Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Urteil verkündet am 09.12.2008
Aktenzeichen: 13 A 3015/06
Rechtsgebiete: TierSG, AGTierSG-NRW, DVO-AGTierSG-NRW, VwVfG


Vorschriften:

TierSG § 66
AGTierSG-NRW § 9 a. F.
AGTierSG-NRW § 11 a. F.
AGTierSG-NRW § 12 a. F.
AGTierSG-NRW § 13 a. F.
AGTierSG-NRW § 14 a. F.
DVO-AGTierSG-NRW § 2a a. F.
VwVfG § 40
Ist eine Behörde zur Ausübung von Ermessen berufen, so darf sie sich nicht ohne Weiteres an "Richtlinien" binden, die ein nicht zur Entscheidung befugtes Gremium - hier der frühere "Beirat der Tierseuchenkasse" - aufstellt; zudem hat sie die Umstände des Einzelfalles zur Kenntnis zu nehmen und zu erwägen, ob eine Abweichung von der ständigen Verwaltungspraxis angezeigt ist.
Tatbestand:

Der Kläger ist Pferdezüchter. Im Frühjahr 2004 verendeten drei seiner Pferde an Botulismus. Daraufhin stellte er im April 2004 bei dem (inzwischen aufgelösten) Landesamt für Ernährungswirtschaft und Jagd einen Antrag auf Behilfe aus der Tierseuchenkasse. Der "Beirat der Tierseuchenkasse" hatte im Jahre 1996 beschlossen, dass Beihilfen im Falle von Botulismus bei Rindern gewährt werden sollen. In Bezug auf Pferde wurde ein entsprechender Beschluss hingegen erst im März 2005 mit Wirkung ab dem Jahr 2005 gefasst. Unter Hinweis auf diese Beschlusslage lehnte das Landesamt den Antrag des Klägers ab und wies auch seinen Widerspruch gegen die Ablehnung zurück. Auf seine Klage hin verpflichtete das VG das Landesamt zur Neubescheidung des Beihilfeantrags. Die Berufung der Landwirtschaftskammer, auf welche die Verwaltung des Sondervermögens Tierseuchenkasse inzwischen übergegangen ist, blieb ohne Erfolg.

Gründe:

Der Bescheid des Landesamtes vom 28.6.2004 und der Widerspruchsbescheid vom 11.8.2004 sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat Anspruch auf Neubescheidung seines Antrags auf Gewährung einer Beihilfe aus der Tierseuchenkasse, § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO.

Bei der Beurteilung möglicher tierseuchenrechtlicher Entschädigungs- und Beihilfeansprüche ist grundsätzlich auf die Rechtslage im Zeitpunkt des Tierverlusts, vorliegend also im Frühjahr 2004, abzustellen.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 20.1.2005 - 3 C 15.04 -, NVwZ-RR 2005, 446.

Wie offenbar auch die Beteiligten meinen, ist ein Anspruch auf Entschädigung nach dem TierSG in der Fassung des Änderungsgesetzes vom 25.1.2004, BGBl. I S. 82, (im Folgenden: TierSG a. F.) nicht gegeben. Denn keiner der Entschädigungstatbestände des § 66 TierSG a. F. ist vorliegend erfüllt.

Rechtsgrundlage für einen Beihilfeanspruch sind die §§ 11, 12 AGTierSG-NRW in der Fassung des Änderungsgesetzes vom 17.12.2003, GVBl. NRW S. 808, (im Folgenden: AGTierSG-NRW a. F.) i. V. m. § 2a Abs. 1 Nr. 7 DVO-AGTierSG-NRW i. d. F. der Änderungsverordnung vom 22.9.2003, GVBl. NRW S. 691, (im Folgenden: DVO-AGTierSG-NRW a. F.). Nach § 11 Nr. 1 AGTierSG-NRW a. F. kann die Tierseuchenkasse Beihilfen und finanzielle Unterstützungen gewähren für Tierverluste, die aus Anlass von Tierseuchen oder seuchenähnlich verlaufenden Tierkrankheiten erwachsen, wobei die Einzelheiten gemäß § 12 AGTierSG-NRW a. F. durch Rechtsverordnung bestimmt werden. Gemäß § 2a Abs. 1 Nr. 7 DVO-AGTierSG-NRW a. F. werden im Rahmen der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel Beihilfen gewährt für Tierverluste wegen Botulismus in Höhe von bis zu 80% des gemeinen Wertes.

