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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Urteil verkündet am 12.09.2002
Aktenzeichen: 12 A 4625/99
Rechtsgebiete: BSHG, SGB I


Vorschriften:

BSHG § 97
BSHG § 103
SGB I § 30
Für die Ermittlung des nach § 97 Abs. 2 Satz 1 BSHG zuständigkeitsbegründenden gewöhnlichen Aufenthalts kommt es nach Maßgabe der Legaldefinition in § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I allein auf objektive Umstände an, wenn der Verwirklichung des Willens zu einem nur vorübergehenden Aufenthalt tatsächliche Verhältnisse entgegenstehen.
Tatbestand:

Die Beteiligten stritten um die Erstattung von Kosten, die der Kläger als überörtlicher Träger der Sozialhilfe aus Mitteln der Sozialhilfe für die Unterbringung von Frau S. ab dem 19.11.1991 im Wohnheim D. in der zu seinem Zuständigkeitsbereich gehörenden Gemeinde K. aufgewendet hat. Frau S., die an einer geistigen Behinderung litt, lebte bis Juli 1991 in K., wo sie von ihrer Mutter betreut wurde. Nachdem die Mutter zunächst in ein Krankenhaus eingeliefert und anschließend endgültig in einem Pflegeheim untergebracht worden war, nahm ihr Bruder, Herr S., sie am 15. oder 24.7.1991 in seinen Haushalt in B. auf. Am 12.9.1991 beantragte Herr S. in Vertretung seiner Schwester bei der Kreisverwaltung K., die Kosten ihrer Unterbringung im D.-Wohnheim in K. zu übernehmen. Mit an das D. gerichtetem Schreiben vom 15./18.9.1991 bat Herr S., mit ihrer Aufnahme in das Wohnheim nicht bis zur bereits verzögerten Fertigstellung des neuen Wohntraktes zu warten, sondern sie zum nächstmöglichen Termin im Wohnheim unterzubringen. Am 19.11.1991 wurde Frau S. in das Wohnheim in K. aufgenommen. Mit Bescheid vom 28.7.1992 gewährte der Kläger Frau S. ab dem 19.11.1991 Eingliederungshilfe für Behinderte. Das Ersuchen des Klägers, ihm die für die Unterbringung von Frau S. im D.-Wohnheim in K. ab dem 19.11.1991 aufgewendeten Kosten zu erstatten und die Hilfe ab dem nächstmöglichen Zeitpunkt unmittelbar zu gewähren, lehnte der Beklagte - der u.a. die Stadt B. umfassende überörtliche Träger der Sozialhilfe - mit der Begründung ab, im kostenerstattungsrechtlich relevanten Zeitraum sei ein gewöhnlicher Aufenthalt der Frau S. in seinem Bereich nicht nachgewiesen.

Mit Schreiben vom 2.1.1993 teilte Herr S. dem Beklagten mit, seine Schwester habe sich vom 15.7.1991 bis zum 19.11.1991 als Gast in seiner Familie aufgehalten. Nachdem seine Mutter ins Krankenhaus und danach ins Pflegeheim eingewiesen worden sei, habe auch für seine Schwester eine neue Unterkunft gesucht werden müssen. Zu diesem Zeitpunkt habe zwar schon der Antrag bestanden, seine Schwester in die Behinderteneinrichtung des D. aufzunehmen, doch das neue Wohnhaus habe erst zu einem späteren Zeitpunkt bezogen werden können. Deshalb habe er seine Schwester für diese Übergangszeit bei sich aufgenommen.

Unter dem 4.8.1995 teilte der Beklagte dem Kläger mit, dem Antrag auf Kostenerstattung vermöge er nach wie vor nicht zu entsprechen. Am 11.7.1997 erhob der Kläger Klage. Hinsichtlich der vom Kläger im Zeitraum vom 19.11.1991 bis 31.12.1992 erbrachten Aufwendungen erhob der Beklagte die Einrede der Verjährung.

Das VG wies die Klage ab. Die Berufung des Klägers hatte zum Teil Erfolg.

Gründe:

Der Kläger hat gegen den Beklagten dem Grunde nach einen Anspruch auf Erstattung der Sozialhilfeleistungen (I.). Der begehrten Feststellung der Verpflichtung des Beklagten zur Kostenerstattung steht jedoch teilweise dessen Einrede der Verjährung entgegen (II.).

I. Der Erstattungsanspruch des Klägers ergibt sich aus § 103 Abs. 1 Satz 1 BSHG in der jeweils für den Zeitraum geltenden Fassung, auf den sich die Erstattungsforderung bezieht, also für den Zeitraum vom 19.11.1991 bis zum 31.12.1993 aus § 103 Abs. 1 Satz 1 BSHG in der bis dahin geltenden Fassung der Bekanntmachung vom 10.1.1991, BGBl. I S. 94, ber. S. 808 - a.F. -, für die Zeit ab dem 1.1.1994 aus § 103 Abs. 1 Satz 1 BSHG in der ab diesem Zeitpunkt geltenden Fassung vom 23.6.1993, BGBl. I S. 944 - n.F. -.

