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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss verkündet am 05.03.2007
Aktenzeichen: 10 B 274/07
Rechtsgebiete: BauO NRW


Vorschriften:

BauO NRW § 6
BauO NRW § 73 Abs. 1
1. Das in § 6 BauO NRW geregelte, in sich geschlossene System der Abstandflächenvorschriften hat durch das 2. Gesetz zur Änderung der Landesbauordnung für das Land Nordrhein-Westfalen vom 12.12.2006, GV. NRW. S. 614, keine grundsätzliche Änderung erfahren. Es enthält weiterhin Regel- und Ausnahmetatbestände, die eine zentimetergenaue Bestimmung der Abstandflächentiefe vorschreiben.

2. Auch nach der Einfügung des Satzes 2 in § 73 Abs. 1 BauO NRW ist Voraussetzung für die Zulassung einer Abweichung für die Unterschreitung der Abstandfläche, dass eine grundstücksbezogene Atypik im Einzelfall vorliegt. Dies gilt auch, wenn die Abstandfläche um wenige Zentimeter unterschritten wird.

3. § 73 BauO NRW ist unverändert kein Instrument zur Legalisierung gewöhnlicher Rechtsverstöße.


Gründe:

Der Abwehranspruch der Antragstellerin ist entgegen den Ausführungen der Beigeladenen nicht durch das Inkrafttreten des Zweiten Gesetzes zur Änderung der Landesbauordnung für das Land Nordrhein-Westfalen vom 12.12.2006 (GVBl. NRW. S. 614) - BauO NRW 2006 - entfallen. Zwar ist durch die am 28.12.2006 in Kraft getretene Novelle § 73 Abs. 1 BauO NRW um einen Satz 2 ergänzt worden. Danach sind Abweichungen von § 6 BauO NRW insbesondere zulässig, wenn durch das Vorhaben nachbarliche Interessen nicht stärker oder nur unwesentlich stärker beeinträchtigt werden als bei einer Bebauung des Grundstücks, die nach § 6 BauO NRW zulässig wäre. Der Entwurf der Landesregierung hat diese Änderung wie folgt begründet:

"Damit soll klargestellt werden, dass Abweichungen von § 6 vor allem dann zugelassen werden können, wenn die von § 6 abweichende Bebauung den jeweiligen Angrenzer nicht stärker oder nur unwesentlich stärker beeinträchtigt, als eine andere, § 6 entsprechende Bebauung des jeweiligen Grundstücks.

Mit der Formulierung "unwesentlich stärker" wird auf geringfügige Unterschreitungen der Abstandflächen abgestellt. Unterschreitungen im Zentimeterbereich können z.B. schon aufgrund üblicher Bautoleranzen entstehen. Mutwillige Unterschreitungen der Abstandflächen sollen dadurch aber nicht sanktioniert werden.

Satz 2 schließt nicht aus, dass Abweichungen von den Anforderungen des § 6 nach wie vor auch nach Satz 1 erteilt werden können."

Hieraus folgt keine Legalisierungsmöglichkeit des Gebäudeteiles N im Wege der Abweichung. Aus dem Wortlaut des § 73 Abs. 1 BauO NRW 2006 ergeben sich keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber mit der Einfügung des Satzes 2 für das Abstandflächenrecht eine von der bisherigen Rechtslage und ihrer Anwendung durch das erkennende Gericht grundsätzlich abweichende Regelung schaffen wollte. Die Entwurfsbegründung rechtfertigt nicht eine dahingehende Auslegung. Dagegen spricht insbesondere auch eine systematische Interpretation der §§ 6 und 73 der BauO NRW unter Beachtung des Rechtsstaatsprinzips.

OVG NRW, Beschluss vom 2.3.2007 - 10 B 275/07 -, BauR 2007, 1027.

§ 73 Abs. 1Satz 2 BauO NRW knüpft an die allgemeine Vorschrift des Satzes 1 an und macht mit der Wendung: "insbesondere zulässig" deutlich, dass er nach Maßgabe des Satzes 1 beispielhaft einen Anwendungsfall für eine mögliche Abweichung von § 6 BauO NRW aufzeigt. In der zitierten Begründung des Gesetzesentwurfes ist ausdrücklich davon die Rede, dass mit dieser Einfügung (lediglich) eine Klarstellung beabsichtigt ist und auch keine beliebigen Unterschreitungen der Abstandflächen sanktioniert werden sollen. Es ist kein Grund dafür ersichtlich, dass im Unterschied zu sonstigen bauaufsichtlichen Anforderungen der Landesbauordnung, von denen nur nach Maßgabe des Satzes 1 abgewichen werden kann, gerade für das nachbarrechtsrelevante Abstandflächenrecht eine eigenständige und an geringere Anforderungen geknüpfte Abweichungsregelung geschaffen werden sollte.

