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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Urteil verkündet am 08.11.2007
Aktenzeichen: 16 A 292/05
Rechtsgebiete: GHBG NRW, SGB X


Vorschriften:

GHBG NRW § 1
GHBG NRW § 7
SGB X § 44 Abs. 1
§ 44 Abs. 1 SGB X ist im Recht der Blinden- und Gehörlosenhilfe nach dem Gesetz über die Hilfen für Blinde und Gehörlose NRW anwendbar.
Tatbestand:

Der Kläger erlitt im August 1996 bei einem Unfall schwere Schädel- und Gesichtsverletzungen, die eine Erblindung des rechten Auges zur Folge hatten, während auf dem linken Auge zunächst noch ein stark gemindertes Sehvermögen verblieb. Seit dem 1.9.1999 gewährt der Beklagte dem Kläger Blindengeld in gesetzlicher Höhe. Der vorliegende Rechtsstreit betrifft die Frage, ob der Kläger auch schon für die Zeit vom 1.10.1998 bis zum 31.8.1999 Blindengeld beanspruchen kann, obwohl dies vom Beklagten wegen einer hinsichtlich des Merkmals "Bl" (Blindheit) negativen versorgungsamtlichen Feststellungen bestandskräftig abgelehnt worden war und erst anschließend das Versorgungsamt dem Käger rückwirkend zum 1.10.1988 das Merkzeichen "Bl" zuerkannt hatte.

Das VG wies die Klage ab. Die vom VG zugelassene Berufung des Klägers war erfolgreich.

Gründe:

Der Kläger hat gegen den Beklagten einen Anspruch auf Rücknahme des bestandskräftigen Versagungsbescheides vom 8.10.1998 und des Widerspruchsbescheides vom 24.11.1999 sowie auf Gewährung von Blindengeld in gesetzlicher Höhe für die Zeit vom 1.10.1998 bis zum 31.8.1999.

Rechtsgrundlage für den Rücknahmeanspruch des Klägers ist - in entsprechender Anwendung - § 44 Abs. 1 SGB X. Danach ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem sich als unrichtig erweisenden Sachverhalt ausgegangen worden ist und soweit deshalb - unter anderem - Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Diese Vorschrift gilt auch für das Recht der Leistungen nach dem nordrhein-westfälischen Gesetz über die Hilfen für Blinde und Gehörlose (GHBG NRW) vom 25.11.1997 (GV. NRW. S. 430, 436), und ihre Voraussetzungen sind gegeben.

Die grundsätzliche Anwendbarkeit des Sozialgesetzbuchs im Recht der Blinden- und Gehörlosenhilfe folgt aus § 7 GHBG NRW. Dort ist bestimmt, dass "im übrigen" die Vorschriften des Sozialgesetzbuchs (SGB) entsprechend gelten. Diese Verweisung bezieht sich gemäß der Überschrift ("Verfahrensvorschriften, Zuständigkeit") des 4. Teils (§§ 6 bis 8) des Gesetzes über die Hilfen für Blinde und Gehörlose NRW auf das Erste (Allgemeiner Teil) und Zehnte Buch (Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz, Zusammenarbeit der Leistungsträger und ihre Beziehungen zu Dritten) des Sozialgesetzbuches, soweit darin Regelungen über das Verwaltungsverfahren getroffen sind. Durch § 7 GHBG NRW ist auch klargestellt, dass diejenigen Vorschriften des Sozialgesetzbuches I und X, die wie § 44 Abs. 1 SGB X unmittelbar Sozialleistungen bzw. Verwaltungsakte über Sozialleistungen zum Gegenstand haben, im Blinden- und Gehörlosenrecht unabhängig von der Frage Anwendung finden, ob die im Gesetz über die Hilfen für Blinde und Gehörlose NRW geregelten Hilfen unter den Begriff der Sozialleistung im Sinne des Sozialgesetzbuchs fallen.

Zum (verneinten) Sozialleistungscharakter landesrechtlicher Bestimmungen mit sozialer Zielsetzung (Pflegewohngeld nach dem Landespflegegesetz) vgl. schon OVG NRW, Urteil vom 22.8.2007 - 16 A 2203/05 -, juris; vgl. auch im Hinblick auf die Anwendung der §§ 103 und 107 SGB X auf das landesrechtliche Blindengeld in Sachsen-Anhalt BSG, Urteil vom 11.11.2004 - B 9 VG 2/04 R -, BSGE 93, 290 = FEVS 57, 145.

