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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Urteil verkündet am 02.09.2008
Aktenzeichen: 15 A 2426/07
Rechtsgebiete: GG, KrO NRW


Vorschriften:

GG Art. 20 Abs. 3
KrO NRW § 41
Eine kommunale Vertretungskörperschaft ist bei der Besetzung der Ausschussvorsitze im sog. Zugriffsverfahren verpflichtet, das Verfahren so auszugestalten, dass eine Fraktion Gelegenheit erhält, den ihr nach dem Gesetz zustehenden Vorsitz auch tatsächlich zu besetzen.
Tatbestand:

Im Kreistag bildeten die Fraktionen A, B, C und ein fraktionsloses Kreistagsmitglied einen Zusammenschluss zum gemeinsamen Zugriff bei der Besetzung der Ausschussvorsitze (Liste 1). Gleichermaßen bildeten zwei weitere Fraktionen, die Klägerin zu 1. und die frühere Klägerin zu 2., einen solchen Zusammenschluss (Liste 2). In der Kreistagssitzung vom 3.11.2004 wurden zuerst die Ausschüsse personell besetzt, wobei die Klägerin zu 1. nur mit einem sachkundigen Bürger im Ausschuss vertreten war, die Klägerin zu 2. sogar nur mit einem solchen mit beratender Stimme. Bei der Besetzung der Ausschussvorsitze griff die Liste 1 - unter Änderung der angekündigten Reihenfolge - auf die ersten sieben Ausschussvorsitze zu. Die Liste 2 erhielt den achten Zugriff und benannte für den Vorsitz im - neben dem Wahlprüfungsausschuss allein übriggebliebenen - Bauausschuss Frau D., ein der Klägerin zu 1. angehörendes Kreistagsmitglied. Der Landrat stellte fest, dass eine nicht dem Ausschuss angehörende Person benannt wurde, woraufhin die Liste 1 den Zugriff ausübte. In der nächsten Kreistagssitzung am 21.12.2004 wurde - nach Rücktritt des der Klägerin zu 1. angehörenden sachkundigen Bürgers im Bauausschuss - die ursprünglich als Vorsitzende vorgeschlagene Frau D. in den Ausschuss gewählt. Einwendungen der Klägerinnen gegen die Verfahrensweise in der Kreistagssitzung vom 3.11.2004 wies der Kreistag zurück, den erneuten Zugriff der Liste 2 auf den Vorsitz im Bauausschuss lehnte der Kreistag ab.

Die gegen den Kreistag gerichtete Klage festzustellen, dass den Klägerinnen das Zugriffsrecht auf den Vorsitz im Bauausschuss zugestanden habe und sie dieses mit der Benennung der Frau D. als Vorsitzende wirksam ausgeübt hätten, hatte in beiden Instanzen Erfolg. Die Klage der Klägerin zu 2. hatte sich im Laufe des Verfahrens erledigt.

Gründe:

Die zulässige Klage ist auch begründet. Der Beklagte hat durch die Ausgestaltung des Verfahrens der Besetzung der Ausschussvorsitze und durch den Beschluss vom 21.12.2004 über die Tagesordnungspunkte 18 und 19 die Rechte der Klägerin zu 1. verletzt. Denn der Klägerin zu 1. stand zusammen mit der früheren Klägerin zu 2. das Zugriffsrecht auf den Vorsitz im Bauausschuss des Beklagten zu, und sie haben das Recht zur Benennung der Vorsitzenden des Bauausschusses am 21.12.2004 wirksam ausgeübt.

Der Listenverbindung aus der Klägerin zu 1. und der ehemaligen Klägerin zu 2. stand - wie zwischen den Beteiligten im Ergebnis unstreitig ist - ursprünglich das Recht zu, den Zugriff auf den Vorsitz im Bauausschuss zu nehmen und den Vorsitzenden zu bestimmen. Für den hier gegebenen Fall fehlender Einigung der Fraktionen über die Verteilung der Ausschussvorsitze regelt § 41 Abs. 7 Satz 2 bis 4 KrO NRW, dass den Fraktionen die Ausschussvorsitze in der Reihenfolge der Höchstzahlen zugeteilt werden, die sich durch Teilung der Mitgliederzahlen der Fraktionen durch 1, 2, 3, usw. ergeben; mehrere Fraktionen können sich zusammenschließen. Bei gleichen Höchstzahlen entscheidet das Los, das der Landrat zu ziehen hat. Die Fraktionen benennen die Ausschüsse, deren Vorsitz sie beanspruchen, in der Reihenfolge der Höchstzahlen und bestimmen die Vorsitzenden.

