMR, Entsch. v. 04.10.2001 - Adam ./. Deutschland, NJW 2003, 2595 <2596>). Hinter dem Ziel, weitere Straftaten zu verhindern, müssen die privaten Belange der Antragsteller, die gegen die Ausweisung sprechen, trotz ihres nicht geringen Gewichts zurücktreten. Zwar ist der Antragsteller zu 1. als Sohn eines inzwischen eingebürgerten Vaters in Bremerhaven geboren und aufgewachsen. Die Beschwerde trägt aber nicht vor, dass er über keine Verbindungen zur Türkei mehr verfügt. Der Tatsache, dass der Antragsteller zu 1. eine deutsche Staatsangehörige geheiratet und mit ihr sowie einem gemeinsamen Kind in familiärer Lebensgemeinschaft lebt, kommt im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung großes Gewicht zu. Der Antragstellerin zu 2. ist nämlich nicht zuzumuten, ihrem Ehemann in die Türkei zu folgen. Dies gilt auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Eheschließung erst am 20.03.2003, also in Kenntnis der drohenden Ausweisung geschlossen worden ist (vgl. EGMR, Entsch. v. 15.07.2003 - Mokrani ./. Frankreich, Inf-AuslR 2004,183f.).

Der Verwurzelung des Antragstellers zu 1. in die hiesigen Lebensverhältnisse und seinen familiären Bindungen ist aber dadurch Rechnung zu tragen, dass die Wirkung der Ausweisung auf einen angemessenen Zeitraum befristet wird. Ohne eine solche Befristung auf einen relativ kurzen Zeitraum stellt die Ausweisung nach der neueren Rechtsprechung des EGMR (Entsch. v. 17.04.2003 - Yilmaz ./. Deutschland, NJW 2004,2147 <2149>; Entsch. v. 22.04.2004 - Radovanoviv ./. Österreich, InfAuslR 2004,374 <375>) einen unverhältnismäßigen Eingriff dar. Es erscheint zumindest fraglich, ob die Befristung auf vier Jahre, die die Antragsgegnerin vorgenommen und das Verwaltungsgericht gebilligt hat, den Belangen der Antragsteller hinreichend gerecht wird. Eine unverhältnismäßig lange Befristung führt aber nicht zur Aufhebung der angefochtenen Verfügung, wenn die Frist im Laufe des weiteren Verfahrens verkürzt wird (vgl. Beschl. des Senats vom 08.02.2005 - 1 B 430/04 -).

4. Erweist sich die Ausweisung bei der im Eilverfahren gebotenen summarischen Überprüfung als rechtmäßig, bestehen auch keine Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit der Ablehnung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis (vgl. §§ 8 Abs. 2 Satz 1, 72 Abs. 2 AuslG; jetzt: §§ 11 Abs. 1 Satz 2, 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG) und der Abschiebungsandrohung (vgl. § 50 Abs. 1 AuslG; jetzt: § 59 Abs. 1 AufenthG).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 3, 52 Abs. 2 GKG.

Ende der Entscheidung

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