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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Bremen
Beschluss verkündet am 27.05.2005
Aktenzeichen: S2 B 80/05
Rechtsgebiete: SGB XII, BSHG, SGB I


Vorschriften:

SGB XII § 98 Abs. 2 Satz 3
BSHG § 97 Abs. 2 Satz 3
SGB I § 43 Abs. 1
Ist in einem Eilfall streitig, ob der Leistungsberechtigte in einer stationären Einrichtung im Sinne von § 13 Abs. 1 Satz 2 SGB XII untergebracht ist, kommt § 98 Abs. 2 Satz 3 SGB XII nicht zur Anwendung. Die Vorschrift gilt nur für Eilfälle, in denen ein Anspruch auf Hilfe in einer stationären Einrichtung besteht.

In einem solchen Streitfall ist die Regelung des § 43 SGB I über die Verpflichtung zu vorläufigen Leistungen anwendbar.


Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen Beschluss

OVG: S2 B 80/05

In dem Rechtsstreit

hat das Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen - 2. Senat für Sozialgerichtssachen - durch Richterin Dreger, Richter Nokel und Richter Dr. Grundmann am 27.05.2005 beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts der Freien Hansestadt Bremen - 4. Kammer für Sozialgerichtssachen - wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Antragsgegner ab 01.02.2005 die Kosten für die Unterbringung des Antragstellers im A., Bremen, vorläufig bis zur Entscheidung des Verwaltungsgerichts Berlin im Verfahren Az. 6 A 437/05 (vormals VG Berlin 17 A 507.03) zu übernehmen hat.

Der Antragsgegner hat dem Antragsteller die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen. Dazu gehören nicht die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst zu tragen hat.

Gründe:

I.

Der 1917 geborene Antragsteller wohnte bis 1985 in Berlin. Anschließend zog er nach Bremen, wo er in verschiedenen Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe untergebracht war. Seit dem 03.01.2002 lebt er im A. in Bremen.

Der Antragsteller bezog seit 1984 Leistungen der Sozialhilfe, die vom Antragsgegner (Land Berlin) erbracht wurden.

Nach dem Wechsel des Antragstellers ins A. erfolgte zunächst keine Kostenübernahme durch den Antragsgegner. Nachdem der Antragsteller beim Verwaltungsgericht Berlin am 24.04.2002 einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt hatte, erklärte das Sozialamt des Bezirksamts Lichtenberg von Berlin mit Schreiben vom 03.05.2002, es werde dem Antragsteller Hilfe gewähren. Daraufhin wurde das Verfahren von den Beteiligten übereinstimmend für erledigt erklärt und dem Antragsgegner wurden die Kosten auferlegt (B. v. 17.05.2002, Az. VG Berlin 17 A 226.02).

Am 31.05.2002 zahlte der Antragsgegner an das A. 8.097,46 Euro.

Weitere Zahlungen an das A. erfolgten nicht. Mit Schreiben vom 25.06.2003 teilte das Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf, Berlin, dem Antragsteller mit, eine (weitere) Kostenübernahme könne nicht erfolgen, da nicht geklärt sei, ob es sich beim A. um eine Einrichtung i.S.v. § 97 Abs. 4 BSHG handele und damit die Zuständigkeit beim Land Berlin liege.

Einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, mit dem der Antragsteller die Übernahme der Kosten für seine Unterbringung im A. seit dem 01.06.2002 begehrte, lehnte das Verwaltungsgericht Berlin mit Beschluss vom 26.08.2003 (Az. 17 A 365.03) ab. Es fehle an einem Regelungsbedürfnis, da nicht glaubhaft sei, dass das A. alsbald eine weitere Betreuung des Antragstellers verweigern werde.

