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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss verkündet am 29.05.2006
Aktenzeichen: 13 A 807/03
Rechtsgebiete: AMG


Vorschriften:

AMG § 25 Abs. 2 Nr. 4 2. Alt.
AMG § 109a Abs. 3 Satz 1
1. Im pauschalierten Nachzulassungsverfahren ist von einer unzureichenden Begründung im Sinne des § 25 Abs. 2 Nr. 4 2. Alt. AMG auszugehen, wenn entweder die von dem nachzuzulassenden Arzneimittel beanspruchten Anwendungsgebiete nicht den in der Traditionsliste aufgeführten entsprechen oder aber das nachzuzulassende Arzneimittel nicht dem Stoff oder der Stoffkombination entspricht, dessen/deren in der Traditionsliste aufgeführte Anwendungsgebiete beansprucht werden.

2. Der in § 109a Abs. 3 Satz 1 AMG verwendete weite Stoffbegriff wird allein durch das Erfordernis einer nach tradierten und dokumentierten Erfahrungen bezüglich des jeweiligen Anwendungsgebietes festgelegten therapeutischen Wirksamkeit bestimmt.

3. Dem Stoff Dimeticon kommt jedenfalls nach tradierten und dokumentierten Erfahrungen auch im Anwendungsgebiet "Traditionell angewendet zur Unterstützung der Verdauungsfunktion" eine synergistische therapeutische Wirksamkeit zu.


Tatbestand:

Die Klägerin begehrte die Verlängerung der Zulassung (sog. Nachzulassung) für ihr Arzneimittel W.-Kapseln, das neben dem Bestandteil Artischockenblätter, Trockenextrakt mit Wasser, unter anderem 120 mg des Siliconöls Dimeticon enthält.

Die Beklagte änderte nach Anhörung der nach § 109a Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 25 Abs. 6 Satz 4 bis 6 AMG gebildeten Kommission die bereits bestehende Listenposition Nr. 757 (Artischockenblätter; SE mit Wasser, Darreichungsform: Dragees, Anwendungsgebiet: "Traditionell angewendet zur Unterstützung der Verdauungsfunktion") dahingehend ab, dass als weitere Darreichungsform "Kapseln" aufgenommen wurde, und informierte darüber die Rechtsvorgängerin der Klägerin. Unter dem 12.1.2001 beantragte diese daraufhin unter Bezugnahme auf die geänderte Listenposition die Verlängerung der Zulassung ihres Arzneimittels nach § 105 i.V.m. § 109a AMG. Dies lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 14.9.2001 ab. Die erhobene Klage wies das VG ab. Die Berufung der Klägerin blieb ohne Erfolg.

Gründe:

Einer Nachzulassung gemäß § 109a AMG steht der sich aus §§ 105 Abs. 4f Satz 1 Halbsatz 1, 25 Abs. 2 Nr. 4 2. Alternative AMG ergebende Versagungsgrund entgegen. Die dort genannte Voraussetzung der unzureichenden Begründung der therapeutischen Wirksamkeit bedarf für das sog. pauschalierte Nachzulassungsverfahren auf der Grundlage des § 109a AMG einer Modifikation, weil in diesem Verfahren die Anforderungen an die therapeutische Wirksamkeit bereits dann erfüllt sind, wenn das Arzneimittel Anwendungsgebiete beansprucht, die in der Traditionsliste (vgl. § 109a Abs. 3 Satz 1 AMG) anerkannt sind. Dementsprechend ist im pauschalierten Nachzulassungsverfahren dann von einer unzureichenden Begründung im Sinne des § 25 Abs. 2 Nr. 4 2. Alternative AMG auszugehen, wenn entweder die von dem nachzuzulassenden Arzneimittel beanspruchten Anwendungsgebiete nicht den in der Traditionsliste aufgeführten entsprechen oder aber das nachzuzulassende Arzneimittel nicht dem Stoff oder der Stoffkombination entspricht, dessen/deren in der Traditionsliste aufgeführte Anwendungsgebiete beansprucht werden. Hier ist Letzteres der Fall. Das Arzneimittel der Klägerin enthält neben dem Artischockenblätterextrakt u.a. den Stoff Dimeticon, während die allein erwägenswerte und von ihr in Bezug genommene Position Nr. 757 der Traditionsliste nur den erstgenannten Stoff, nicht jedoch die Kombination der genannten Stoffe ausweist. Dem Stoff Dimeticon kommt jedenfalls nach tradierten und dokumentierten Erfahrungen auch im beanspruchten Anwendungsgebiet eine synergistische therapeutische Wirksamkeit zu, so dass die Möglichkeit einer Bezugnahme auf die Traditionsliste schon vor diesem Hintergrund nur dann eröffnet wäre, wenn dort für das beanspruchte Anwendungsgebiet eine die Stoffkombination Artischockenblätterextrakt und Dimeticon enthaltende Position ausgewiesen wäre. Dieses ist jedoch, wie bereits dargelegt, nicht der Fall.