Daraus ergibt sich, dass die Klägerinnen das Recht des Zugriffs auf den achten Ausschussvorsitz hatten. Dabei kommt es nicht darauf an, dass zuvor eine Wahl zwischen den beiden Listen stattgefunden hat. Eine solche sieht das Gesetz zwar nicht vor, vielmehr bestimmt sich das Zugriffsrecht ohne Wahl nach den Mitgliederzahlen der Fraktionen. Dem entsprach aber das Wahlergebnis. Selbst wenn für die Liste 1 statt 48 Personen nur 47 anzusetzen gewesen wären, weil ein fraktionsloses Mitglied sich der Liste 1 angeschlossen hatte, hätte der Liste 2 - allerdings ohne Losziehung - der Zugriff auf den achten Ausschussvorsitz zugestanden.

Entgegen der Auffassung des Beklagten haben die Klägerinnen das Zugriffs- und Bestimmungsrecht in der Kreistagssitzung vom 3.11.2004 nicht verloren. Die Ausgestaltung des Zugriffs- und Bestimmungsverfahrens im Einzelnen ist Gegenstand der Organisationshoheit des Kreises als Teil des kommunalen Selbstverwaltungsrechts (Art. 78 Abs. 1 der Verfassung für das Land Nordhrein-Westfalen, § 1 Abs. 1 KrO NRW) und liegt daher in seinem Ermessen, soweit es nicht durch gesetzliche Vorgaben beschränkt ist. Allerdings setzt eine solche Einschränkung des gewährten kommunalen Selbstverwaltungsrechts eine hinreichend eindeutige gesetzliche Regelung voraus.

Vgl. OVG NRW, Urteile vom 28.6.2005 - 15 A 4221/03 -, NWVBl. 2006, 30 (31), und vom 30.3.2004 - 15 A 2360/02 -, NWVBl. 2004, 378 (380).

Eine solche gesetzliche Vorgabe besteht für das Zugriffs- und Bestimmungsverfahren über die rudimentäre Regelung des § 41 Abs. 7 Satz 2 bis 4 Kreisordnung NRW hinaus nicht. Daher ist die Entscheidung des Beklagten, zuerst die Ausschüsse zu besetzen und erst anschließend die Ausschussvorsitze zu verteilen, grundsätzlich rechtlich unbedenklich.

Vgl. Kirchhof/Plückhahn, in: Held u. a., Kommunalverfassungsrecht Nordrhein-Westfalen, Loseblattsammlung (Stand: Februar 2008), § 58 GO Anm. 9.3. und § 41 KrO Anm. 11.1, dort jedoch als unzweckmäßig bezeichnet.

Allerdings ist das so eingeräumte Ermessen zur Gestaltung des Verfahrens der Ausschussvorsitzverteilung nicht völlig frei, vielmehr muss es pflichtgemäß unter Beachtung namentlich rechtsstaatlicher Grundsätze ausgeübt werden.

Vgl. dazu, dass rechtsstaatliche Grundsätze - im Gegensatz zu Grundrechten - auch im hoheitlichen Staatsaufbau Geltung beanspruchen, BVerfG, Beschluss vom 2.5.1967 - 1 BvR 578/63 -, BVerfGE 21, 362 (372).

Zu diesen rechtsstaatlichen Grundsätzen zählt das Gebot fairer Verfahrensgestaltung.

Vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 18.1.2000 - 1 BvR 321/96 -, BVerfGE 101, 397 (405), und vom 26.5.1981 - 2 BvR 215/81 -, BVerfGE 57, 250 (275 f.); BVerwG, Beschluss vom 31.8.2000 - 11 B 30.00 -, NVWZ 2001, 94 (95); Urteil vom 11.11.1998 - 6 C 8.97 -, BVerwGE 107, 363 (368 f.); Beschluss vom 10.5.1996 - 7 B 74.96 -, Buchholz 428 § 28 VermG Nr. 4, Seite 4; Urteil vom 5.12.1986 - 4 C 13.85 -, BVerwGE 75, 214 (230); Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band 1, 2. Auflage, S. 824 f.; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG Band 2, 2. Auflage, Artikel 20 (Rechtsstaat) Rn. 207 ff.; Schmitz, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 7. Auflage, § 9 Rn. 60.

