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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Bremen
Beschluss verkündet am 20.08.2007
Aktenzeichen: S1 B 68/07
Rechtsgebiete: SGB II


Vorschriften:

SGB II § 7 Abs. 5 Satz 2
Ein besonderer Härtefall nach § 7 Abs. 5 Satz 2 SGB II liegt u. a. dann vor, wenn der wesentliche Teil der Ausbildung bereits abgeleistet wurde und der bevorstehende Abschluss an unverschuldeter Mittellosigkeit zu scheitern droht.
Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen Beschluss

OVG: S1 B 68/07

In dem Rechtsstreit

hat das Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen - 1. Senat für Sozialgerichtssachen - durch die Richter Stauch, Göbel und Dr. Grundmann am 20.08.2007 beschlossen:

Tenor:

Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Bremen vom 16.01.2007 - S 3 V 3397/06 - wird aufgehoben. Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, dem Antragsteller ab dem 27.12.2006 im Wege eines Darlehens Grundsicherung für Arbeitssuchende in gesetzlicher Höhe vorläufig bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache, längstens jedoch längstens für 12 Monate, zu gewähren.

Die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers sind für beide Instanzen erstattungsfähig.

Gründe:

I.

Der Antragsteller begehrt im vorläufigen Rechtsschutz Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II - Grundsicherung für Arbeitssuchende.

Der am 12.02.1979 geborene Antragsteller hat bereits eine Ausbildung zum Maler absolviert. Am 01.08.2004 begann er eine Zweitausbildung zum Zahntechniker, die nach dem geschlossenen Ausbildungsvertrag bis zum 31.01.2008 andauern soll. Am 17.03.2006 stellte er bei der Antragsgegnerin einen Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB II).

Mit Bescheid vom 07.11.2006 lehnte die Antragsgegnerin diesen Antrag mit der Begründung ab, nach § 7 Abs. 5 und 6 SGB bestehe kein Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung, weil die Ausbildung zum Zahntechniker nach dem BAföG oder den §§ 60 bis 62 des Dritten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB III) dem Grund nach förderungsfähig sei. Der fristgerecht erhobene Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 07.12.2006 zurückgewiesen. Am 27.12.2007 hat der Antragsteller dagegen Klage erhoben und beim Verwaltungsgericht beantragt, ihm im Wege der einstweiligen Anordnung Leistungen der Grundsicherung zu gewähren. Seine Ausbildung sei als Zweitausbildung weder im Rahmen des BAföG noch im Rahmen der §§ 60 - 62 SGB III dem Grunde nach förderungsfähig, da die Förderungsfähigkeit gem. § 60 Abs. 3 SBG III auf die Erstausbildung beschränkt sei.

Das Verwaltungsgericht hat den Antrag auf einstweilige Anordnung abgelehnt. Die Ausbildung sei dem Grunde nach nach § 60 Abs. 1 SGB III förderungsfähig, so dass der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 5, 6 SGB II greife. Dabei sei ohne Bedeutung, dass sie als Zweitausbildung gem. § 60 Abs. 2 SGB III im konkreten Fall des Antragstellers tatsächlich nicht gefördert werde. Die Vorschriften des BAföG und der §§ 60 - 62 SGB III hätten abschließenden Charakter. Durch den Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 5, 6 SBG II solle erreicht werden, dass Ausbildungsförderung allein nach Maßgabe der Vorschriften des BAföG und der §§ 60 - 62 SGB II erfolge. Auch ein besonderer Härtefall i. S. d. § 7 Abs. 5 S. 2 SGB II, für dessen Auslegung das Verwaltungsgericht auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 26 S. 2 BSHG zurückgreife, liege nicht vor. Eine besondere Härte bestehe nur dann, wenn die Folgen des Anspruchsausschlusses über das Maß hinausgehen, das regelmäßig mit der Versagung von Hilfe zum Lebensunterhalt für eine Ausbildung verbunden sei. Dass der Betroffene unter Umständen zum Abbruch der Ausbildung gezwungen werde, habe der Gesetzgeber in Kauf genommen, das begründe keinen Härtefall. Das bloße Interesse, durch eine Zweitausbildung am Arbeitsmarkt die Vermittlungschancen zu erhöhen, begründe keine Ausnahme.

Mit der Beschwerde trägt der Antragsteller vor, § 7 Abs. 5 SGB II stelle nicht auf die grundsätzliche Förderungsfähigkeit ab. Vielmehr sei auch die Einschränkung nach § 60 Abs. 2 SBG III Tatbestandsmerkmal des § 7 Abs. 5 SGB II, so dass seine Ausbildung als Zweitausbildung nicht dem Grunde nach förderungsfähig sei.

II.

Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Das Verwaltungsgericht hat den Erlass einer einstweiligen Anordnung zu Unrecht abgelehnt. Dem Antragsteller ist im Wege eines Darlehens vorläufig Grundsicherung für Arbeitssuchende in gesetzlicher Höhe bis zur Entscheidung in der Hauptsache, längstens bis zum 31.1.2008 zu gewähren.

1. Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.

Zwar geht das Verwaltungsgericht zutreffend davon aus, dass ein Anspruch nach § 7 Abs. 1 SGB II auf Sicherung des Lebensunterhalts hier gem. § 7 Abs. 5 S. 1 SGB II grundsätzlich ausgeschlossen ist. Es liegen aber die Voraussetzungen für einen Härtefall nach § 7 Abs. 5 S. 2 SGB II vor, so dass Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts als Darlehen einstweilen zu gewähren sind.

Der Antragsteller erfüllt unstreitig die Kriterien des § 7 Abs. 1 S. 1 Nrn. 1, 2 und 4 SGB II; er ist auch hilfsbedürftig i.S.v. § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, 9 Abs. 1 SGB II. § 7 Abs. 5 S. 1 SGB II bestimmt jedoch, dass Auszubildende, deren Ausbildung u. a. im Rahmen der §§ 60 bis 62 SGB III dem Grunde nach förderungsfähig ist, keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II haben.

Das Verwaltungsgericht geht - entgegen der Auffassung der Antragstellers - zutreffend davon aus, dass seine Ausbildung zum Zahntechniker als staatlich anerkannte Ausbildung gem. § 60 Abs. 1 SGB III dem Grunde nach förderungsfähig ist, auch wenn es sich dabei um eine Zweitausbildung handelt. Zwar beschränkt § 60 Abs. 2 SGB III die Förderungsfähigkeit auf die erstmalige Ausbildung. Daraus kann aber nicht geschlossen werden, dass eine Zweitausbildung nicht unter den Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 5 S. 1 SGB II fällt und stets nach § 7 SGB II förderungsfähig ist.

Eine solche Auslegung würde dem gesetzgeberischen Zweck des Ausschlusstatbestandes des § 7 Abs. 5 S. 1 SGB II zuwiderlaufen. Zur Auslegung dieser Vorschrift ist nach der Gesetzesbegründung auf die Erläuterungen und Entscheidungen zu der wortgleichen Vorgängervorschrift des § 26 BSHG (vgl. BT-Drs. 15/1514, S. 57) und des ebenfalls gleich lautenden § 22 SGB XII (vgl. BT-Drs. 15/1749, S. 31) zurückzugreifen (so auch LSG Niedersachsen-Bremen, Beschl. v. 05.05.2006 - Az. L 6 AS 136/06 ER; LSG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 05.04.2006 - L 19 B 151/06 AS ER; Spellbrink, in: Eicher/Spellbrink, SGB II-Kommentar, 1. Aufl. 2005, § 7 Rn. 43). Wie bei diesen Vorschriften bezweckt auch der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 5 S. 1 SGB II sicherzustellen, dass das BAföG bzw. SGB III abschließend regelt, unter welchen Voraussetzungen eine Ausbildung förderungsfähig ist. Es soll ausgeschlossen werden, dass eine Ausbildungsförderung auf einer "zweiten Ebene" über § 7 SGB II erfolgt (Thüringer Landessozialgericht, Beschl. v. 22.09.2005 - Az.: L 7 AS 635/05 ER). Damit wäre es unvereinbar, wenn für eine Ausbildung, die im konkreten Fall als Zweitausbildung nach § 60 Abs. 2 SGB III nicht förderungsfähig ist, dennoch Leistungen nach § 7 SGB II als Grundsicherung für Arbeitssuchende gewährt würden. Die Formulierung "dem Grunde nach förderungsfähig" ist im Sinne einer abstrakten, vom konkreten Einzelfall losgelösten Förderungsfähigkeit zu verstehen. Die Frage, ob eine Ausbildung für den jeweiligen Betroffenen eine Zweitausbildung darstellt, ist dabei eine Frage des konkreten Einzelfalles, die an der abstrakten Förderungsfähigkeit der Ausbildung nach § 60 Abs. 1 SGB III nichts ändert (vgl. Landessozialgericht Thüringen, Beschl. v. 22.09.2005 - Az.: L 7 AS 635/05 ER; Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschl. v. 05.05.2006 - Az.: L 6 AS 136/06 ER; Landessozialgericht Hessen, Beschl. v. 15.03.2007 - Az.: L 7 AS 22/07 ER).