Am 17.09.2003 erhob der Antragsteller Klage beim Verwaltungsgericht Berlin und beantragte festzustellen, dass das Land Berlin verpflichtet sei, die Heimkosten ab dem 01.06.2002 zu übernehmen abzüglich der monatlichen Rente des Klägers und des monatlich bereits erhaltenen Taschengeldes (Az. VG Berlin 6 A 437.05). Über diese Klage ist noch nicht entschieden.

Mit Bescheid vom 06.12.2004 lehnte es das Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf, Berlin, ab, die Pflegebedürftigkeit des Antragstellers festzustellen, weil das Land Berlin nicht der örtlich zuständige Träger der Sozialhilfe sei. Die Krankenhilfe nach § 37 BSHG werde dem Antragsteller ohne Anerkennung eines Rechtsanspruches zur Sicherstellung der geltend gemachten notwendigen medizinischen Versorgung vom Land Berlin gewährt.

Mit Bescheid vom 25.01.2005 lehnte das Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf auch die weitere Anmeldung des Antragstellers bei der AOK Berlin ab.

Durch Beschluss vom 24.02.2005 verpflichtete das Verwaltungsgericht Bremen - 4. Kammer für Sozialgerichtssachen - den Antragsgegner (Land Berlin) im Wege der einstweiligen Anordnung, die Krankenversicherung des Antragstellers für das Jahr 2005, die Feststellung seiner Pflegebedürftigkeit und den Ausgleich der Unterbringungskosten für den Antragsteller im A., Bremen, vorläufig bis zur Entscheidung der beim Verwaltungsgericht Berlin anhängigen Hauptsacheklage sicherzustellen.

Gegen diesen Beschluss wendet sich der Antragsgegner mit der Beschwerde.

II.

Die Beschwerde hat keinen Erfolg.

Das Verwaltungsgericht hat die einstweilige Anordnung zu Recht erlassen (vgl. § 86 b Abs. 2 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO). Die Einwände des Antragsgegners gegen die erstinstanzliche Entscheidung greifen nicht durch.

1.

Ein Anordnungsgrund liegt vor. Zwar hat der Heimträger des A. den Vertrag mit dem Antragsteller noch nicht gekündigt. Jedoch sind die Kosten für die Unterbringung des Antragstellers bereits seit etwa drei Jahren nicht ausgeglichen worden. Dass der Heimträger daraus mit Rücksicht auf das Alter des Antragstellers (87 Jahre) und dessen Erkrankung noch keine Konsequenzen gezogen hat, läßt den Anordnungsgrund nicht entfallen. Eine fortdauernde Unsicherheit darüber, ob er im A. verbleiben kann, kann dem alten und kranken Antragsteller nicht zugemutet werden.

2.

Entgegen der Auffassung des Antragsgegners ist auch ein Anordnungsanspruch des Antragstellers gegen den Antragsgegner gegeben. Der Antragsgegner ist jedenfalls nach § 43 Abs. 1 SGB I zu vorläufigen Leistungen an den Antragsteller verpflichtet.

a)

Ob der Antragsgegner nach § 98 Abs. 2 SGB XII der für Leistungen an den Antragsteller örtlich zuständige Träger der Sozialhilfe ist, ist im vorliegenden Eilverfahren nicht zu klären.

§ 98 Abs. 2 SGB XII ist § 97 Abs. 2 BSHG nachgebildet. Nach § 97 Abs. 2 BSHG war für die Hilfe in einer Anstalt, einem Heim oder einer gleichartigen Einrichtung der Träger der Sozialhilfe örtlich zuständig, in dessen Bereich der Hilfeempfänger seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Zeitpunkt der Aufnahme oder in den zwei Monaten vor der Aufnahme zuletzt gehabt hat. War bei Einsetzen der Sozialhilfe der Hilfeempfänger aus einer Einrichtung i.S.d. Satzes 1 in eine andere Einrichtung oder von dort in weitere Einrichtungen übergetreten oder trat nach dem Hilfebeginn ein solcher Fall ein, dann war der gewöhnliche Aufenthalt, der für die erste Einrichtung maßgebend war, entscheidend (vgl. § 97 BSHG Sätze 1 und 2).

