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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Urteil verkündet am 17.12.2008
Aktenzeichen: 10 A 2999/07
Rechtsgebiete: BauGB, BauNVO (1977)


Vorschriften:

BauGB § 31 Abs. 2
BauNVO (1977) § 3 Abs. 3
1. Die Erteilung einer Befreiung zur Errichtung einer Mobilfunkstation in einem festgesetzten reinen Wohngebiet (BauNVO 1977) erfordert eine Einzelfallentscheidung. Bei der Ausübung ihres Ermessens muss die Bauaufsichtsbehörde die Besonderheiten der konkreten Planungssituation erfassen und insbesondere prüfen, ob das reine Wohngebiet wegen des Vorhandenseins weiterer Mobilfunkanlagen an dem vorgesehenen Standort oder in der Umgebung gewerblich überformt wird.

2. Eine Befreiung zur Errichtung einer Mobilfunkstation in einem festgesetzten reinen Wohngebiet (BauNVO 1977) kann als Randkorrektur von minderem Gewicht in Betracht kommen.

3. Eine Mobilfunkstation mit mehr als einem Antennenmast auf dem Dach eines Wohnhauses führt im reinen Wohngebiet (BauNVO 1977) im Regelfall wegen der - insbesondere optischen Auswirkungen - zu einer Veränderung des Gebietscharakters und berührt die Grundzüge der Planung.


Tatbestand:

Der Kläger wandte sich gegen einen der Beigeladenen erteilten Befreiungs-bescheid des Beklagten, mit dem dieser die Beigeladene von der Festsetzung Reines Wohngebiet (BauNVO 1977) zur "Errichtung einer Mobilfunksendestation" auf dem Flachdach des viergeschossigen Nachbargebäudes befreit hat. Auf diesem Gebäude sind fünf Mobilfunkmasten mit insgesamt 18 Funkanlagen installiert. Seine Klage hatte in zweiter Instanz Erfolg.

Gründe:

1. Die angefochtene Befreiungsentscheidung verletzt den Gebietsgewährleistungsanspruch des Klägers. Die Festsetzung von Baugebieten durch einen Bebauungsplan hat nachbarschützende Funktion zugunsten der Grundstückseigentümer im jeweiligen Baugebiet. Ein Nachbar im Baugebiet soll sich auch dann gegen die Zulassung einer gebietswidrigen Nutzung wenden können, wenn er durch sie selbst nicht unzumutbar beeinträchtigt wird. Dieser bauplanungsrechtliche Nachbarschutz beruht auf dem Gedanken des wechselseitigen Austauschverhältnisses. Weil und soweit der Eigentümer eines Grundstücks in dessen Ausnutzung öffentlich-rechtlichen Beschränkungen unterworfen ist, kann er deren Beachtung grundsätzlich auch im Verhältnis zum Nachbarn durchsetzen Der Hauptanwendungsfall im Bauplanungsrecht für diesen Grundsatz sind die Festsetzungen eines Bebauungsplans über die Art der baulichen Nutzung. Durch sie werden die Planbetroffenen im Hinblick auf die Nutzung ihrer Grundstücke zu einer rechtlichen Schicksalsgemeinschaft verbunden. Die Beschränkung der Nutzungsmöglichkeiten des eigenen Grundstücks wird dadurch ausgeglichen, dass auch die anderen Grundeigentümer diesen Beschränkungen unterworfen sind. Im Rahmen dieses nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses soll daher jeder Planbetroffene im Baugebiet das Eindringen einer gebietsfremden Nutzung und damit die schleichende Umwandlung des Baugebiets unabhängig von einer konkreten Beeinträchtigung verhindern können.

Vgl. BVerwG, Beschluss vom 18.12.2007 - 4 B 55.07 -, BauR 2008, 719 m. w. N.;Urteil vom 16.9.1993 - 4 C 28.91 -, BRS 55 Nr. 110, und Beschluss vom 2.2.2000 - 4 B 87.99 -, BRS 63 Nr. 190.

Beide Grundstücke liegen entgegen der Annahme des VG in demselben reinen Wohngebiet. Die zwischen den beiden Grundstücken verlaufende Perlschnur trennt nicht zwei unterschiedliche Baugebiete. Die Perlschnur dient hier allein der Abgrenzung des unterschiedlichen Maßes der baulichen Nutzung innerhalb eines Baugebietes nach Nr. 15.14 der Anlage zur Planzeichenverordnung, nämlich der Festsetzung "nur Hausgruppen zulässig" für das Grundstück K. 31.

