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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Bremen
Beschluss verkündet am 20.04.2009
Aktenzeichen: 1 B 512/08
Rechtsgebiete: AufenthG, EMRK, GG


Vorschriften:

AufenthG § 53
AufenthG § 56 Abs. 1
EMRK Art. 8
GG Art. 2 Abs. 1
Eine Ausweisung greift auch dann in den Schutzbereich von Art. 8 I EMRK ein, wenn ein in Deutschland geborener Ausländer wiederholt straffällig geworden ist. Die Straftaten sind auf der Ebene der Schranke des Art. 8 II EMRK zu berücksichtigen und berühren die Rechtfertigung des Eingriffs. Bei der gebotenen Ermessensentscheidung über die Ausweisung sind die persönlichen Belange des Ausländers einerseits und das öffentliche Sicherheitsinteresse andererseits in ihrer Gesamtheit zu betrachten und entsprechend konkret zu gewichten und abzuwägen.
OVG: 1 B 512/08

Beschluss

In der Verwaltungsrechtssache

hat das Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen - 1. Senat - durch Richter Göbel, Richter Prof. Alexy und Richterin Feldhusen am 20.04.2009 beschlossen:

Tenor:

Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Bremen - 4. Kammer - vom 01.10.2008 wird mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung aufgehoben.

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen die Verfügung des Stadtamts Bremen vom 23.05.2008 wird wiederhergestellt.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren ebenfalls auf 3.750,00 Euro festgesetzt.

Dem Antragsteller wird Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung bewilligt und Rechtsanwalt ... beigeordnet.

Gründe:

Die Beschwerde ist erfolgreich.

Das Oberverwaltungsgericht gelangt bei der in einem Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO gebotenen Interessenabwägung zu dem Ergebnis, dass das Interesse des Antragstellers, einstweilen von der Durchsetzung der Verfügung vom 23.05.2008 (Ausweisung für drei Jahre und Androhung der Abschiebung nach Sri Lanka) verschont zu bleiben, das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der Verfügung überwiegt. Der Ausgang des Hauptsacheverfahrens lässt sich im Rahmen des vorliegenden Eilverfahrens nicht hinreichend sicher vorausbeurteilen. Mit Rücksicht auf die Intensität des dem Antragsteller drohenden Rechtseingriffs überwiegt unter diesen Umständen sein Interesse, einstweilen im Bundesgebiet zu verbleiben. Im Einzelnen gilt Folgendes:

1.

Gemäß § 53 Nr. 1 2. Alternative AufenthG ist ein Ausländer zwingend auszuweisen, wenn er wegen vorsätzlicher Straftaten innerhalb von fünf Jahren zu mehreren Freiheits- und Jugendstrafen von zusammen mindestens drei Jahren rechtskräftig verurteilt worden ist. Der Antragsteller erfüllt diesen Ausweisungstatbestand. Er ist innerhalb von fünf Jahren rechtskräftig zu insgesamt vier Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden.

Dass die Freiheitsstrafen überwiegend zur Bewährung ausgesetzt worden sind, ändert nach dem eindeutigen Wortlaut des § 53 Nr. 1 2. Alternative AufenthG nichts an der Verwirklichung des Ausweisungstatbestands. Der im Gesetz vorgesehene 5-Jahres-Zeitraum ist gewahrt, und zwar sowohl wenn man auf den Zeitpunkt der Verurteilungen abstellt (die Verurteilungen erfolgten zwischen dem 12.02.2003 und dem 27.08.2007), als auch wenn man auf den Zeitpunkt der Straftaten abstellt (die Straftaten wurden zwischen dem 31.07.2001 und dem 06.04.2006 begangen).

2.

Gemäß § 56 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AufenthG genießt der Antragsteller, weil er im Besitz einer Niederlassungserlaubnis ist und sich seit mehr als fünf Jahren im Bundesgebiet aufhält, besonderen Ausweisungsschutz. Dies führt dazu, dass in seinem Fall die an sich zwingend vorgesehene Ausweisung zur Regelausweisung herabgestuft ist (§§ 56 Abs. 1 S. 3 und S. 4 AufenthG).