Ab 01.01.2005 gilt das SGB XII, das in § 98 Abs. 2 nicht mehr von "Anstalt", "Heim" oder einer "gleichartigen Einrichtung" spricht, sondern statt dessen von "stationärer Leistung" in einer "Einrichtung". Die Einrichtungen unterteilt das SGB XII in stationäre oder teilstationäre Einrichtungen i.S.v. § 13 SGB XII (vgl. § 75 Abs. 1 S. 1 SGB XII). Stationäre Einrichtungen sind nach § 13 Abs. 1 S. 2 SGB XII Einrichtungen, in denen Leistungsberechtigte leben und die erforderlichen Hilfen erhalten.

Ob es sich beim A. um eine stationäre Einrichtung in diesem Sinne handelt, ist zwischen den Beteiligten streitig. Der Antragsgegner hat im Beschwerdeverfahren verschiedene Gesichtspunkte vorgetragen, die nach seiner Auffassung dagegen sprechen, dass es beim A. um eine stationäre Einrichtung i.S.v. § 98 Abs. 2 S. 1 SGB XII handelt (z. B. fehlender Versorgungsvertrag, Unterbringung gemäß § 11 Abs. 2 BSHG). Das Eilverfahren ist nicht geeignet, diesen Streitpunkt abschließend zu klären. Vielmehr muss das dem bereits vor dem Verwaltungsgericht Berlin anhängigen Hauptsacheverfahren (Az. 6 A 437.05) vorgehalten bleiben.

b)

Entgegen der Auffassung des Antragsgegners ist wegen des Streits darüber, ob es sich beim A. um eine stationäre Einrichtung i.S.v. § 98 Abs. 2 S. 1 SGB XII handelt, nicht nach § 98 Abs. 2 S. 3 SGB XII die Beigeladene als Träger der Sozialhilfe, in dessen Bereich sich der Antragsteller tatsächlich aufhält, örtlich zuständig. Nach § 98 Abs. 2 S. 3 SGB XII ist der Träger der Sozialhilfe des tatsächlichen Aufenthaltsortes des Leistungsberechtigten örtlich zuständig, wenn nicht innerhalb von vier Wochen feststeht, ob und wo der gewöhnliche Aufenthalt nach Satz 1 oder 2 begründet worden ist oder ein gewöhnlicher Aufenthaltsort nicht vorhanden oder nicht zu ermitteln ist oder ein Eilfall besteht.

Die Vorschrift gehört zu den Sonderregelungen, die der Gesetzgeber in § 98 Abs. 2 SGB XII für Fälle geschaffen hat, in denen Hilfe in einer stationären Einrichtung zu gewähren ist. Durch diese Sonderregelungen soll vermieden werden, dass Kommunen, in denen sich Einrichtungen zur stationären Aufnahme von Hilfebedürftigen befinden, durch Sozialleistungskosten erheblich belastet werden, während Kommunen ohne solche Einrichtungen von Kosten dieser Art frei wären. Der Gesetzgeber hat deshalb die örtliche Zuständigkeit für Hilfen dieser Art nicht an den tatsächlichen, sondern an den gewöhnlichen Aufenthalt geknüpft, den der Hilfeempfänger im Zeitpunkt der Aufnahme oder - zur Vermeidung von Umgehungen - in den zwei Monaten vor der Aufnahme zuletzt gehabt hat.