Das in § 6 BauO NRW geregelte, in sich geschlossenen System der Abstandflächenvorschriften hat durch die Neuregelung keine grundsätzliche Änderung erfahren. Es enthält weiterhin Regel- und Ausnahmetatbestände, die eine zentimetergenaue Bestimmung der Abstandflächentiefe vorschreiben. Infolgedessen werden die schutzwürdigen und schutzbedürftigen Interessen der betroffenen Grundstücksnachbarn sowie die relevanten öffentlichen Belange regelmäßig schon durch die Vorschrift des § 6 BauO NRW in einen gerechten Ausgleich gebracht. Das Erfordernis, Gesetze gleichmäßig, d.h. unter Wahrung des Rechtsstaatsprinzips und des Gleichheitssatzes auszulegen und zu vollziehen, gestattet nicht ein mehr oder minder beliebiges Abweichen von den Abstandflächenvorschriften. Mit diesen hat der Gesetzgeber nicht nur die zu schützenden Rechtsgüter festgelegt, sondern auch die Art und Weise, in der diesen Anforderungen Rechnung zu tragen ist.

In Abstimmung mit dem ebenfalls für Baurecht zuständigen 7. Senat hält das Gericht daran fest, dass eine Abweichung von den Vorschriften des Abstandflächenrechts nur in atypischen Sonderfällen in Betracht kommt. Die Einfügung des Satzes 2 in § 73 Abs. 1 BauO NRW hat somit nichts daran geändert, dass regelmäßig nur eine grundstücksbezogene Atypik eine Abweichung rechtfertigen kann. Diese kann sich ergeben aus Besonderheiten der Lage und des Zuschnitts der benachbarten Grundstücke zueinander oder aus topografischen Besonderheiten des Geländeverlaufs, nicht aber aus den Wünschen eines Eigentümers, sein Grundstück stärker auszunutzen als dies nach § 6 BauO NRW n. F. ohnehin schon zulässig wäre. § 73 BauO NRW 2006 ist somit unverändert kein Instrument zur Legalisierung gewöhnlicher Rechtsverletzungen.

Für ein solches Verständnis der Neufassung der §§ 6 und 73 BauO NRW spricht auch, dass das System des Abstandflächenrechts zu Gunsten einer besseren Ausnutzbarkeit der Grundstücke und damit zu Lasten der Nachbarn insbesondere durch den Wegfall des sog. Schmalseitenprivilegs verändert worden ist. In dieser Situation würde eine von der Atypik des Einzelfalls losgelöste an vage Vergleichsbetrachtungen gekoppelte Abweichungsermächtigung zu einer möglicherweise beliebigen Relativierung des Nachbarschutzes führen können.

§ 73 BauO NRW 2006 ist vielmehr so auszulegen, dass er dem verfassungsrechtlichen Gebot der Bestimmtheit von Normen genügt und dem Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (Art. 20 Abs. 3 GG) nicht widerspricht. Eine Auslegung der Vorschrift, die es der Behörde ermöglichen würde, über die Normanwendung im Bereich des Abstandflächenrechts mehr oder minder nach Belieben zu verfügen, würde diesen Anforderungen nicht genügen und gegen das Rechtsstaatsprinzip verstoßen.

Vgl. Wilke, Die juristische Konstruktion der bebauungsrechtlichen Befreiung, Festschrift für Konrad Gelzer, 1991, S. 165 (166); Boeddinghaus/ Hahn/ Schulte, Bauordnung für das Land Nordrhein-Westfalen, Kommentar, Loseblatt, Stand Oktober 2006, § 73 Rdnr. 18.

Die Anwendung des § 6 BauO NRW wäre jedoch ins Belieben der Bauaufsichtsbehörden gestellt, wenn es für die Zulässigkeit einer Abweichung - unter Verzicht auf das Erfordernis einer besonderen Situation im Einzelfall - allein darauf ankäme, ob denkbare alternative Bebauungsmöglichkeiten, die nach § 6 BauO NRW zulässig wären, zu allenfalls unwesentlich stärkeren Beeinträchtigungen nachbarlicher Interessen führen würden. Die Regelungen des § 6 BauO NRW sollen, wie auch in der Begründung des Gesetzesentwurfs ausgeführt wird, dem Nachbarn ein angemessenes Maß an Schutz garantieren, aber zugleich auch den Standard dessen festlegen, was ein Nachbar an Bebauung in welchem Abstand hinzunehmen hat. Die Gewährleistung dieser Schutzziele erfordert eine strikte Beachtung der vorgeschriebenen Abstandflächen. Könnten die festgelegten normativen Standards allein mit Blick auf die Möglichkeit einer alternativen, nach § 6 BauO NRW zulässigen Bebauung außer Acht gelassen werden, wäre eine gleichmäßige Anwendung des Gesetzesvollzugs nicht mehr gewährleistet.