Regelausweisung bedeutet, dass der Ausländer im Regelfall ausgewiesen und nur in Ausnahmefällen von der Ausweisung abgesehen werden soll; ist ein Ausnahmefall gegeben, ist nach Ermessen über die Ausweisung zu entscheiden. Bei einem Ausländer, der einen der in § 53 AufenthG genannten Ausweisungstatbestände erfüllt, gilt die gesetzliche Regelanordnung sowohl für den Ausweisungsgrund (§ 56 Abs. 1 S. 3 AufenthG) als auch für die Rechtsfolge der Ausweisung (§ 56 Abs. 1 S. 4 AufenthG).

3.

Allerdings haben diese strikten gesetzlichen Vorgaben durch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts eine wesentliche Korrektur erfahren. Danach liegt ein Ausnahmefall von der Regelausweisung - und damit die Notwendigkeit einer behördlichen Ermessensentscheidung - bereits dann vor, wenn durch höherrangiges Recht oder Vorschriften der EMRK geschützte Belange des Ausländers eine Einzelfallwürdigung unter Berücksichtigung der Gesamtumstände des Falles gebieten (BVerwG, U. v. 23.10.2007 - 1 C 10.07 - BVerwGE 129, 367 = InfAuslR 2008, 116). Das Bundesverwaltungsgericht hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass es mit Rücksicht auf Art. 8 Abs. 1 EMRK bzw. Art. 2 Abs. 1 GG insbesondere bei der im Laufe der Zeit angewachsenen Gruppe im Bundesgebiet geborener und aufgewachsener Ausländer erforderlich ist, bei der Entscheidung über eine Ausweisung eine individuelle Würdigung der persönlichen Verhältnisse des Ausländers und eine konkrete Abwägung zwischen diesen persönlichen Verhältnissen und dem öffentlichen Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung vorzunehmen. Art. 8 EMRK bzw. Art. 2 Abs. 1 GG schützen insoweit die Summe der persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind und denen angesichts der zentralen Bedeutung dieser Beziehungen für die Entfaltung der Persönlichkeit eines Menschen bei fortschreitender Dauer des Aufenthalts wachsende Bedeutung zukommt (vgl. BVerfG, B. v. 10.05.2007 - 2 BvR 304/07 - InfAuslR 2007, 275; B. v. 10.08.2007 - 2 BvR 535/06 - InfAuslR 2007, 443). Das Bundesverfassungsgericht und das Bundesverwaltungsgericht haben insoweit ausdrücklich auf die Rechtsprechung des EGMR zur Ausweisung von straffälligen Ausländern der zweiten Generation Bezug genommen (vgl. etwa EGMR, U. v. 28.06.2007 - 31753/02 - InfAuslR 2007, 325 - Kaya ./. Deutschland).

Das führt zwar nicht dazu, dass eine Ausweisung der Betreffenden von vornherein ausgeschlossen wäre. Unzulässig ist es aber etwa, das Gewicht der für eine Ausweisung sprechenden öffentlichen Interessen allein anhand der Typisierung der den Ausweisungsanlass bildenden Straftaten in den Ausweisungsvorschriften des Aufenthaltsgesetzes zu bestimmen. Vielmehr sind die persönlichen Belange des Ausländers sowie das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung in ihrer Gesamtheit zu betrachten und entsprechend konkret zu gewichten und abzuwägen.

4.