Geht es nicht um Hilfe in einer stationären Einrichtung, greifen die Sondervorschriften des § 98 Abs. 2 SGB XII nicht ein und bleibt es deshalb bei den allgemeinen Regelungen. Das gilt auch für § 98 Abs. 2 S. 3 SGB XII. Auch diese Vorschrift kommt nur in den Fällen zur Anwendung, in denen ein Anspruch auf Hilfe in einer stationären Einrichtung besteht. Davon werden die Fälle erfasst, in denen der an sich nach § 98 Abs. 2 S. 1 SGB XII zuständige Träger nicht sofort leistet und dadurch eine notwendige Hilfeleistung für den Hilfeempfänger gefährdet wird (zur vergleichbaren Vorschrift des § 97 Abs. 2 BSHG siehe W. Schellhorn/H. Schellhorn, BSHG, 16. Auflage, § 97 Rdnr. 85).

Kann - wie hier - nicht festgestellt werden, dass ein Anspruch auf Hilfe in einer stationären Einrichtung gegeben ist, weil gerade streitig ist, ob eine Einrichtung dieser Art vorliegt, fehlt es an einer tatbestandlichen Voraussetzung für die Anwendbarkeit von § 98 Abs. 2 S. 3 SGB XII. Eine (vorläufige) örtliche Zuständigkeit der Beigeladenen nach dieser Vorschrift kommt deshalb im vorliegenden Fall nicht in Betracht.

c)

Vielmehr ergibt sich, dass der Antragsgegner nach § 43 Abs. 1 SGB I (Allgemeiner Teil) vorläufig die begehrten Sozialleistungen für den Antragsteller zu erbringen hat. Nach Satz 1 dieser Vorschrift kann dann, wenn ein Anspruch auf Sozialleistungen besteht und zwischen mehreren Leistungsträgern streitig ist, wer zur Leistung verpflichtet ist, der unter ihnen zuerst angegangene Leistungsträger vorläufig Leistungen erbringen. Der zuerst angegangene Leistungsträger hat nach Satz 2 dieser Bestimmung die Leistungen zu erbringen, wenn der Berechtigte es beantragt.

Der Hinweis des Antragsgegners, die Anwendbarkeit dieser allgemeinen Regelung sei durch die Sonderregelung in § 98 Abs. 2 S. 3 SGB XII (bzw. § 97 Abs. 2 S. 3 BSHG) ausgeschlossen, greift nicht durch. Zwar trifft es zu, dass § 98 Abs. 2 S. 3 SGB XII (bzw. § 97 Abs. 2 S. 3 BSHG) eine Sonderregelung über die örtliche Zuständigkeit enthält, die gemäß § 37 Abs. 1 SGB I der allgemeinen Regelung in § 43 Abs.1 SGB I vorgeht. Der Vorrang besteht jedoch nur im Rahmen des tatbestandlichen Anwendungsbereichs von § 98 Abs. 2 S. 3 SGB XII. Kommt § 98 Abs. 2 S. 3 SGB XII - wie hier - gar nicht zur Anwendung, steht einem Rückgriff auf die allgemeine Regelung in § 43 Abs. 1 SGB I nichts im Wege.

Dass die Voraussetzungen des § 43 Abs. 1 SGB I auch im Übrigen erfüllt sind, insbesondere der Antragsteller zuerst Sozialleistungen beim Land Berlin beantragt hat, hat das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt und dagegen hat auch der Antragsgegner im Beschwerdeverfahren beachtliche Einwände nicht vorgebracht.

Der Senat hält es für angezeigt klarzustellen, dass die Kosten für die Unterbringung des Antragstellers im A. ab dem Monat der Antragstellung beim Verwaltungsgericht (Februar 2005) vom Antragsgegner vorläufig zu übernehmen sind. Angemessen ist es auch, die Regelung auf den Zeitraum bis zum Erlass einer erstinstanzlichen Entscheidung in der Hauptsache zu begrenzen.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer ansprechenden Anwendung von § 193 SGG. Sie entspricht der Billigkeit, da das Rechtsmittel des Antragsgegners erfolglos geblieben ist. Ein Anlass, auch etwaige außergerichtliche Kosten der Beigeladenen dem Antragsteller aufzuerlegen, besteht nicht.

Ende der Entscheidung

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