Ausgehend von diesen Grundsätzen kommt hier die Zulassung einer Abweichung gemäß § 6 BauO NRW im Hinblick auf die rechtskräftig festgestellte Unterschreitung der Abstandfläche von 4,6 bzw. 6 cm auch nach § 73 Abs. 1 Satz 2 BauO NRW 2006 nicht in Betracht. Denn für eine grundstücksbezogene Atypik in dem oben dargelegten Sinne ist nichts ersichtlich. Die Unterschreitung der Abstandfläche resultiert nicht aus einer besonderen Grundstückssituation, sondern ist allein auf eine stärkere als nach § 6 BauO NRW zulässige Ausnutzung des Grundstücks zurückzuführen.

Der Senat sieht sich für die vorliegende Fallgestaltung einer Unterschreitung der Abstandfläche um einige Zentimeter zu keiner anderen Bewertung veranlasst. Auch im Hinblick auf die Ausführungen in der zitierten Begründung des Regierungsentwurfs, dass Unterschreitungen im Zentimeterbereich z.B. schon aufgrund üblicher Bautoleranzen entstehen könnten, ist insoweit nicht von einem Verzicht auf das Erfordernis der Atypik auszugehen. Wie bereits dargestellt kommt der Regelung des § 73 Abs. 1 Satz 2 BauO NRW nach dem Willen des Gesetzgebers im Kern lediglich die Funktion einer Klarstellung zu. Eine ausdrückliche Aussage dazu, dass allein wegen einer geringfügigen Unterschreitung der Abstandfläche eine Abweichung zugelassen werden kann, findet sich weder im Wortlaut des Gesetzes noch in der zitierten Begründung des Regierungsentwurfs. Unter Berücksichtigung der ständigen Rechtsprechung der mit Bausachen befassten Senate des beschließenden Gerichts zur Anwendung des § 73 Abs. 1 BauO NRW hätte der Gesetzgeber im Falle einer grundsätzlichen Änderung der Abweichungsvorschriften insoweit eine eindeutige Regelung getroffen und entsprechend begründet.

In Abstimmung mit dem 7. Senat hält das Gericht an seiner Rechtsprechung fest, dass eine Unterschreitung der vorgeschriebenen Maße für die notwendigen Abstandsflächen regelmäßig einen Abwehranspruch des Nachbarn auslöst. Das OVG NRW hat in seinem Urteil vom 14.1.1994 - 7 A 2002/92 -, BRS 56 Nr. 196, ausgeführt: "Der Landesgesetzgeber hat in § 6 BauO NRW für die Frage, welche Mindestabstände zur Grundstücksgrenze bei Gebäuden zu wahren sind, feste und durch Messung überprüfbare Maße bestimmt. Dies erfolgte in dem Bewusstsein, dass ein in Grenznähe stehender Baukörper zwar immer, also auch wenn die in § 6 BauO NRW verlangte Abstandfläche gewahrt wird, eine Beeinträchtigung der Nachbarn zur Folge haben wird, dass dem Nachbarn aber im Hinblick auf sein Betroffensein nur dann Abwehrrechte eingeräumt werden sollen, wenn die verlangten Abstandsmaße unterschritten werden. Bei dieser Regelung unterstellt der Gesetzgeber somit nicht, dass eine Beeinträchtigung des Nachbarn bei einem die Abstandflächenregelungen nicht vollständig ausnutzenden Bauwerks völlig fehlt und erst dann abrupt einsetzt, wenn die Abstandswerte unterschritten werden. Es wurde lediglich gesetzlich verankert, dass das Heranrücken eines Bauwerks und die damit verbundene Beeinträchtigung des Nachbarn erst dann rechtlich mit der Folge des Entstehens eines nachbarlichen Abwehranspruchs relevant wird, wenn die gesetzlich festgelegten Abstandswerte unterschritten werden." Somit verbleibt es dabei, dass bei einer (wie hier) erforderlichen Tiefe der Abstandfläche von drei Metern - vorbehaltlich einer Atypik im Einzelfall - den oben dargelegten Anforderungen nicht genügt ist, wenn die Abstandfläche auch nur im Zentimeterbereich unterschritten wird.

Ende der Entscheidung

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