2. Das Vorhaben ist planungsrechtlich in dem festgesetzten reinen Wohngebiet nicht zulässig. a) Die Zulässigkeit des streitgegenständlichen Vorhabens der Beigeladenen richtet sich nach § 30 Abs. 1 BauGB, da es im Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. 23/73 der Stadt Essen verwirklicht werden soll. Die Festsetzung WR für das Standortgrundstück ist wirksam. Zwar hat der Plangeber für die übrigen Grundstücke an der Hauptstraße die Festsetzung WA getroffen. Anhaltspunkte für einen Abwägungsfehler ergeben sich daraus jedoch ebenso wenig wie Zweifel an der städtebaulichen Erforderlichkeit i. S. d. § 1 Abs. 3 BauGB. Mit der Aufstellung des Plans sollte insbesondere der Ausbau der M.straße und der Hauptstraße (L 925) ermöglicht werden (S. 3 der Planbegründung). Im Übrigen wollte der Plangeber aber die vorhandene Bebauung entsprechend ihrer Nutzung bestätigen (S. 7 der Planbegründung).

Für die Einbeziehung der besagten Fläche in das an der Straße K. gelegene Baugebiet lassen sich danach gewichtige Gründe anführen, namentlich ihr besonderer Zuschnitt, die topographischen Verhältnisse, das von den Nachbargrundstücken an der Hauptstraße abweichend festgesetzte Baufenster, das die vorhandene Bebauung im Wesentlichen umschreibt und erheblich weiter in den rückwärtigen Grundstücksbereich hineinreicht sowie die Erschließung (auch) von der Straße K.. Vor diesem Hintergrund war eine WA-Festsetzung für das Standortgrundstück nicht geboten. Dies gilt auch mit Blick auf die angeführten Verkehrslärmimmissionen an der Hauptstraße. Vielmehr hätte sich aus den Aufstellungsvorgängen ein Anhalt dafür ergeben müssen, dass der Plangeber den Baugebietscharakter für das Standortgrundstück hätte ändern wollen, um durch die Festsetzung einer Baugebietsart mit einem geringeren Schutzanspruch den mit der bisherigen Baugebietsart verbundenen Schutzanspruch herabzusetzen. Der Plangeber wollte aber - wie ausgeführt - ausdrücklich die vorhandene Bebauung bestätigen. Ist in einem bebauten, aber unbeplanten Gebiet ausschließlich Wohnnutzung vorhanden, handelt es sich um ein faktisches reines Wohngebiet. Straßenverkehr und Straßenverkehrslärm wirken typischerweise in allen Gebieten der Baunutzungsverordnung auf die dort zulässige Nutzung ein, ohne dass dadurch der Gebietscharakter verändert würde.

Vgl. hierzu auch OVG NRW, Urteile vom 28.11.2005 - 10 D 76/03 -, juris und vom 14.3.2006 - 10 A 4924/05 -, BRS 70 Nr. 139 (S. 697)

Die verkehrliche Belastung durch die Hauptstraße ist danach für die Gebietsqualifizierung ohne Belang.

Aber selbst wenn man davon ausginge, dass die Festsetzung WR an einem erheblichen Abwägungsmangel i. S. v. § 214 Abs. 3 Satz 2 BauGB leiden würde, führte dies nicht zur Unwirksamkeit des Bebauungsplans. Nach Maßgabe des § 233 Abs. 2 Satz 3 BauGB sind für vor dem Inkrafttreten einer Gesetzesänderung in Kraft getretene Bebauungspläne zwar die vor dem Inkrafttreten der Gesetzesänderung geltenden Vorschriften über die Geltendmachung u. a. von Mängeln der Abwägung einschließlich ihrer Fristen weiterhin anzuwenden. Für den im Jahre 1980 bekannt gemachten Bebauungsplan kommt daher die Überleitungsvorschrift des § 244 Abs. 2 BauGB (i. d. F vom 8.12.1986) zur Anwendung. Nach dieser Vorschrift sind Mängel der Abwägung von Bebauungsplänen, die vor dem 1.7.1987 bekannt gemacht worden sind, aber unbeachtlich, wenn sie nicht innerhalb von sieben Jahren nach dem 1.7.1987 schriftlich gegenüber der Gemeinde geltend gemacht worden sind. Die Unbeachtlichkeit von Abwägungsmängeln tritt dabei unabhängig davon ein, ob in der Gemeinde ein Hinweis auf diese Änderung der Rechtslage erfolgt ist.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 4.9.2008 - 7 A 2358/07 -.

