Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Bremen
Beschluss verkündet am 24.10.2003
Aktenzeichen: OVG 2 S 331/03
Rechtsgebiete: SGB X


Vorschriften:

SGB X § 45
SGB X § 48
Zu den Voraussetzungen der Aufhebung eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung nach § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X.
Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen

OVG 2 S 331/03

Beschluss

In der Verwaltungsrechtssache

hat das Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen - 2. Senat - durch Richterin Dreger, Richter Alexy und Richter Dr. Grundmann am 24.10.2003 beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde des Klägers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Bremen - 7. Kammer - wird zurückgewiesen.

Gründe:

I.

Der Kläger ist geistig und körperlich behindert. Sein Vater ist für ihn zum Betreuer mit dem Aufgabenkreis "Vermögenssorge" bestellt.

Die Beklagte gewährte dem Kläger Eingliederungshilfe nach dem BSHG. Mit Bescheiden vom 09.11.1992 und 29.04.1999 übernahm sie die Kosten der Unterbringung des Klägers in einem Wohnheim der Lebenshilfe.

Im Juli 1999 stellte sich heraus, dass der Kläger seit dem 4. Juli 1994 nach einem Arbeitsunfall eine Rente des Bremischen Gemeindeunfallversicherungsverbandes bezieht.

Daraufhin hob die Beklagte mit Bescheid vom 28.02.2000 die Bescheide vom 09.11.1992 und 29.04.1999, mit denen dem Kläger für die Zeit vom 04.07.1994 bis zum 30.11.1999 Hilfe in besonderen Lebenslagen nach dem BSHG zuerkannt worden war, für den genannten Zeitraum hinsichtlich eines Betrages von insgesamt DM 27.335,85 nachträglich auf. Zugleich stellte sie fest, dass der Kläger verpflichtet sei, die zu Unrecht erhaltene Sozialhilfe in Höhe von DM 27.335,85 der Stadtgemeinde Bremen zu erstatten.

Den dagegen eingelegten Widerspruch des Klägers wies der Senator für Arbeit, Frauen, Gesundheit, Jugend und Soziales mit Widerspruchsbescheid vom 05.12.2002 als unbegründet zurück.

Der Kläger hat sodann Klage erhoben. Seinen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von Rechtsanwalt ... für das Klageverfahren lehnte das Verwaltungsgericht durch Beschluss vom 04.08.2003 ab. Dagegen richtet sich die Beschwerde.

II.

Die Beschwerde hat keinen Erfolg.

Unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens ist nicht zu erkennen, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 166 VwGO i.V.m. § 114 ZPO).

1.

Der Kläger geht mit dem Verwaltungsgericht davon aus, dass Rechtsgrundlage für die Rückforderung der aufgrund des Bescheides vom 09.11.1992 erbrachten Sozialhilfeleistungen nicht § 45 SGB X, sondern § 48 Abs. 1 SGB X (jeweils i.V.m. § 50 Abs. 1 SGB X) ist. Das entspricht der Rechtsprechung des Senats (vgl. U. v. 20.12.2000 - Az. 2 A 267/00 - ). § 48 Abs. 1 SGB X regelt die Angleichung eines Verwaltungsakts mit Dauerwirkung an wesentlich veränderte tatsächliche oder rechtliche Verhältnisse. Nach § 48 Abs. 1 S. 2 SGB X soll eine Aufhebung in der Regel rückwirkend vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse an erfolgen, sofern einer der in § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 bis 3 SGB X genannten Fälle vorliegt.

Durch die Sollvorschrift wird der Verwaltung insoweit ein Ermessen eingeräumt, als sie zu prüfen hat, was in atypischen Fällen zu geschehen hat. Nur bei atypischen Fällen ist der Behörde ein Ermessen eingeräumt, das sie dann auch ausüben muss. Geht der Sozialleistungsträger von einem Regelfall aus, braucht er eine fehlende Atypik nicht besonders darzulegen (vgl. Freischmidt in Hauck/Haines, Sozialgesetzbuch, SGB X, K § 48 Rdnr. 16).

Wann ein atypischer Fall vorliegt, ist nach der jeweiligen Regelung des § 48 Abs. 1 S. 2 SGB X zu bestimmen und hängt maßgebend von den Umständen des Einzelfalls ab. Diese müssen Merkmale aufweisen, die signifikant vom (typischen) Regelfall abweichen, in dem die Rechtswidrigkeit eines ursprünglich richtigen Verwaltungsaktes durch nachträgliche Veränderung in den rechtlichen oder tatsächlichen Verhältnissen eingetreten ist (vgl. BSG, U. v. 26.10.1998 - Az.: B 2 U 35/97 R - m.w.N.; vgl. auch Hauck/Haines, a.a.O.).

2.

Der Kläger trägt zur Begründung der Beschwerde vor, weder die Beklagte noch das Verwaltungsgericht hätten sich mit der Frage eines atypischen Sachverhalts auseinandergesetzt; die angegriffenen Bescheide seien bereits deshalb rechtsfehlerhaft. Zudem sei nach Würdigung aller Gesamtumstände ein atypischer Fall gegeben.

Dem kann nach summarischer Prüfung nicht gefolgt werden. Einer Ermessensentscheidung der Behörde bedarf es - wie dargelegt - im Rahmen von § 48 Abs. 1 S. 2 SGB X nur, wenn ein atypischer Fall vorliegt. Die Umstände, die der Kläger in der Beschwerdebegründung vorträgt, vermögen die Annahme eines solchen Falles nicht zu tragen.