Nach diesem Maßstab ist die Ausweisung des Antragstellers - als Ausnahme vom Regelfall - nur auf der Grundlage einer behördlichen Ermessensentscheidung zulässig, die die widerstreitenden Belange einer konkreten Abwägung unterzieht. Der Ansicht des Verwaltungsgerichts, dass im vorliegenden Fall eine solche Ermessensentscheidung nicht geboten sei, vermag das Oberverwaltungsgericht nicht zu folgen. Der jetzt 25 Jahre alte Antragsteller ist im Alter von zwei Jahren mit seiner Mutter in das Bundesgebiet eingereist. Er ist hier aufgewachsen, hat hier die Schule besucht und den Hauptschulabschluss erlangt. Es drängt sich auf, dass sich die für seine Persönlichkeit konstitutiven Beziehungen im Bundesgebiet befinden und damit die Ausweisung in den Schutzbereich von Art. 8 Abs. 1 EMRK bzw. Art. 2 Abs. 1 GG eingreift.

An diesem Eingriff ändert auch der Umstand nichts, dass der Antragsteller wiederholt straffällig geworden ist. Die Straftaten berühren auf der Ebene der Schranke des Art. 8 Abs. 2 EMRK die Frage der Rechtfertigung des Eingriffs bzw. im Hinblick auf Art. 2 Abs. 1 GG dessen Verhältnismäßigkeit. Sie machen also die Abwägung nicht entbehrlich, sondern lösen umgekehrt gerade das Bedürfnis nach einem angemessenen Ausgleich der widerstreitenden Belange aus. Zutreffend hat die Antragsgegnerin im Bescheid vom 23.05.2008 dementsprechend eine Ermessensentscheidung getroffen (Seite 7/8 des Bescheids).

Eine Ermessensentscheidung ist vorliegend nicht nur deshalb erforderlich, weil die Ausweisung aus vorstehenden Gründen in das Privatleben des Antragstellers eingreift, sondern weil überdies durch Art. 8 Abs. 1 EMRK bzw. Art. 6 Abs. 1 GG geschützte familiäre Belange berührt sind. Der am 17.12.2007 geborene Sohn des Antragstellers besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit. Für das Kind besteht ein gemeinsames Sorgerecht mit der Kindesmutter; dem Antragsteller ist ein Umgangsrecht eingeräumt. Er ist ersichtlich bestrebt, dieses Umgangsrecht wahrzunehmen.

5.

Gegenstand der Abwägung ist neben der individuellen Würdigung der persönlichen Verhältnisse des Ausländers die zutreffende Gewichtung der von ihm ausgehenden Gefahr. Das Oberverwaltungsgericht sieht sich nach derzeitigem Aktenstand nicht in der Lage, die vom Antragsteller ausgehende Gefahr ausreichend sicher zu bestimmen. Abzustellen ist insoweit auf die Verhältnisse im gegenwärtigen Zeitpunkt (BVerwG, U. v. 15.11.2007 - 1 C 45.06 - BVerwGE 130, 20 = InfAuslR 2008, 156).

Art und Gewicht der vom Ausländer ausgehenden Gefahr bestimmen maßgeblich die Schwere des Ausweisungsgrundes. Behörden und Gerichte dürfen sich insoweit nicht damit begnügen, auf die verwirklichten Straftatbestände und die Höhe der verhängten Freiheitsstrafen abzustellen. Vielmehr sind sämtliche Tatumstände - auch die subjektiven - zu würdigen und sich daraus ergebenden Gefahren für Dritte zu gewichten. Für den Regelfall hat das Bundesverfassungsgericht, jedenfalls wenn die Ausweisung einen intensiven Rechtseingriff darstellt, deshalb die Einsicht in die Strafakten als unerlässlich angesehen (BVerfG, B. v. 10.08.2007, a. a. O.).