b) Die Errichtung der Mobilfunkantennenanlage widerspricht den Festsetzungen des Bebauungsplans. Der Bebauungsplan setzt für den Anlagenstandort ein reines Wohngebiet fest. Welche Nutzungen auf der Grundlage dieser Festsetzung im Einzelnen zulässig sind, richtet sich nach der Baunutzungsverordnung (vgl. § 1 Abs. 3 Satz 2 BauNVO). Deren Vorschriften zur Art der bauliche Nutzung werden mit der Festsetzung von Baugebieten Bestandteil des Bebauungsplans. Für den Bebauungsplan Nr. 23/73 der Stadt, der 1980 als Satzung beschlossen worden ist, ist dabei die Baunutzungsverordnung in der Fassung von 1977 maßgeblich. Die durch § 1 Abs. 3 Satz 2 BauNVO bewirkte Verbindung zwischen einem Bebauungsplan und der Baunutzungsverordnung ist in dem Sinne "statisch", dass auf die Fassung der Baunutzungsverordnung abzuheben ist, die im Zeitpunkt des Satzungsbeschlusses über den Bebauungsplan galt.

Vgl. BVerwG, Beschluss vom 1.11.1999 - 4 B 3.99 -, BRS 62 Nr. 82; OVG NRW, Urteil vom 8.10.2003 - 7 A 1397/02 -, BRS 66 Nr. 92.

Die von der Beigeladenen mit dem angegriffenen Vorhaben betriebenen Nutzung ist in einem reinen Wohngebiet weder regelhaft noch ausnahmsweise nach § 3 Abs. 3 BauNVO 1977 zulässig. Zwar handelt es sich bei der Errichtung und dem Betrieb einer Mobilfunksendeanlage um eine nicht generell verbotene, selbständige, auf Dauer angelegte und auf Gewinnerzielung gerichtete Tätigkeit und damit um eine gewerbliche Nutzung.

Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 25.3.2003 - 10 B 2417/02 -, BRS 66 Nr. 89 und vom 9.1. 2004 - 7 B 2482/03 -, BRS 67 Nr. 66; Nds. OVG, Beschluss vom 6.12.2004 - 1 ME 256/04 -, BauR 2005, 975.

Diese Anlage unterfällt jedoch keiner der in § 3 Abs. 3 BauNVO 1977 aufgeführten Nutzungsarten.

c) Ebenso wenig ist die Anlage nach § 14 Abs. 1 Satz 1 BauNVO 1977 zulässig. Danach sind außer den in den §§ 2 bis 13 genannten Anlagen auch untergeordnete Nebenanlagen und Einrichtungen zulässig, die dem Nutzungszweck der in dem Baugebiet gelegenen Grundstücke oder des Baugebiets selbst dienen und seiner Eigenart nicht widersprechen.

Bei der streitgegenständlichen Mobilfunkantennenanlage handelt es sich nicht um eine Nebenanlage, deren Funktion sich auf das konkrete Baugebiet beschränkt. Vielmehr stellt sie unabhängig vom jeweiligen Nutzungszweck des Baugebiets als Bestandteil eines Kommunikationssystems zum einen die lückenlose Erbringung von Kommunikationsdienstleistungen an diejenigen Personen sicher, die sich in dem Baugebiet ständig oder vorübergehend aufhalten, und dient zum anderen dazu, derartige Dienstleistungen für Personen zu erbringen, die keinerlei Verbindung zu dem Baugebiet haben, aber auf eine Durchleitung von Gesprächen und weiteren Kommunikationsinhalten angewiesen sind. Dem Nutzungszweck "Wohnen" (§ 3 Abs. 1 BauNVO 1977) zu- und untergeordnet sind Mobilfunksendeanlagen nur, soweit sie es den im Baugebiet Wohnenden ermöglichen, als Ausprägung ihrer Wohnnutzung an der mobilen drahtlosen Kommunikation teilzuhaben; diese Funktion einer Mobilfunkstation tritt jedoch gegenüber den weiteren genannten Funktionen - Versorgung der das Baugebiet durchquerenden Personen mit Kommunikationsdienstleistungen, Weiterleitung von Kommunikationsinhalten ohne jeden Bezug zum Baugebiet - so weit in den Hintergrund, dass sich - bezogen auf ein reines Wohngebiet - eine Einstufung als Nebenanlage im Sinne von § 14 Abs. 1 Satz 1 BauNVO 1977 regelmäßig verbietet.

Vgl. BVerwG, Beschluss vom 1.11.1999 - 4 B 3.99 -, BRS 62 Nr. 82; OVG NRW, Beschluss vom 6.5.2005 - 10 B 2622/04 -, BRS 69 Nr. 83 = BauR 2005, 1284.