Dass die in Rede stehenden Pferde an Botulismus verendet sind, steht aufgrund der vorgenommenen Untersuchungen fest und ist auch zwischen den Beteiligten nicht umstritten. Somit wird eine Beihilfe für Tierverluste infolge einer seuchenähnlich verlaufenden Tierkrankheit im Sinne von § 11 AGTierSG-NRW a. F. begehrt; die Grundvoraussetzung für einen Beihilfeanspruch ist erfüllt.

Die ebenfalls einschlägige Regelung in § 2a Abs. 1 Nr. 7 DVO-AGTierSG-NRW a. F. wirft zunächst die Frage auf, ob dem Landesamt bei der zu treffenden Entscheidung überhaupt ein Ermessenspielraum zukam. Denn die Formulierung des Satzes ("Beihilfen werden ... gewährt für ... Tierverluste wegen Botulismus...") legt eine für den Rechtsanwender, also auch die Behörde, bindende Entscheidung des Verordnungsgebers nahe. Dies gilt um so mehr, wenn man § 2a Abs. 2 Satz 1 DVO-TierSG-NRW a. F. mit einbezieht, dem zufolge über sonstige finanzielle Unterstützungen im Einzelfall auf Antrag entschieden werden soll. Dies lässt sich dahingehend verstehen, dass es im Falle von Tierverlusten wegen Botulismus einer Entscheidung im Einzelfall nicht mehr bedarf, weil diese Entscheidung bereits - generell - durch die Verordnung getroffen worden ist.

Allerdings enthält § 2a Abs. 1 DVO-TierSG-NRW a. F. die Relativierungen "im Rahmen der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel" und - in Nr. 7 - "bis zu 80%". Aufgrund dieser Relativierungen lässt sich ein Ermessensspielraum der Tierseuchenkasse annehmen. Dies dürfte auch systemgerecht sein, denn das Sondervermögen Tierseuchenkasse ist seinem Umfang nach zwangsläufig begrenzt. Im Bereich der Beihilfegewährung funktioniert die Tierseuchenkasse nach dem Prinzip der Solidargemeinschaft und muss einen Ausgleich zwischen den von den Einzahlern geleisteten Mitteln und dem Bedarf der Antragsteller herstellen. Die Tierseuchenkasse durch Rechtsverordnung zur Gewährung von Beihilfen in bestimmter Höhe zu verpflichten, würde dieses System in Frage stellen.

Der Senat teilt die Ansicht des VG, dass das dem Landesamt somit grundsätzlich zustehende Ermessen nicht in rechtmäßiger Weise ausgeübt worden ist.

Insoweit ist zunächst festzustellen, dass Träger der Ermessensentscheidung im maßgeblichen Zeitpunkt ausschließlich das Landesamt als nach § 9 Abs. 1 AGTierSG-NRW a. F. zur Verwaltung des Sondervermögens berufene Behörde war. Keinerlei Entscheidungsbefugnisse kamen hingegen dem nach § 13 AGTierSG-NRW a. F. zu bildenden Beirat der Tierseuchenkasse zu. Denn der Beirat hatte nach dem seinerzeit geltenden § 14 AGTierSG-NRW a. F. lediglich Antrags-, Anhörungs- und Unterrichtungsrechte, nicht aber Entscheidungskompetenzen. Dies beruhte im Übrigen auf einer bewussten Entscheidung des Gesetzgebers. Dieser hatte im Jahre 1999 den früheren Satz 3 des § 14 AGTierSG-NRW a. F. ("Regelungen darüber, in welchen Fällen und in welcher Höhe Beihilfen und sonstige finanzielle Unterstützungen gewährt werden, bedürfen seines [scil. des Beirates] Einvernehmens") mit der Begründung gestrichen, eine Mitentscheidungskompetenz des Beirats komme nicht in Betracht, weil dessen Mitglieder nicht die dafür erforderliche demokratische Legitimation besäßen; die Mitentscheidungsbefugnisse seien daher auf ein Anhörungsrecht zurückzuführen.

Vgl. Gesetzentwurf der Landesregierung vom 27.10.1999, LT-Drucks. 14/4380, S. 5; zur Bedeutung des Einvernehmenserfordernisses nach dem früheren Recht OVG NRW, Urteil vom 7.6.1993 - 13 A 3404/92 -.