Im vorliegenden Fall hat der Antragsteller zwischen Juli 2001 und Juni 2002 massiv gegen die Strafgesetze verstoßen, u. a. durch einen am 27.12.2001 begangenen Messerangriff sowie diverse Diebstähle bis Juni 2002 (Urteil des AG Bremen vom 12.12.2003, Az. 107 Ls 440 Js 38118/02 und Urteil des LG Bremen vom 15.11.2004, Az. 15 Ks 210 Js 500/02). Der Antragsteller war seinerzeit 17 bzw. 18 Jahre alt und ist zu Jugendstrafe verurteilt worden. Diese Straftaten liegen jetzt knapp sieben Jahre zurück. Zu einer weiteren Häufung von Straftaten ist es im Jahr 2006 gekommen. Insoweit fallen u. a. der wiederholte Verkauf von Verbrauchsmengen Marihuana an Konsumenten sowie eine Gewalttätigkeit gegen seine damalige Freundin mit anschließender Bedrohung einer Zeugin ins Gewicht (Urteile des AG Bremen vom 13.10.2006, Az. 77 Ds 520 Js 25295/06 und vom 27.08.2007, Az. 86 Ds 150 Js 31018/06). Nach Art und Gewicht unterscheiden diese Straftaten sich von den zwischen Juli 2001 und Juni 2002 begangenen, so dass fraglich sein könnte, ob aus den neuerlichen Verfehlungen auf einen durchgehenden, verfestigten Hang zur Begehung von Straftaten geschlossen werden kann.

Allerdings ist es in jüngster Zeit anscheinend zu weiteren Straftaten gekommen, und zwar einmal zu einer erneuten Gewalttätigkeit gegen eine andere ehemalige Freundin (Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Bremen vom 09.01.2009, Az. 150 Js 67527/08). Besonders schwer fällt zum anderen die am 28.01.2009 erstattete Strafanzeige wegen räuberischer Erpressung ins Gewicht. Das angezeigte Verhalten weist auf eine erhebliche kriminelle Energie hin (massive Einschüchterung des Geschädigten; Androhung, den Geschädigten "abzustechen"). In beiden Fällen sind die Strafverfahren aber noch nicht abgeschlossen. Aufgrund dieser neuerlichen Vorfälle, die während des laufenden Ausweisungsverfahrens begangen wurden, erscheint nicht ausgeschlossen, dass sich eine deutlich negative Gefahrenprognose ergeben könnte, die auch unter Berücksichtigung der persönlichen und familiären Belange des Antragstellers zu einem Überwiegen des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung führen könnte. Vor Abschluss der Strafverfahren fehlt insoweit aber eine hinreichend sichere Beurteilungsgrundlage.

Diese Beurteilung könnte sich allerdings ändern, wenn während des Widerspruchs und ggf. eines gerichtlichen Verfahrens weitere Ermittlungs- und Strafverfahren eingeleitet werden müssten. Sollte der Antragsteller sich tatsächlich von einer Haltung bestimmen lassen, wie sie ihm in der Anklageschrift vom 09.01.2009 vorgehalten wird (Äußerung des Antragstellers, er habe "eh nichts mehr zu verlieren"), müsste das als Beleg für eine aktuelle und gravierende Gefahrenlage gewertet werden. Für die Antragsgegnerin bestünde in diesem Fall die Möglichkeit, gemäß § 80 Abs. 7 VwGO eine Abänderung des vorliegenden Beschlusses zu beantragen.

6.

Sollte sich ergeben, dass vom Antragsteller eine aktuelle und gravierende Gefahr erneuter Straftaten ausgeht, wäre - vorbehaltlich der am 26.09.2008 von der Antragsgegnerin angeforderten noch ausstehenden Stellungnahme des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge - eine Abschiebung nach Sri Lanka nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Die Rückkehr in ein fremdes, von politischen Unsicherheiten geprägtes Land kann trotz der damit verbundenen Härte zumutbar sein, wenn gewichtige Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit die Aufenthaltsbeendigung erfordern.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO; die Streitwertfestsetzung auf §§ 53 Abs. 3, 52 Abs. 1 GKG.

Die Entscheidung über die Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts beruht auf §§ 166 VwGO, 114 ff. ZPO.

Ende der Entscheidung

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