Dabei ist zu beachten, dass allein die Härte, die mit der Rückzahlungspflicht infolge einer rückwirkenden Aufhebung verbunden ist, für die Annahme einer atypischen Fallgestaltung nicht ausreicht (Hauck/Haines, a.a.O.). Auch der Umstand, dass der überzahlte Betrag bereits verbraucht ist, stellt noch keine besondere Härte einer Rückforderung dar (vgl. von Wulffen, SGB X, 4. Auflage, § 48 Rdnr. 20). Vielmehr müssen darüber hinaus die für den Regelfall vorgesehenen Rechtsfolgen im konkreten Fall besonders unbillig und unangemessen sein (Hauck/Haines, a.a.O.).

Hier hat der Kläger darauf hingewiesen, dass er die zusätzliche Rente durch ein Ereignis erhalten habe, das für die Gewährung der Leistungen nach dem BSHG nicht ursächlich gewesen sei. Es habe sich bei den jeweiligen Leistungen um völlig unterschiedliche Ausgleichsfunktionen gehandelt und der sog. normale Bürger habe nicht in Rechnung stellen müssen, dass die eine Leistung auch Auswirkungen auf die andere haben könne.

Diesem Vorbringen kann schon deshalb kein nennenswertes Gewicht beigemessen werden, weil der Kläger in den angefochtenen Bescheiden vom 09.11.1992 und 29.04.1999 ausdrücklich darauf hingewiesen worden ist, dass die bewilligte Hilfe unter der Voraussetzung gewährt wird, dass die ihr zugrundeliegenden Angaben, insbesondere über das Einkommen und Vermögen, richtig sind. Die Bewilligung gelte solange, wie keine Veränderungen einträten. Der Kläger sei daher verpflichtet, die Behörde unverzüglich und unaufgefordert auf eventuell unzutreffende Angaben hinzuweisen und sie "von allen Veränderungen zu unterrichten".

Dieser Verpflichtung ist der Kläger nicht nachgekommen, was der Annahme eines atypischen Sonderfalls zu seinen Gunsten entgegensteht. Sollte der Betreuer des Klägers der Auffassung gewesen sein, dass die Rente, die dem Kläger nach dem Arbeitsunfall gewährt worden ist, in keinerlei Sachzusammenhang mit der Übernahme der Heimkosten durch die Beklagte steht, so wäre der Betreuer - wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat - dennoch gehalten gewesen, die Beklagte über den Rentenbezug zu informieren.

Der Kläger kann sich auch nicht durch das Vorbringen entlasten, der für ihn eingesetzte Betreuer habe objektiv fehlerhaft gehandelt, ohne dass er selbst die Möglichkeit irgendeiner Einflussnahme gehabt habe. Aus seiner - des Klägers - Sicht liege deshalb ein "Fremdverschulden" vor.

Ist ein Betreuer bestellt, so wirken dessen Erklärungen im übertragenen Aufgabenkreis für und gegen den Betreuten und kommt es für die Kenntnis oder das Kennenmüssen von Umständen, die für die rechtlichen Folgen einer Erklärung bedeutsam sind, grundsätzlich auf die Person des Betreuers - nicht des Betreuten - an (vgl. §§ 164 Abs. 1, 166 Abs. 1 BGB). Ein Fall, in dem davon ausnahmsweise wegen offensichtlichen Missbrauchs der Vertretungsmacht abgesehen werden könnte, liegt nicht vor.

Soweit der Kläger auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 26.10.1998 (Az.: B 2 U 35/97) verweist, ist festzustellen, dass jener Fall in entscheidungserheblichen Punkten anders als der vorliegende gelagert war. In jenem Fall hatte sich die Klägerin - anders als hier - mit der dafür als kompetent anzusehenden Stelle der Behörde in Verbindung gesetzt und war ein "mitwirkendes Fehlverhalten" der Behörde bezüglich der erfolgten Doppelleistung an die Klägerin festgestellt worden.

Zwar weist das Bundessozialgericht in jener Entscheidung auch darauf hin, dass es einen atypischen Fall angenommen habe, wenn der Empfänger die überzahlte Leistung gutgläubig verbraucht habe und ihm für die Rückzahlung nur die laufenden Bezüge zur Verfügung stehen (vgl. BSG SozR 1300 § 48 Nr. 53). Auch insoweit kann indes hier ein vergleichbarer Fall nicht angenommen werden, denn es fehlt an der Gutgläubigkeit. Der Betreuer des Klägers hat nach Aktenlage die Mitteilung über den Rentenbezug an die Beklagte zumindest grob fahrlässig (vgl. § 932 Abs. 2 BGB) unterlassen.

Sonstige Gesichtspunkte, die im Hinblick auf § 48 Abs. 1 S. 2 SGB X geeignet sein könnten, einen atypischen Sachverhalt zu begründen, zeigt die Beschwerde nicht auf.

Da hiernach wegen Fehlens eines atypischen Sachverhalts keine Ermessensentscheidung zu treffen war, führt die unzutreffende Begründung in den angefochtenen Bescheiden nicht zu deren Aufhebung.

3.

Bezüglich des Bewilligungsbescheides vom 29.04.1999 hat das Verwaltungsgericht ausgeführt, die Rückforderung ergebe sich insoweit aus § 45 SGB X und das Gericht werde voraussichtlich der Begründung im Widerspruchsbescheid vom 05.12.2002 folgen. Ernstliche Zweifel an diesen Ausführungen des Verwaltungsgerichts sind in der Beschwerdebegründung nicht vorgebracht und auch sonst nicht zu erkennen.

Auf die von der Beschwerde aufgeworfene Frage, ob bei einer Neubescheidung durch die Beklagte die Jahresfrist des § 45 Abs. 4 SGB X noch gewahrt werden kann, kommt es nach den vorstehenden Ausführungen im Rahmen des vorliegenden Verfahrens nicht an.

Ende der Entscheidung

Zurück