Das Vorhaben der Beigeladenen ist auch keine Nebenanlage i. S. v. § 14 Abs. 2 BauNVO 1977, da Nebenanlagen für fernmeldetechnische Zwecke in dieser Vorschrift nicht genannt werden. Zudem zeigt die Ergänzung der genannten Vorschrift durch die Baunutzungsverordnung 1990 (§ 14 Abs. 2 Satz 2 BauNVO 1990), dass eine erweiternde Auslegung auf fernmeldetechnische Nebenanlagen nicht möglich ist.

Vgl. BVerwG, Beschluss vom 1.11.1999 - 4 B 3.99 -, BRS 62 Nr. 82.

3. Die von dem Beklagten der Beigeladenen für die Mobilfunksendeanlage erteilte Befreiung gemäß § 31 Abs. 2 BauGB von der Festsetzung reines Wohngebiet ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.

Mit dem Erfordernis der Wahrung der Grundzüge der Planung stellt der Gesetzgeber sicher, dass die Festsetzungen eines Bebauungsplans nicht beliebig oder in einem allmählich fortschreitenden Prozess durch Verwaltungsakt außer Kraft gesetzt werden dürfen. Die Regelungen für die Änderung von Bebauungsplänen dürfen nicht durch eine großzügige Befreiungspraxis aus den Angeln gehoben werden. Denn die Änderung eines Bebauungsplans ist nach § 1 Abs. 8 BauGB nicht Sache der Bauaufsichtsbehörde, sondern der Gemeinde vorbehalten.

Vgl. BVerwG, Beschluss vom 5.3.1999 - 4 B 5.99 -, BRS 62 Nr. 99.

Der Gesetzgeber stellt mit § 31 Abs. 2 BauGB ein Instrument zur Verfügung, das trotz der Bindung an die Festsetzungen des Bebauungsplans im Interesse der Einzelfallgerechtigkeit und der Wahrung der Verhältnismäßigkeit für Vorhaben, die den Festsetzungen zwar widersprechen, sich mit den planerischen Vorstellungen aber gleichwohl in Einklang bringen lassen, ein Mindestmaß an Flexibilität bei gleichzeitiger Wahrung der Grundzüge der Planung schafft.

Vgl. BVerwG, Beschluss vom 5.3.1999 - 4 B 5.99 -, a.a.O; OVG NRW, Urteil vom 20.2.2004 - 10 A 4840/01 -, BRS 67 Nr. 84.

Ob die Grundzüge der Planung berührt werden, hängt entscheidend davon ab, ob die Abweichung dem planerischen Grundkonzept zuwiderläuft. Je tiefer die Befreiung in das Interessengeflecht der Planung eingreift, desto eher liegt der Schluss auf eine Änderung der Planungskonzeption nahe, die nur im Wege der (Um-)Planung möglich ist.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 20.2.2004 - 10 A 4840/01 -, a.a.O.

Maßgebend ist die konkrete Planungssituation. Hierzu gehört alles, was das Ergebnis der Abwägung über die von der Planung berührten öffentlichen und privaten Belange und den mit den getroffenen Festsetzungen verfolgten Interessenausgleich trägt. Dabei sind die Grundzüge der Planung nicht erst dann berührt, wenn ein festgesetztes reines Wohngebiet bei Erteilung der Befreiung als Wohngebiet nicht mehr erhalten werden könnte.

Vgl. BayVGH, Urteil vom 9.8.2007 - 25 B 05.1337 -, juris.

Vielmehr ist in jedem Befreiungsfall eine Einzelfallentscheidung zu treffen, die die Besonderheiten der konkreten Planungssituation vollständig erfasst und die Auswirkungen des zur Befreiung gestellten Vorhabens umfassend bewertet.

Ob die Voraussetzungen für die Befreiung von einer nachbarschützenden Festsetzung eines Bebauungsplans vorliegen, ist auf den Rechtsbehelf des Nachbarn hin in vollem Umfang nachzuprüfen; die Prüfung beschränkt sich nicht auf die Frage, ob die Abweichung unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist.

Vgl. BVerwG, Beschluss vom 8.7.1998 - 4 B 64.98 -, BRS 60 Nr. 183; OVG NRW, Beschluss vom 23.7.1998 - 10 B 1319/98 -, BRS 60 Nr. 64.