Die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Bestimmung sind erfüllt. (...)

Der Beklagte war der zur Erstattung verpflichtete zuständige Sozialhilfeträger, da Frau S. ihren gewöhnlichen Aufenthalt in den zwei Monaten vor der Aufnahme in das D.-Wohnheim in K. zuletzt in B. und damit im Bereich des Beklagten gehabt hat. Da das Bundessozialhilfegesetz keine näheren Regelungen zur Bestimmung des Rechtsbegriffs des gewöhnlichen Aufenthalts enthält, gilt gemäß § 37 Satz 1 SGB I die Legaldefinition in § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I (vgl. Gottschick/ Giese, Das Bundessozialhilfegesetz, 9. Aufl., 1985, § 103 Rdnr. 4.1; W. Schellhorn/H. Schellhorn, Das Bundessozialhilfegesetz, 16. Aufl., 2002, § 97 Rdnr. 33; Giese/Krahmer, Sozialgesetzbuch I und X, 2. Aufl., 22 Lfg., Stand: November 2000, I § 30 Rdnr. 18; Bay. VGH, Urteil vom 15.7.1991 - 12 B 90.3149 -, FEVS 42, 64, 67; Thür. OVG, Urteil vom 27.8.1996 - 2 KO 310/95 -, FEVS 47, 398, 399 f), mit der Maßgabe, dass der unbestimmte Rechtsbegriff unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck sowie Regelungszusammenhang der jeweiligen Norm auszulegen ist (vgl. BVerwG, Urteile vom 31.8.1995 - 5 C 11.94 -, BVerwGE 99, 158, 162, 164 = FEVS 46, 133, 137, und vom 18.3.1999 - 5 C 11.98 -, FEVS 49, 434, 436). Maßgeblich ist, ob der Betreffende sich an dem fraglichen Ort "bis auf weiteres" i. S. eines zukunftsoffenen Verbleibs aufhält und dort den Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen hat (vgl. BVerwG, Urteile vom 18.3.1999, a.a.O., und vom 18.5.2000 - 5 C 27/99 -, FEVS 51, 546, 548; OVG NRW, Urteil vom 13.6.2002 - 12 A 3177/00 -, Beschluss vom 18.3.2002 - 12 A 1681/99 -). Abgesehen von einem zeitlich unbedeutenden oder von vornherein nur kurz befristeten Verweilen, wie es für einen Besuch oder die Durchreise typisch ist, setzt die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts also nicht eine bestimmte Aufenthaltsdauer voraus (vgl. hierzu: BVerwG, Urteil vom 18.5.2000, a.a.O.; Thür. OVG, Urteil vom 1.7.1997 - 2 KO 38/96 -, ZfF 1998, 253. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 14.2.1990 - 6 S 1797/88 -, FEVS 41, 119 (124); Mergler/Zink, Bundessozialhilfegesetz, Kommentar, 31. Lfg., Stand Januar 2002, § 103 Rdnrn. 34, 38; Bräutigam, in Fichtner, Bundessozialhilfegesetz, § 97 Rdnr. 23; W. Schellhorn/H. Schellhorn, a.a.O., § 97 Rdnr. 29). Sie kann gegebenenfalls schon vom ersten Tag der Aufenthaltnahme an anzunehmen sein (vgl. Mergler/Zink, a.a.O., § 103 Rdnr. 34b; W. Schellhorn/H. Schellhorn, a.a.O. § 97 Rdnr. 28; OVG Rh.-Pf., Beschluss vom 22.1.2002 - 12 A 11101/01.OVG -, SAR-aktuell 2002, 77). Als Umstände, welche die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts erkennen lassen, sind sowohl subjektive als auch objektive Elemente heranzuziehen (vgl. Mergler/Zink, a.a.O., § 103 Rdnr. 34b, 35; Gottschick/Giese, a.a.O., § 103 Rdnr. 4.3; Bräutigam, in Fichtner, a.a.O., § 97 Rdnr. 17; Schoch in LPK-BSHG, 5. Aufl. 1998, § 97 Rdnr. 30; OVG Rh.-Pf., Urteil vom 17.8.2000 - 12 A 10912/99.OVG -). Für das subjektive Element ist dabei nicht ein rechtserheblicher, sondern der tatsächliche, ausdrücklich oder konkludent geäußerte Wille maßgeblich. Ist der Betreffende nicht fähig, einen entsprechenden Willen zu bilden oder ist er an einer solchen Willensbildung durch objektive Gegebenheiten gehindert, scheitert indes daran die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts nicht. Vielmehr sind in solchen Fällen, wenn auch nicht auf die Willensbildung des gesetzlichen Vertreters oder Betreuers abgestellt werden kann, die objektiven Umstände i.S.v. § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I allein entscheidend (vgl. Bräutigam, in Fichtner, a.a.O., § 97 Rdnr. 19; Mergler/Zink, a.a.O., § 103 Rdnr. 35; W. Schellhorn/H. Schellhorn, a.a.O., § 97 Rdnr. 31). Objektive Umstände sind auch in den Fällen allein maßgeblich, in denen der Verwirklichung des Willens zu einem nur vorübergehenden Aufenthalt tatsächliche Verhältnisse entgegenstehen. Objektive Gegebenheiten können also einen zeitlich begrenzten Aufenthalt trotz anderer Willensrichtung zu einem gewöhnlichen Aufenthalt machen (vgl. Mergler/Zink, a.a.O., § 103 Rdnr. 38; BVerwG, Beschluss vom 19.6.2000 - 5 B 5.00 -). In Anwendung dieser Grundsätze hatte Frau S. im fraglichen Zeitraum vor der Aufnahme in das D.