Der in § 109a Abs. 3 Satz 1 AMG verwendete weite Stoffbegriff (vgl. § 3 AMG) wird allein durch das Erfordernis einer nach tradierten und dokumentierten Erfahrungen bezüglich des jeweiligen Anwendungsgebietes festgelegten therapeutischen Wirksamkeit bestimmt. Konsequenterweise ist die Bezugnahme auf eine Position der Traditionsliste nur dann eröffnet, wenn die nach tradierten und dokumentierten Erfahrungen bezüglich des jeweiligen Anwendungsgebietes therapeutisch wirksamen Bestandteile eines Arzneimittels denen der in Bezug genommenen Listenposition entsprechen. Soweit die Klägerin die Erforderlichkeit der Aufnahme eines Arzneimittelbestandteiles in die Traditionsliste auf der Grundlage einer an die Begriffe Hilfsstoff und Wirkstoff anknüpfenden Differenzierung in Frage stellt, ist dem nicht zu folgen.

Dem Wortlaut des § 109a Abs. 3 AMG sind keine tragfähigen Hinweise, die eine Differenzierung im genannten Sinne gebieten, zu entnehmen. Der schon vor der Einfügung des § 109a in das Arzneimittelgesetz in § 4 Abs. 19 AMG legaldefinierte Begriff des Wirkstoffes findet in § 109a Abs. 3 AMG gerade keine Verwendung. Die in § 109a Abs. 3 Satz 1 AMG erfolgte Anknüpfung des in § 3 AMG legaldefinierten Stoffbegriffs an die Anwendungsgebiete versteht sich vielmehr allein vor dem Hintergrund der nach tradierten und dokumentierten Erfahrungen bezüglich des jeweiligen Anwendungsgebietes zu fordernden therapeutischen Wirksamkeit.

Eine an die Begriffe Hilfsstoff und Wirkstoff anknüpfende Differenzierung stünde überdies nicht mit dem von § 109a Abs. 3 AMG verfolgten Zweck der Schaffung einer verfahrensrechtlichen Erleichterung, vgl. Bericht des Ausschusses für Gesundheit, BT-Drucks. 12/7572, S. 8; BVerwG, Urteil vom 20.11.2003 - 3 C 29/02 -, NVwZ 2004, 349, im Einklang. Sie würde die mit § 109a Abs. 3 AMG bezweckte Verfahrenserleichterung schon deswegen nivellieren, weil der Bezugnahme auf die Traditionsliste - insbesondere wenn die Wirkungen eines Bestandteils eines Arzneimittels zwischen den Beteiligten wie vorliegend umstritten ist - eine unter Umständen mit erheblichem Aufwand verbundene Überprüfung der Frage vorauszugehen hätte, welchem der genannten Begriffe der jeweilige Stoff zuzuordnen ist. Des damit einhergehenden konkreten naturwissenschaftlichen Nachweises der Wirksamkeit eines Stoffes bedarf es jedoch gerade im Rahmen des nach § 109a Abs. 3 AMG vorgesehenen pauschalierten Prüfungsverfahrens nicht.

Die von der Klägerin geltend gemachten, auf § 1 und § 29 AMG gründenden systematischen Erwägungen greifen schon deshalb nicht, weil sie die dargelegten Besonderheiten des pauschalierten Nachzulassungsverfahren nach § 109a AMG unberücksichtigt lassen.

Dass das BfArM in der Traditionsliste die Stoffe und Stoffkombinationen in einer mit dem Begriff "Wirkstoff" überschriebenen Spalte aufführt, führt ebenfalls zu keiner anderen Bewertung. Maßgeblich sind allein die Vorgaben des § 109a Abs. 3 AMG.

Demnach ist für eine an die Begriffe Hilfsstoff und Wirkstoff anknüpfende Differenzierung jedenfalls im Rahmen des § 109a Abs. 3 AMG auch vorliegend kein Raum. Der Bezugnahme auf die Position Nr. 757 der Traditionsliste steht damit schon entgegen, dass dort Dimeticon, das nach § 3 Nr. 1 AMG als Stoff im Sinne des Arzneimittelgesetzes einzuordnen ist, nicht ausgewiesen ist, obwohl diesem jedenfalls nach tradierten und dokumentierten Erfahrungen im beanspruchten Anwendungsgebiet eine synergistische therapeutische Wirksamkeit zukommt.