Für die im vorliegenden Fall streitgegenständliche Erteilung einer Befreiung für die Errichtung von Mobilfunkanlagen in einem unter der Geltung der BauNVO 1977 festgesetzten reinen Wohngebiet folgt aus den vorgenannten Grundsätzen, dass die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Befreiung wegen der Schwierigkeiten, insbesondere die optischen Auswirkungen von Mobilfunkanlagen in Wohngebieten zutreffend zu bewerten, in jedem Fall eine besonders sorgfältige Einzelfallprüfung voraussetzt; abstrakt-generalisierende Aussagen über die Zulässigkeit derartiger Anlagen verbieten sich.

Im Rahmen der gebotenen Einzelfallprüfung ist zunächst die Frage zu beantworten, ob der Plangeber das festgesetzte reine Wohngebiet "kompromisslos" von allen gewerblichen und sonstigen Nutzungen freihalten will. Dies liegt nahe, wenn er von der Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, gemäß § 1 Abs. 6 Nr. 1 BauNVO sämtliche der in § 3 Abs. 3 BauNVO vorgesehenen ausnahmsweise zulässigen Nutzungen auszuschließen. In einem solchen Fall kann schon die Errichtung einer einzelnen Mobilfunkanlage unter Berücksichtigung ihrer Auswirkungen auf die nähere Umgebung, insbesondere die Beeinträchtigung der "optischen Wohnruhe", die Grundzüge der Planung berühren.

Vgl. BVerwG, Beschluss vom 29.7.2008 - 4 B 11.08 -, ZfBR 2008, 797 = BauR 2009, 78; Bay. VGH, Urteil vom 9.8.2007 - 25 B 05.3055 -, BayVBl 2008, 307.

Auch wenn das planerische Grundkonzept nicht von § 3 Abs. 1 bis 4 BauNVO 1977 abweicht und dementsprechend kein "kompromisslos" reines Wohngebiet festgesetzt ist, kann die Zulassung einer einzelnen Mobilfunksendeanlage mit einem Antennenmast unter Berücksichtigung der jeweiligen örtlichen Verhältnisse den Gebietscharakter im Einzelfall in einer Weise beeinträchtigen, dass die Grundzüge der Planung durch die Erteilung einer Befreiung berührt werden; hier ist auch in den Blick zu nehmen, ob in anderen Teilen des Wohngebiets und ggf. in welcher Entfernung zu dem Vorhabenstandort weitere gewerbliche Anlagen existieren.

Allerdings kann die Zulassung einer Mobilfunksendeanlage mit einem Antennenmast je nach den Umständen des Einzelfalles auch noch als Randkorrektur von minderem Gewicht einzustufen sein, vgl. hierzu OVG NRW, Urteil vom 19.12.2006 - 10 A 930/05 - zur BauNVO 1962, die die Grundzüge der Planung nicht berührt. Denn gewerbliche Nutzungen müssen mit dem Charakter eines reines Wohngebiets nicht schlechthin unvereinbar sein. Bereits § 3 Abs. 3 BauNVO 1977 lässt bestimmte gewerbliche Nutzungen ausnahmsweise zu. Zudem geht der Verordnungsgeber durch die ausnahmsweise Zulassung fernmeldetechnischen Nebenanlagen in einem reinen Wohngebiet (vgl. § 14 Abs. 2 Satz 2 BauNVO 1990) inzwischen selbst von der Möglichkeit einer Gebietsverträglichkeit derartiger Anlagen aus, auch wenn die Vorschrift nichts daran ändert, dass der Gebietscharakter des reinen Wohngebiets auch bei Anwendung dieser Vorschrift selbstverständlich gewahrt bleiben muss.

Vgl. BVerwG, Beschluss vom 29.7.2008 - 4 B 11.08 -, a. a. O.

In die Bewertung kann auch einbezogen werden, dass die Mehrzahl der Bevölkerung diese technischen Infrastruktureinrichtungen nutzt und daher ihr Vorhandensein auch in Wohngebieten erwarten muss. Sie können deshalb von einem aufgeschlossenen Betrachter nicht zwangsläufig als abträglich für das Ortsbild und den Wohngebietscharakter bewertet werden.