-Wohnheim ihren gewöhnlichen Aufenthalt in B. Sie verweilte dort weder besuchsweise noch sonst vorübergehend i. S. eines von vornherein nur zeitlich unbedeutenden oder kurz befristeteten Aufenthalts. Vielmehr hielt sie sich in B. bis auf weiteres i. S. eines zukunftsoffenen Verbleibs auf. Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Bruder von Frau S. von vornherein die Absicht hatte, sie zur Überbrückung der Zeit bis zu ihrer Aufnahme im D.-Wohnheim in K. nur kurzzeitig in seinem Haushalt unterzubringen. Auch kann dahingestellt bleiben, ob hier - etwa mangels eines erkennbaren Willensentschlusses der Frau S. selbst oder wegen ihrer eventuellen Unfähigkeit, einen entsprechenden Willen zu bilden - überhaupt auf die Vorstellungen ihres Bruders abzustellen ist. Denn jedenfalls standen der Verwirklichung des Willens zu einem nur besuchsweisen oder sonst vorübergehenden Aufenthalt objektive Umstände entgegen. Zum Zeitpunkt des Zuzugs der Frau S. nach B. war ihre Unterbringung im D.-Wohnheim noch nicht möglich, da ein Gebäude noch nicht fertig gestellt gewesen war und es deshalb der Einrichtung an der zur Aufnahme der Frau S. erforderlichen Kapazität gefehlt hatte. Auch stand der Zeitpunkt der Fertigstellung des Gebäudes nicht fest, da diese sich bereits verzögert hatte und ein Ende der Verzögerung nicht absehbar war. Dies wird dadurch belegt, dass der Bruder der Frau S. in seinem Schreiben vom 15./18.9.1991 darauf gedrängt hat, mit der Unterbringung seiner Schwester nicht bis zur Fertigstellung des Wohnheimes zu warten. Somit ließ es sich nicht absehen, wann Frau S. in das Wohnheim übersiedeln konnte. Auch war ihre Aufnahme in das Wohnheim noch nicht endgültig gesichert, da die Übernahme der Kosten ihrer Unterbringung erst unter dem 12.9.1991 beantragt und darüber erst mit Bescheid vom 28.7.1992 entschieden wurde. Ihre Situation im Zeitpunkt des Zuzugs nach B. stellte sich daher so dar, dass sie wegen des ungewissen Zeitpunktes der Fertigstellung des Wohnheims für einen nicht vorhersehbaren Zeitraum auf den Aufenthalt im Haushalt der Familie ihres Bruders in B. angewiesen war. Die verzögerte Fertigstellung des Wohnheimes führte letztlich dazu, dass Frau S. in B. etwa vier Monate verblieb und damit zumindest länger, als jedenfalls von ihrem Bruder erkennbar von vornherein beabsichtigt war. Auch spricht alles dafür, dass sie noch länger in B. verblieben wäre, wenn sich die Aufnahme in das Wohnheim noch weiter verzögert hätte. Es ist nicht ersichtlich, dass ihre Betreuung zum damaligen Zeitpunkt anders als durch die in B. lebende Familie ihres Bruders gewährleistet werden konnte. Alternativen zum Aufenthalt bei der Familie ihres Bruders sind auch nicht aufgezeigt worden. Damit war die Verwirklichung des Willens ihres Bruders, sie jedenfalls für einen kürzeren Zeitraum bei sich unterzubringen, durch die verzögerte Fertigstellung des Wohnheimes gehindert. Dieser Wille steht deshalb nach den o.g. Grundsätzen der Annahme eines Aufenthalts der Frau S. "bis auf weiteres" und damit der Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts in B. nicht entgegen.

II. Die Klage hat keinen Erfolg, soweit sie auf die Feststellung der Verpflichtung des Beklagten gerichtet ist, dem Kläger die von ihm für Frau S. in der Zeit vom 19.11.1991 bis zum 31.12.1992 aufgewendeten Kosten zu erstatten. Insoweit steht der Verpflichtung des Beklagten zur Kostenerstattung die von ihm erhobene Einrede der Verjährung nach § 113 Abs. 1 SGB X (in der Fassung vom 4.11.1982, BGBl. I S. 1450) entgegen. (Wird ausgeführt)

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