Das somit im maßgeblichen Zeitpunkt allein zur Ausübung des Ermessens berufene Landesamt selbst hat eine Ermessensentscheidung nicht getroffen; es liegt ein Fall des Ermessensnichtgebrauchs vor. Denn die Behörde hat es offensichtlich bei der Prüfung der Frage belassen, ob die "Beihilferichtlinien" Leistungen für Fälle von Botulismus bei Pferden vorsehen. Zwar kann eine zur Ausübung von Ermessen berufene Behörde sich durch ermessenslenkende Richtlinien selbst binden. Solche Richtlinien müssen indes ihrerseits ermessensgerecht sein.

Vgl. Wolff, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 2. Aufl. 2006, § 114 Rdnr. 98, m. w. N.

Das setzt unter anderem voraus, dass sie von der für die Ermessensausübung zuständigen Behörde oder gegebenenfalls einer weisungsbefugten vorgesetzten Behörde aufgestellt worden sind. Es ist der für die Ermessensentscheidung zuständigen Behörde wohl nicht von vornherein verwehrt, entsprechende Richtlinien von einem nicht zur Entscheidung befugten Gremium erarbeiten zu lassen und sich diese dann - nach ermessensgerechter Prüfung - zu eigen zu machen. Unzulässig ist es jedoch, auf eine eigene Entscheidung vollständig zu verzichten und diese auf eine nicht zur Ausübung des Ermessens befugte Stelle zu delegieren. Eben dies ist vorliegend aber geschehen. Die Ausführungen in den Bescheiden und in der Klageerwiderung belegen, dass das Landesamt sich an die Vorgaben des Beirats gebunden fühlte, was die Vertreterin des Amtes in der mündlichen Verhandlung vor dem VG auch ausdrücklich bekundet hat. Dem Vortrag im Berufungsverfahren ist Gegenteiliges ebenfalls nicht zu entnehmen. Die Berufungsbegründungsschrift enthält vielmehr die eindeutige Erklärung "Bis Ende 2006 entschied der Beirat der Tierseuchenkasse (...) darüber, in welchen Fällen, in welcher Höhe und ggfs. wie lange eine Beihilfe gewährt werden soll...".

Zu berücksichtigen ist darüber hinaus, dass eine (Selbst-) Bindung der Behörde an Ermessensrichtlinien nicht so weit gehen darf, dass auf eine Würdigung der Umstände des Einzelfalls vollständig verzichtet wird. Denn die Einräumung von Ermessen hat gerade den Zweck, der Behörde eine flexible und sachgerechte Behandlung des Einzelfalls zur ermöglichen. Auch wenn die Ermessensentscheidung durch ermessenslenkende Richtlinien weitgehend vorstrukturiert ist, muss die Behörde daher zumindest erwägen, ob es sich um einen atypischen Einzelfall handelt, der bei der Erstellung der Richtlinien nicht hat berücksichtigt werden können und daher nach einer individuellen Ermessensentscheidung verlangt.

Vgl. BVerwG, Beschluss vom 22.5.2008 - 5 B 36.08 -, juris, und Wolff, a. a. O., § 114 Rdnr. 93 ff., jeweils m. w. N.

Die von der Beklagten in der Berufungsbegründungsschrift aufgeworfene Frage, ob sie "tatsächlich in jedem Einzelfall eine eigene Entscheidung zu treffen hat", lässt vermuten, dass sie sich dieser Grundsätze nicht bewusst ist.

Selbst wenn man eine vollständige Delegierung der Ermessensausübung auf den Beirat für zulässig hielte, wäre die Ermessensausübung im Übrigen als defizitär anzusehen. Zwar mag die ständige Praxis der Behörde, Beihilfen für neu auftretende Tierkrankheiten erst nach dem Auftreten erster Fälle und ab einem gewissen Stichtag zu gewähren, aufgrund des der Beihilfegewährung zugrunde liegenden Zwecks für den Regelfall ermessensgerecht sein.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 26.5.1997 - 13 A 2449/96 -; VG Münster, Urteile vom 1.9.2008 - 5 K 246/06 -, juris, und vom 16.12.1998 - 6 K 3102/95 -.