Allerdings enthält das Recht auf ein faires Verfahren keine in allen Einzelheiten bestimmten Gebote und Verbote. Es bedarf der Konkretisierung je nach den sachlichen Gegebenheiten. Erst wenn sich unzweideutig ergibt, dass rechtsstaatlich unverzichtbare Erfordernisse nicht mehr gewahrt sind, können aus dem Prinzip selbst konkrete Folgerungen für die Verfahrensgestaltung gezogen werden.

Vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 3.6.1992 - 2 BvR 1041/88, 78/89 -, BVerfGE 86, 288 (317 f.), und vom 12.1.1983 - 2 BvR 864/81 -, BVerfGE 63, 45 (61).

Für die Ausgestaltung des hier in Rede stehenden Verfahrens zur Besetzung der Ausschussvorsitze bedeutet das: Die Vorgehensweise des Beklagten musste sich daran orientieren, den Fraktionen und insbesondere den Minderheitsfraktionen, die durch das Zugriffsverfahren des § 41 Abs. 7 Satz 2 bis 4 KrO NRW vor einer Besetzung aller Ausschussvorsitze durch eine bestimmte Mehrheit im Kreistag geschützt werden sollen, die Möglichkeit zu eröffnen, einen ihnen zustehenden Ausschussvorsitz auch tatsächlich zu besetzen. Das Gesetz gibt als Grundsatz vor, dass die Ausschussvorsitze entsprechend den Stärkeverhältnissen der Fraktionen auf diese verteilt werden, wobei Zusammenschlüsse zur Verstärkung des Gewichts zulässig sind. Der - ebenfalls dem Rechtsstaatsprinzip immanente - Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung,

vgl. BVerfG, Beschluss vom 4.2.1975 - 2 BvL 5/74 , BVerfGE 38, 348 (368),

gebot es hier in Verbindung mit dem Prinzip fairer Verfahrensgestaltung, das Ermessen bei der Ausgestaltung des Besetzungsverfahrens an der Erreichung des gesetzlichen Ziels der Ausschussverteilung an die Fraktionen nach deren Stärke zu orientieren.

Vgl. zur Orientierung der Verwaltung am Gesetz als Ausfluss des Prinzips der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung Schulze-Fielitz, a.a.O., Art. 20 (Rechtsstaat), Rn. 92.

Dem wird die gewählte Verfahrensweise nicht gerecht. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass zuerst die Ausschüsse besetzt und sodann die Ausschussvorsitze verteilt wurden. Dabei wurde der Zugriff für die Klägerinnen lediglich auf einen Ausschuss eröffnet, in dem sie nicht durch Kreistagsmitglieder vertreten waren. Schließlich wurde der Klägerin zu 1. keine Gelegenheit eingeräumt, den Ausschuss neu zu besetzen, damit sie ein Kreistagsmitglied in ihn entsenden konnte, das den Ausschussvorsitz übernehmen durfte. Mit dieser unsachgemäßen, die Minderheit benachteiligenden Verfahrensgestaltung würde, wenn sie zum Ziele führte, ohne rechtfertigenden Grund die Erreichung des gesetzlichen Ziels verhindert, dass die Klägerinnen den ihnen zustehenden Ausschussvorsitz bestimmen konnten.

Welche faire Verfahrensgestaltung zur Sicherstellung des gesetzlichen Ziels der Beklagte hätte wählen können, lag in seinem Ermessen: Er hätte zuerst die Ausschussvorsitze verteilen und danach erst die Ausschüsse besetzen können; er hätte eine Absprache zwischen den Listen über die Reihenfolge der Ausschüsse beim Zugriffsverfahren vornehmen lassen können; er hätte auch den Klägerinnen einräumen können, den Ausschussvorsitzenden erst in der nächsten Kreistagssitzung zu bestimmen. Allerdings standen auch die Klägerinnen unter dem Gebot sachgerechter Ausübung ihrer Verfahrensrechte, das es ihnen untersagt hätte, das Bestimmungsrecht ohne sachlichen Grund zu verzögern. Dagegen haben die Klägerinnen aber nicht verstoßen, vielmehr haben sie sofort versucht und in der nächsten Kreistagssitzung auch erreicht, dass die von ihnen als Vorsitzende ins Auge gefasste Person in den Ausschuss nachrückte.