Auf der anderen Seite folgt aus der Festsetzung eines reines Wohngebiets ein gegenüber allgemeinen Wohngebieten typischerweise höherer Schutzanspruch, der das planerische Grundkonzept prägt. Die Wohnbedürfnisse sollen hier in besonderer Weise durch ein ruhiges Wohnumfeld gewährleistet werden. Der Anspruch auf Wohnruhe kann dabei nicht nur durch Immissionen im Sinne des Bundesimmissionsschutzgesetzes, wie z. B. durch die Anziehung von erheblichem Verkehr, sondern auch durch eine optisch gebietswidrig "laut" in Erscheinung tretende Anlage beeinträchtigt sein.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 19.12.2006 - 10 A 930/05 -, und Beschluss vom 25.2.2003 - 10 B 2417/02 -, BRS 66 Nr. 89; Nds. OVG, Beschluss vom 6.12.2004 - 1 ME 256/04 -, BauR 2005, 975. Entscheidend sind mithin die konkreten Auswirkungen der Anlage im jeweiligen Einzelfall. Wo etwa eine geplante Anlage für sich genommen oder zusammen mit vorhandenen weiteren gleichartigen Anlagen im Verhältnis zur Bausubstanz, Bauhöhe und Baugestaltung in der näheren Umgebung eine prägende Wirkung entfaltet, die den Regelfall der Wohnnutzung hin zu einer gemischten Wohn- und Gewerbenutzung verschiebt, ist die planerische Grundentscheidung des Bebauungsplans berührt. Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 6.5.2005 - 10 B 2622/04 -, BRS 69 Nr. 83, zu den Anforderungen an die Erteilung einer Ausnahme gemäß § 14 Abs. 2 Satz 2 BauNVO 1990.

Geht es schließlich um die Befreiung für eine Mobilfunkesendestation mit mehr als einem Antennenmast, spricht im Regelfall - vorbehaltlich einer Überprüfung der jeweiligen konkreten örtlichen Verhältnisse - Überwiegendes dafür, dass eine solche Anlage der planerischen Grundkonzeption eines reinen Wohngebiets (BauNVO 1977) zuwiderläuft und den Gebietscharakter verfremdet. Zwei Mobilfunkmasten mit den zugehörigen Funkanlagen auf dem Dach eines Gebäudes haben in einem reinen Wohngebiet regelmäßig in Relation zu ihrer Umgebung ein beachtliches Gewicht und entfalten eine "Signalwirkung" im Hinblick auf den Gebietscharakter. Sie sind aufgrund ihrer Abmessungen und des gewählten Standorts typischerweise deutlich wahrnehmbar und führen bei der gebotenen Gesamtbetrachtung regelmäßig dazu, dass sie das Gebäude und die umliegenden Grundstücke im Sinne einer gewerblichen Überformung der umliegenden Wohnbebauung dominieren können. Eine solche städtebauliche Situation mit einer Mischnutzung von Wohnen und Gewerbe ist jedoch mit der planerischen Konzeption eines reinen Wohngebietes nicht zu vereinbaren.

Ausgehend von diesen Grundsätzen ist die der Beigeladenen erteilte Befreiung von der Festsetzung des Bebauungsplans hinsichtlich der Art der Nutzung - WR - für die Errichtung der in Rede stehenden Mobilfunksendestation schon deshalb rechtswidrig, weil durch sie die Grundzüge der Planung berührt werden.

Es handelt sich zwar nicht um ein "kompromisslos" reines Wohngebiet in dem dargelegten Sinne. Weder die Festsetzungen des Bebauungsplans noch die Begründung des Bebauungsplans bieten hierfür Anhaltspunkte. Auch zieht das Vorhaben abgesehen von der erforderlichen Wartung der Anlage und der Beseitigung von Störfällen keinen beachtlichen Fahrzeugverkehr an. Insoweit unterscheiden sie sich nicht wesentlich von dem, was auch bei einer Wohnnutzung gelegentlich an Wartungs- und Reparaturarbeiten an technischen Einrichtungen anfällt.

Die Anlage führt hier jedoch in Würdigung der von dem Berichterstatter festgestellten und dem Senat vermittelten örtlichen Verhältnisse zu einer nachhaltig störenden Dominanz und gewerblichen Überformung des reinen Wohngebiets. Die im vorliegenden Verfahren zu beurteilende Anlage mit zwei Masten tritt deutlich als gewerbliche Anlage in Erscheinung. Die Masten stehen nach den Planunterlagen nur ca. 5 Meter auseinander und sind so in ihrer Gesamtheit als massive gewerbliche Anlage wahrnehmbar. Das Wohngebiet ist - abgesehen von den bereits errichteten Mobilfunkanlagen - vollständig intakt. Die Ortsbesichtigung hat bestätigt, dass in der näheren Umgebung des festgesetzten reinen Wohngebiets ausschließlich Nutzungen vorhanden sind, die dort allgemein zulässig sind. In der unmittelbaren Umgebung an der Straße K. ist eine weitgehend einheitliche Bebauung festzustellen. Der Vortrag des Beklagten, das Haus Hauptstraße Nr. 88/90 sei ein viergeschossiger "Kastenbau" und im näheren Umfeld befänden sich weitere derart hochgeschossige, massig wirkende Gebäude, aber auch Gebäude niedriger Höhe, rechtfertigt keine andere Beurteilung. Der Schutzanspruch für ein reines Wohngebiete besteht unabhängig von der Höhe, Geschossigkeit oder Massigkeit der Wohngebäude. Gegenüber den im weiteren Verlauf der Straße K. vorhandenen Wohngebäuden tritt die Mobilfunkstation wegen der dort geringeren Höhe der Gebäude und der topographischen Verhältnisse zudem deutlich in Erscheinung. Abgesehen davon lässt sich für diejenigen Eigentümer/Bewohner, die aus Wohnungen in den oberen Geschossen der Nachbarhäuser auf die Anlage blicken, ohnehin nicht anführen, die Mobilfunkanlage falle wegen der Wuchtigkeit der Wohngebäude weniger auf. Dies haben der Ortstermin und die vorliegenden Lichtbilder nachhaltig bestätigt. Die Auswirkungen einer "Satellitenschüssel" können demgegenüber nicht ansatzweise mit der optischen Dominanz einer Mobilfunkanlage mit zwei Masten verglichen werden.