Vorliegend ist aber die Änderung durch die Fünfte Verordnung zur Änderung der Durchführungsverordnung zum Ausführungsgesetz zum Tierseuchengesetz NRW vom 20.4.2000 (GVBl. NRW S. 480) zu berücksichtigen. Eine Rechtsverordnung unterscheidet sich hinsichtlich ihrer Bindungswirkung nicht von einem förmlichen Gesetz; sie ist für die Normadressaten, zu denen auch die Beklagte gehört, ebenso verbindlich wie ein Parlamentsgesetz.

Vgl. nur Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 16. Auflage 2006, § 4 Rdnr. 16.

Durch die genannte, am 7.6.2000 in Kraft getretene Änderungsverordnung wurde § 2a in die Durchführungsverordnung zum Ausführungsgesetz zum Tierseuchengesetz NRW eingefügt. Im Zeitpunkt der Tierverluste sah diese Vorschrift - wie oben bereits dargelegt - vor, dass im Rahmen der Haushaltsmittel Beihilfen für Tierverluste wegen Botulismus gewährt werden. Der Wortlaut des § 2a Abs. 1 Nr. 7 DVO-AGTierSG-NRW a. F. und der Umkehrschluss aus § 2a Abs. 2 Satz 1 DVO-TierSG-NRW a. F. legen die Annahme nahe, dass der Verordnungsgeber die grundsätzliche Entscheidung für eine Gewährung von Beihilfen bei Botulismus bereits getroffen und das Landesamt nur noch über die Einstellung von Mitteln in den Haushalt und die Höhe der jeweiligen Beihilfe zu entscheiden hatte, wobei die Gewährung einer Beihilfe, wie die Erstreckung der Botulismusbeihilfen auf Pferdehalter im März 2005 zeigt, wohl nicht zwingend eine vorherige Einstellung von Mitteln in den Haushalt voraussetzt. Selbst wenn der Verordnungsgeber indes auch hinsichtlich der Frage des "Ob" einer Beihilfegewährung nicht beabsichtigt haben sollte, das Ermessen des Landesamtes einzuschränken, so die Auskunft des Ministeriums für Umwelt und Naturschutz, Landwirtschaft und Verbraucherschutz des Landes Nordrhein-Westfalen vom 28.8.2008 an das VG Münster zum dortigen Verfahren 5 K 246/06, gab die Einfügung der genannten Vorschrift doch zumindest Veranlassung zu entscheiden, ob und in welcher Höhe Beihilfen wegen Tierverlusten durch Botulismus - über die bereits aufgrund des Beiratsbeschlusses vom 9.10.1996 berücksichtigten Fälle von Rindern hinaus - gewährt werden sollen. Dabei musste der Umstand, dass der Verordnungsgeber Beihilfen für Fälle von Botulismus offenbar bei allen in Betracht kommenden Tierarten für zumindest erwägenswert hielt, als Abwägungsbelang in die Ermessensüberlegungen eingestellt werden. Insoweit unterschied sich die Situation bei Botulismus von einem sonstigen Fall (vgl. § 2a Abs. 2 Satz 1 DVO-AGTierSG-NRW), in dem nach der ständigen Praxis der Beklagten erst nach dem ersten Auftreten einer Tierkrankheit mit Wirkung für die Zukunft über eine Beilhilfengewährung entschieden wird.

A. A. VG Münster, Urteil vom 1.9.2008 - 5 K 246/06 -, juris.

Weder der Beirat, noch das Landesamt selbst haben aber die Verordnungsänderung zum Anlass genommen, sich mit der Frage der Gewährung von Beihilfen in Botulismusfällen über den allein die Rinderhalter betreffenden Beschluss vom 9.10.1996 hinaus zu beschäftigen. Zwischen der Verordnungsänderung zum 7.6.2000 und der Beiratssitzung vom 8.3.2005 haben sich das Landesamt und der Beirat nicht mit diesem Thema befasst, wie die Beklagte auf Nachfrage des Senats mitgeteilt hat.

Ob die Ermessensausübung auch wegen der Benachteiligung von Pferdehaltern im Vergleich zu Rinderhaltern, denen bei Fällen von Botulismus bereits seit 1996 Beihilfen gewährt wurden, rechtswidrig war, mag dahin stehen. Sachliche Gründe für die Ungleichbehandlung sind jedenfalls nicht ansatzweise vorgetragen worden.

Ende der Entscheidung

Zurück