Aus der Rechtwidrigkeit der gewählten Verfahrensgestaltung und dem Umstand, dass die Klägerinnen das Besetzungsverfahren nicht verzögert haben, folgt, dass die Klägerinnen ihr Zugriffsrecht am 3.11.2004 allein wegen der zum damaligen Zeitpunkt unwirksamen Benennung des Kreistagsmitglieds D. als Ausschussvorsitzende nicht verloren haben. Daraus folgt weiter, dass der Zugriff der Liste 1 auf den Bauausschussvorsitz unwirksam war. Vielmehr konnten die Klägerinnen den personell noch vakanten Ausschussvorsitz am 21.12.2004, nachdem das Kreistagsmitglied D. Mitglied des Bauausschusses geworden war, wirksam besetzen.

Die gegen diese Rechtslage erhobenen Einwände des Beklagten führen zu keinem anderen Ergebnis: Den Klägerinnen kann nicht vorgehalten werden, sie hätten ein Vorziehen der Verteilung der Ausschussvorsitze vor die Besetzung der Ausschüsse beantragen müssen. Die Pflicht zur rechtsstaatlichen Verfahrensgestaltung oblag dem Beklagten. Allerdings ergibt sich aus dem auf das Verhältnis zwischen kommunalen Organen und Organteilen übertragbaren Grundsatz der Organtreue, dass die Klägerinnen eine Obliegenheit traf, Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit der Verfahrensgestaltung in der verfahrensrechtlich gebotenen Form geltend zu machen. Wird diese Obliegenheit verletzt, so ist die spätere Geltendmachung der Rechtsverletzung treuwidrig und deshalb unzulässig.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 2.5.2006 - 15 A 817/04 -, EildStNRW 2007, 132 (135).

Eine solche Obliegenheit traf die Klägerinnen nicht hinsichtlich der Frage, ob zuerst die Ausschüsse besetzt und dann die Ausschussvorsitze verteilt werden sollten, oder ob dies umgekehrt geschehen sollte. Wie oben ausgeführt, wäre auch bei der vom Beklagten gewählten Reihenfolge eine rechtsstaatlich unbedenkliche Verfahrensweise möglich gewesen, so dass die Klägerinnen keinen Anlass hatten, dagegen Bedenken zu erheben. Die Rechtsverletzung trat erst ein, als der Landrat, nachdem die Klägerinnen unwirksam auf den Bauausschuss zugegriffen hatten, das Zugriffsrecht der Liste 1 zuteilte und diese die Bestimmung vornahm. Dagegen haben die Klägerinnen sogleich Einwendungen erhoben.

Schließlich führt auch der Einwand, dass die Ausschüsse sofort funktionsfähig sein müssten und daher eine Verschiebung der Bestimmung der Ausschussvorsitze nicht verlangt werden könne, nicht weiter. Zwar ist die Herstellung der sofortigen Funktionsfähigkeit der Ausschüsse durch schnelle Besetzung der Vorsitze ein legitimer Gesichtspunkt für die Ausgestaltung des Zugriffs- und Bestimmungsverfahrens. Deshalb hätten auch die Klägerinnen das Zugriffsrecht verloren, wenn sie die Ausübung ihres Rechts ohne sachlichen Grund verzögert hätten. Das ist aber nicht geschehen: Die Klägerinnen haben für die nächste Kreistagssitzung den Austausch des bisherigen Mitgliedes gegen die vorgesehene Vorsitzende in die Wege geleitet und auch erreicht. Hätte der Beklagte dem Gesichtspunkt sofortiger Bestimmung der Vorsitzenden maßgebliche Bedeutung einräumen wollen, hätte er das Zugriffsverfahren so gestalten müssen, dass eine Bestimmung der Ausschussvorsitzenden durch alle dazu berufenen Fraktionen noch in der Sitzung am 3. November 2004 möglich war, etwa durch eine andere Reihenfolge von Ausschussbesetzung und Vorsitzverteilung oder durch Herbeiführung einer Absprache über die Reihenfolge der Verteilung der Vorsitze. Der Gesichtspunkt der Sicherstellung der sofortigen Funktionsfähigkeit der Ausschüsse ist daher nicht geeignet, die gewählte rechtwidrige Verfahrensart des Beklagten zu rechtfertigen.



Ende der Entscheidung

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