Nach dem Kommentar zur Monographie "Dimeticon" (PH.EUR.NT 2000) ist die Verabreichung von Dimeciton u.a. bei übermäßigen Gasansammlungen im Gastrointestinaltrakt (Meteorismus, Flatulenz etc.) veranlasst. Bezüglich der pharmakologischen Eigenschaften wird dort ausgeführt: "Gasansammlungen im Magen-Darmtrakt werden fast stets in Form eines kleinblasigen, trägen Schaumes vorgefunden. Durch einen Schleimüberzug wird die Resorption des Gases verhindert. Dimeticon bringt den Schaum zum Zerfallen, so dass die Darmgase auf natürlichem Wege abgehen oder von der Darmwand resorbiert werden können." Dimeticon ist schon hiernach auch zur synergistischen Bekämpfung von Verdauungsbeschwerden geeignet. Insoweit fügt sich, dass die Positionen Nr. 449 und Nr. 948, die sich auf im Bereich der Verdauungsbeschwerden einsetzbare Stoffkombinationen mit Dimeticon beziehen, in die Traditionsliste aufgenommen worden sind. Anhaltspunkte dafür, dass bei diesen Eintragungen nicht von einer therapeutischen Wirksamkeit des Stoffes ausgegangen worden ist, sind nicht ersichtlich. Das Argument der Klägerin, die Eintragungen in der Traditionsliste beruhten jeweils auf den Angaben der Arzneimittelhersteller, trägt nicht. Eine Eintragung erfolgt nach Anhörung der nach § 109a Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 25 Abs. 6 Satz 4 bis 6 AMG gebildeten Kommission. Auch diese hat die oben erörterten Kriterien zu prüfen. Bei diesem Verfahren erscheint es fernliegend, dass versehentlich allein auf Grund der Angaben des Arzneimittelherstellers ein Stoff, dem nach tradierten und dokumentierten Erfahrungen keine therapeutische Wirksamkeit zukommt, in die Traditionsliste eingetragen wird.

Die unter dem 19.5.2003 und 22.10.2003 erfolgten Ausführungen des vom VG Köln im Verfahren 24 K 12604/99 beauftragten Gutachters Prof. Dr. med. T. führen zu keiner anderen Bewertung. Das Gutachten betrifft allein die Fragen, ob der Bestandteil Dimeticon in dem dort genannten Präparat eine eigene pharmakologische Wirkung entfaltet und ob Dimeticon die pharmakologische Wirkung des Gesamtarzneimittels beeinflusst. Auf nachgewiesene pharmakologische Wirkungen kommt es jedoch im Rahmen des § 109a Abs. 3 AMG nicht an. Folglich kommt auch seiner Feststellung, die Wirksamkeit von Dimeticon-haltigen Präparaten bei der Behandlung von Symptomen mit gastrointestinaler Gasansammlung sei mangels (ausreichender) klinischer Studien in Frage zu stellen, ungeachtet der insoweit festzustellenden begrifflichen Ungereimtheiten vorliegend keine Relevanz zu. Die Eintragungen in der Traditionsliste erfolgen eben nicht aufgrund eines (strengen) naturwissenschaftlichen Nachweises der Wirksamkeit, sondern auf der Grundlage tradierter und dokumentierter Erfahrungen. Die seitens der Klägerin angeregte Einholung eines Sachverständigengutachtens bezüglich der Fragen, ob der Stoff Dimeticon pharmakologische oder immunologische Wirkungen entfaltet und ob er metabolisiert wird, ist, da es nach dem Vorstehenden hierauf nicht entscheidend ankommt, entbehrlich.

Die Annahme einer nach tradierten und dokumentierten Erfahrungen im beanspruchten Anwendungsgebiet gegebenen synergistischen therapeutischen Wirksamkeit des im Arzneimittel der Klägerin enthaltenen Dimeticon-Anteils ist im Übrigen auch in Ansehung seiner Konzentration (120 mg pro Kapsel) sowie des ebenfalls enthaltenen Siliciumdioxids nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen. Dies wird nicht zuletzt durch die für Dimeticon-Kapseln 100 mg und für Dimeticon-Tabletten 80 mg bestehenden Standardzulassungen untermauert.

Ende der Entscheidung

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