Die städtebauliche Situation wird somit durch das Hinzutreten der im vorliegenden Verfahren streitigen Anlage zu Lasten des Wohngebietscharakters nicht unerheblich in Bewegung gebracht. Auch die in den Parallelverfahren streitgegenständlichen Mobilfunkanlagen rechtfertigen schon deshalb keine andere Beurteilung, weil die zugrunde liegenden Befreiungsentscheidungen mit Urteilen vom heutigen Tag aufgehoben worden sind. Die an der Hauptstraße - in der unmittelbaren Umgebung zudem nur vereinzelt - vorhandenen gewerblichen Nutzungen, sind für die Bewertung im vorliegenden Verfahren schon deshalb unbeachtlich, weil sie in einem anderen Baugebiet stattfinden. Zudem sind sie unter Berücksichtigung der örtlichen Verhältnisse im Wesentlichen nur für Bewohner des Vorhabensgrundstücks, nicht aber im übrigen Baugebiet wahrnehmbar.

Nicht überzeugend ist die Argumentation des Beklagten, das Vorhandensein mehrerer Mobilfunkanlagen auf dem Gebäude gewährleiste, dass sich die gewerbliche Nutzung in dem betroffenen Wohngebiet auf eine Örtlichkeit konzentriere und somit der Charakter einer Ausnahmeerscheinung gewahrt bleibe. Derartige städtebaulichen Aspekte mag die Stadt in ein Standortkonzept und entsprechende verbindliche Bauleitplanung einfließen lassen. An der hier festgestellten unzulässigen gewerblichen Überformung des reinen Wohngebietes ändern diese Überlegungen nichts.

Die mit den Mobilfunkanlagen verbundenen optischen Auswirkungen auf den betroffenen Teil des Reinen Wohngebiets führen im Gegenteil sogar dazu, dass das Vorhabengrundstück durch sein auch gewerblich geprägtes Erscheinungsbild nunmehr entgegen seiner bauleitplanerischen Festsetzung Bestandteil des entlang der Alten Hauptstraße sich anschließenden Allgemeinen Wohngebiets zu sein scheint und nicht mehr den Abschluss des entlang der Straße K. gelegenen Reinen Wohngebiets bildet. Auch diese Folgewirkung der gewerblichen Überformung des Vorhabengrundstücks widerspricht einem Grundzug der rechtsgültigen Bauleitplanung, nämlich dem planerischen Konzept, das reine Wohngebiet entlang des gesamten Verlaufs der Straße K. bis zum Kreuzungsbereich dieser Straße mit der Hauptstraße zu führen.

Sind somit bereits die Grundzüge der Planung berührt, kommt es im vorliegenden Verfahren nicht mehr darauf an, ob die Beigeladene sich auf einen Befreiungsgrund stützen kann und ob die Abweichung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist.

4. Bezüglich der von dem Kläger geltend gemachten Strahlenbelastung weist der Senat darauf hin, dass gemäß § 3 Satz 1 Nr. 1 der Verordnung über das Nachweisverfahren zur Begrenzung elektromagnetischer Felder (BEMFV) die in der 26. BImSchVO festgelegten Grenzwerte maßgebend sind, die der Schutzpflicht staatlicher Organe gegenüber Gesundheitsgefährdungen durch elektromagnetische Felder auch nach Einschätzung des EGHR und des BVerfG ausreichend Rechnung tragen.