Entgegen den Ausführungen des Verwaltungsgerichts hat der Antragsteller aber die Voraussetzungen für einen besonderen Härtefall nach § 7 Abs. 5 S. 2 SGB II glaubhaft gemacht. Danach können in solchen Härtefällen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts als Darlehen geleistet werden. Auch für die Voraussetzungen eines Härtefalls kann auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 26 BSHG zurückgegriffen werden (vgl. BVerwG, Urteil v. 14.10.1993 - 5 C 16/91 -, NVwZ-RR 1994, S. 267 f.). Danach liegt ein besonderer Härtefall vor, wenn die Folgen des Anspruchsausschlusses nach § 7 Abs. 5 S. 1 SGB II deutlich über das Maß hinausgehen, das regelmäßig mit der Versagung von Hilfe zum Lebensunterhalt für eine Ausbildung verbunden ist. Allein die typische Konsequenz des Leistungsausschlusses, die Ausbildung nicht beginnen oder fortsetzen zu können, begründet danach eine besondere Härte nicht. Diese Folgen hat der Gesetzgeber in Kauf genommen. Es müssen im Einzelfall Umstände hinzutreten, die auch im Hinblick auf den Gesetzeszweck, die Grundsicherung von den finanziellen Lasten der Ausbildungsförderung freizuhalten, den Ausschluss übermäßig hart erscheinen lassen (so auch LSG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 05.07.2006 - Az.: L 10 AS 545/06).

Von der Rechtsprechung und Literatur wird es u. a. im Rahmen einer Bildung von Fallgruppen als härtebegründend angesehen, wenn der wesentliche Teil der Ausbildung bereits absolviert ist und der bevorstehende Abschluss unverschuldet an Mittellosigkeit zu scheitern droht (so LSG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 05.07.2006 - Az.: L 10 AS 545/06; LSG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 15.04.2005 - Az.: L 2 B 7/05 AS ER; OVG Niedersachsen, Beschl. v. 29.09.1995 - Az.: 4 M 5332/95; Eicher/Spellbrink, SGB II, § 7 Rn. 47 ff.; Münder, SGB II, § 7 Rn. 74 ff.; Grube/Wahrendorf, SGB XII, § 22Rn. 32 ff.). So liegt der Fall hier. Denn der Antragsteller hatte im Zeitpunkt der Antragstellung beim Verwaltungsgericht den ganz überwiegenden Teil der Ausbildung bereits abgeschlossen (29 von 42 Monaten). Der Antragsteller steht jetzt unmittelbar vor dem Abschluss seiner Ausbildung, die im Januar 2008 nach dreieinhalb Jahren enden wird. Der Abbruch eines so weitgehend absolvierten Ausbildungsganges und damit der Verlust der greifbar nahen Berufsqualifizierung stellt eine besondere Härte im Sinne des § 7 Abs. 5 S. 2 SGB II dar. Die drohende Folge, dass der Antragsteller seine nahe zu abgeschlossene Ausbildung, die seine Chancen, sich zukünftig selbst unterhalten zu können, erhöht, abbrechen zu müssen, widerspricht dem Zweck des SGB II. Gemäß § 1 Abs. 1 S. 1 SGB II soll die Grundsicherung für Arbeitssuchende gerade die Eigenverantwortung stärken und dazu beitragen, dass Hilfsbedürftige ihren Lebensunterhalt zukünftig aus eigenen Mitteln finanzieren können (so LSG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 15.04.2005 - Az.: L 2 B 7/05 AS ER). Dem Anordnungsanspruch steht nicht entgegen, dass es sich bei der Härtefallklausel des § 7 Abs. 5 S. 2 SGB II um eine Ermessensvorschrift handelt. Bei Vorliegen eines Härtefalles ist die Hilfeleistung indiziert. Sie kann nur in Ausnahmefällen verweigert werden. Die mögliche Verwaltungsentscheidung hat sich hier auf eine Leistungsgewährung verdichtet (so auch LSG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 15.04.2005 - Az.: L 2 B 7/05 AS ER; Brühl, in: LPK-SGB II, § 7 Rn. 75).

2. Der Antragsteller hat auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Ihm drohen ohne die vorläufige Regelung wesentliche Nachteile. Denn bei einem weiteren Vorenthalten der Grundsicherung besteht die akute Gefahr, dass der Antragsteller zur Erhaltung des Lebensunterhalts seine Ausbildung abbrechen muss. Diese Folge wäre nach Abschluss des Hauptsacheverfahrens nicht mehr rückgängig zu machen. Der Antragsteller verfügt nach seinen konkreten Angaben im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht nicht über hinreichende eigene Mittel, um seine Lebensführung bis zur Hauptsacheentscheidung selbst sicherzustellen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 SGG.

Ende der Entscheidung

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