Denn da die materiellen Regelungen über die Hilfen für Blinde (§§ 1 bis 3 GHBG), hochgradig Sehbehinderte (§ 4 GHBG NRW) und Gehörlose (§ 5 GHBG NRW) den wesentlichen Inhalt des Gesetzes über die Hilfen für Blinde und Gehörlose NRW ausmachen, kann die durch § 7 GHBG NRW angeordnete Verweisung auf die Verfahrensvorschriften des Sozialgesetzbuchs nur bedeuten, dass die Bestimmungen des Sozialgesetzbuchs I und X über das Verfahren bei der Gewährung - und auch der Rückabwicklung - von Sozialleistungen auch für die Gewährung und gegebenenfalls Rückabwicklung von Hilfen nach dem Gesetz über die Hilfen für Blinde und Gehörlose NRW entsprechend gelten.

Da gemäß § 7 GHBG NRW das Verfahrensrecht des Sozialgesetzbuchs nur "im übrigen" entsprechend gilt, das heißt soweit sich aus dem GHBG NRW selbst nichts Abweichendes ergibt, hängt die Anwendbarkeit des § 44 Abs. 1 SGB X davon ab, ob den sonstigen Regelungen des Gesetzes über die Hilfen für Blinde und Gehörlose NRW eine abweichende Regelung oder ein entgegenstehendes übergreifendes Strukturprinzip entnommen werden kann. Das ist zu verneinen. Die durch § 44 Abs. 1 SGB X letztlich ermöglichte und intendierte nachträgliche Gewährung von zuvor rechtswidrig abgelehnten Leistungen ist im Recht der Blinden- und Gehörlosenhilfe zunächst nicht dadurch in Frage gestellt, dass § 6 Abs. 1 GHBG NRW Leistungen nach diesem Gesetz von einem Antrag abhängig macht, denn hier - und generell in den von § 44 Abs. 1 SGB X erfassten Fällen - hat der rechtswidrigerweise abgelehnten Hilfegewährung ein Antrag zugrunde gelegen.

Das vom Beklagten ins Feld geführte Strukturprinzip, nach dem Hilfe grundsätzlich nicht nach einer Deckung des in Rede stehenden Bedarfs bzw. - bei zeitabschnittsweise zu gewährender Hilfe - nach dem Ablauf des jeweiligen Zeitraums gewährt werden kann ("keine Hilfe für die Vergangenheit"), ist für das Recht der Blinden- und Gehörlosenhilfe nach dem Gesetz über die Hilfen für Blinde und Gehörlose NRW - anders als zumindest im Grundsatz in der Sozialhilfe, vgl. BVerwG, Urteile vom 30.4.1992 - 5 C 12.87 -, BVerwGE 90, 154 = FEVS 43, 59, und - 5 C 26.88 -, BVerwGE 90, 160 = FEVS 43, 95, vom 23.6.1994 - 5 C 26.92 -, BVerwGE 96, 152 = FEVS 45, 138, und vom 13.11.2003 - 5 C 26.02 -, FEVS 55, 320 = NVwZ 2004, 1002; zum Ganzen eingehend: Rothkegel, Die Strukturprinzipien des Sozialhilferechts, S. 66 bis 85, und Grieger, NWVBl. 1995, 201, nicht anwendbar. Allerdings war für das frühere Landesblindengeldrecht die Anwendung des Grundsatzes "keine Hilfe für die Vergangenheit" anerkannt.

OVG NRW, Urteile vom 25.1.1973 - VIII A 857/71 -, und vom 20.12.1979 - VIII A 2000/76 -, insoweit nicht veröffentlicht in FEVS 29, 329.

Diese Rechtsprechung, die für das frühere Blindenhilferecht eine rückwirkende Leistungsbewilligung grundsätzlich ausschloss, beruhte wesentlich auf der Annahme, dass das landesrechtlich geregelte Blindengeld wie auch die Sozialhilfe eine auf die Bewältigung einer konkreten, sofortige Hilfe erfordernden Notlage ausgerichtete Fürsorgeleistung sei. Dieser Gegenwartsbezug der Hilfe schließe es aus, Blindenhilfe gleichsam kompensatorisch für eine in der Vergangenheit liegende und damit bereits überwundene Bedarfszeit zu gewähren.

Gegen diese Sichtweise spricht für das seit dem 1.1.1998 geltende Gesetz über die Hilfen für Blinde und Gehörlose NRW mit entscheidendem Gewicht, dass ihm nicht entnommen werden kann, es handele sich bei den dort geregelten Hilfen um fürsorgerische Leistungen zur Abwendung konkreter Notlagen. Vielmehr hat die Blindenhilfe jedenfalls in der Ausgestaltung durch das Gesetz über die Hilfen für Blinde und Gehörlose NRW weithin den Charakter einer Versorgungsleistung bzw. eines Nachteilsausgleichs für den von einem besonders schweren Schicksal betroffenen Personenkreis der Blinden.