Vgl. EGMR, Entscheidung vom 3.7.2007 - 32015/02 -, NVwZ 2008, 125; BVerfG, Beschlüsse vom 17.2.1997 - 1 BvR 1658/96 -, BRS 59 Nr. 183 und vom 28.2.2002 - 1 BvR 1676/01 -, BRS 65 Nr. 178; BGH, Urteil vom 15.3.2006 - VIII ZR 74/05 -, NJW-RR 2006, 879.

Nach der letzten Standortbescheinigung der Bundesnetzagentur vom 12.1.2006 sind die einzuhaltenden Sicherheitsabstände zum Grundstück des Klägers ersichtlich gewahrt.

5. Schließlich ist die Befreiung auch deshalb rechtswidrig, weil der angefochtene Verwaltungsakt in Gestalt des Widerspruchsbescheides an einem Ermessensfehler i. S. d. § 114 VwGO leidet. Denn der Beklagte bzw. die Bezirksregierung haben das ihnen eingeräumte Ermessen nicht ausgeübt.

Nach der Rechtsprechung des BVerwG unterscheidet die gesetzliche Regelung in § 31 Abs. 2 BauGB die tatbestandlichen Voraussetzungen - die Grundzüge der Planung werden nicht berührt und es liegen entweder Gründe des Gemeinwohls vor oder die Abweichung ist städtebaulich vertretbar - sowie die sich daran anschließende Ermessensbetätigung deutlich voneinander. Daher kann eine Ermessensentscheidung auch dann ohne Rechtsfehler zu Ungunsten eines Bauherrn getroffen werden, wenn Grundzüge der Planung nicht berührt sind.

Vgl. BVerwG, Beschluss vom 28.4.2008 - 4 B 16.08 -, juris.

Zwar geht auch der Senat in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass für die Ausübung des Ermessens wenig Raum besteht, wenn die Voraussetzungen für die Erteilung einer Befreiung gegeben sind. Daraus folgt jedoch nicht, dass der zuständigen Behörde entgegen dem Wortlaut der Vorschrift stets kein Ermessensspielraum zusteht oder das Ermessen auf Null reduziert ist, wenn die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer Befreiung vorliegen. Falls gewichtige Interessen einer Befreiung entgegen stehen, kann die Bauaufsichtsbehörde ihr Ermessen zu Lasten des Bauherrn betätigen.

Vgl. Bay. VGH, Urteil vom 9.8.2007 - 25 B 05.3055 -, BayVBl 2008, 136.

Die Befreiung kann die Festsetzungen des Bebauungsplans in Sonderfällen, die vom Satzungsgeber nicht vorgesehen sind, überwinden und ermöglicht so Vorhaben, wenn nach den Umständen des Einzelfalles ein Festhalten am Plan ungerecht, insbesondere unverhältnismäßig oder gleichheitswidrig wäre. Die gesetzlichen Hürden des Befreiungstatbestandes können nur genommen werden, wenn gewichtige Gründe auf Seiten des Bauherrn vorliegen. Damit ist jedoch nicht entschieden, dass die für das Vorhaben sprechenden Gründe gegenüber den beeinträchtigten öffentlichen Belangen und privaten Interessen auch vorrangig sind. Insoweit steht der Bauaufsichtsbehörde der gesetzlich eingeräumte Ermessensspielraum zu. Der Bauherr hat nach dem Gesetz keinen Anspruch darauf, dass die Befreiung erteilt wird, wenn die sich gegenüberstehenden Interessen und Belange in etwa gleich gewichtig sind. Die gemäß § 31 Abs. 2 BauGB vorgesehenen Ermessenserwägungen können auch öffentliche Belange und private Interessen betreffen, die im Befreiungstatbestand bei den Befreiungsgründen oder bei der Frage, ob die Abweichung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist, zu prüfen sind.

Vgl. zum Ganzen Bay. VGH a.a.O.

Der angefochtene Befreiungsbescheid enthält weder die erforderliche Begründung

Vgl. Boeddinghaus/Hahn/Schulte, BauO NRW, Stand Dezember 2008, § 74a Rn. 46 noch Ermessenserwägungen. Auch der interne Vermerk des Beklagten sowie der Widerspruchsbescheid der Bezirksregierung Düsseldorf lassen eine Ermessensbetätigung in dem dargelegten Sinne nicht erkennen. Hierzu hätte jedoch schon deshalb Veranlassung bestanden, weil zum Zeitpunkt der Befreiungsentscheidung im September 2003 jedenfalls drei Mobilfunkanlagen bereits errichten waren, so dass sich die Frage einer gewerblichen Überformung des reinen Wohngebiets durch drei Anlagen insgesamt stellte.

Ende der Entscheidung

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