Ebenso für das hessische Landesblindenrecht: BVerwG, Urteil vom 14.11.2002 - 5 C 37.01 -, BVerwGE 117, 172 = NVwZ-RR 2003, 506; vgl. auch LSG Bad.-Württ., Urteil vom 21.9.2006 - L 7 SO 5514/05 -, FEVS 58, 389 = ZFSH/SGB 2007, 103.

Diese Bewertung ist vielfach schon für das Blindengeld nach § 67 BSHG (nunmehr § 72 SGB XII) in Betracht gezogen worden, und zwar wegen der ohne konkreten Nachweis zugrundezulegenden Annahme eines blindheitsbedingt erhöhten finanziellen Bedarfs, wegen dessen Pauschalierung und wegen der relativ hoch bemessenen Einkommensgrenze (§ 81 Abs. 1 BSHG).

Vgl. BVerwG, Urteil vom 4.11.1976 - V C 7.76 -, BVerwGE 51, 281 = FEVS 25, 1; ähnlich LSG Bad.-Württ., Urteil vom 21.9.2006 - L 7 SO 5514/05 -, a.a.O.; W. und H. Schellhorn, BSHG, Kommentar, 16. Auflage, § 67 Rn. 2.

Erst Recht bestehen durchgreifende Zweifel am Fürsorgecharakter der landesrechtlichen Blindenhilfebestimmungen, die sich zwar hinsichtlich der grundlegenden Anspruchsvoraussetzungen und des Umfangs der Hilfen weitgehend an § 67 BSHG anlehnen, aber infolge des vollständigen Wegfalls einer Einkommens- und Vermögensanrechnung den Anwendungsbereich der Blindenhilfe in einer Weise ausgeweitet haben, die mit dem Charakter einer Hilfe für eine akute, sofortige Leistungen erfordernde Notlage nur noch schwerlich vereinbart werden kann.

W. und H. Schellhorn, a.a.O.; Meusinger, in: Fichtner (Hrsg.), BSHG, Kommentar, § 67 Rn. 9; dahin tendierend, aber letztlich offengelassen in BVerwG, Urteil vom 6.9.1979 - 5 C 8.78 -, BVerwGE 58, 265; vgl. auch BGH, Urteil vom 24.9.1987 - III ZR 49/86 -, NJW 1988, 819 = ZfSH/SGB 1988, 141; anders etwa VGH Bad.-Württ., Urteil vom 20.2.1998 - 6 S 1090/96 -, FEVS 48, 516, das von einer "besondere[n] (landesrechtliche[n]) Form der Sozialhilfe" spricht.

Denn derjenige Blinde, der in guten Einkommensverhältnissen lebt, wird die vermehrten finanziellen Bedürfnisse, die auf seiner Erblindung beruhen, ohne Weiteres (zunächst) aus seinem Einkommen bestreiten können, so dass eine Notlage, die nur durch eine sofortige Hilfegewährung bewältigt werden kann, schon aus diesem Grund typischerweise nicht eintreten wird. Wenn das Gesetz über die Hilfen für Blinde und Gehörlose NRW wie auch - soweit ersichtlich - die anderen landesrechtlichen Blindengeldbestimmungen den Hilfeanspruch unabhängig von der im Übrigen bestehenden wirtschaftlichen Lage des Blinden gewähren, führt das zu der Schlussfolgerung, dass der Gegenwartsbezug der Hilfeverbürgung in den Hintergrund und stattdessen der Gedanke eines versorgungsartigen Nachteilsausgleichs in den Vordergrund tritt. Ein derartiger Nachteilsausgleich kann aber auch nachträglich ermöglicht werden. Hinzu kommt, dass der Anspruch auf Blindengeld nicht vom Nachweis eines konkreten Bedarfs abhängt. Es entspräche daher durchaus den mit der Gewährung des Blindengeldes verfolgten Intentionen, wenn diese Hilfe statt oder neben der Befriedigung laufender blindheitsbedingter Bedürfnisse beispielsweise auch für höherwertige Anschaffungen - etwa spezielle Hilfsmittel - angespart und schließlich verwendet wird. Dass insoweit auch eine rückwirkend geleistete Hilfe nachteilsausgleichend eingesetzt werden kann, liegt auf der Hand.

Auch die eine Anspruchsminderung (§ 2 Abs. 2 GHBG NRW für Einrichtungsbewohner) bzw. eine Anrechnung anderweitiger Hilfeleistungen (§ 3 GHBG NRW) vorsehenden Bestimmungen des nordrhein-westfälischen Blinden- und Gehörlosenhilferechts geben keinen hinreichenden Anlass zu der Annahme, das Blindengeld sei eine bedarfsorientierte und mit der Sozialhilfe strukturell verwandte Fürsorgeleistung. Wenngleich den genannten Anrechnungsvorschriften entnommen werden kann, dass bestimmte anderweitige Leistungen, etwa solche der Pflegeversicherung (§ 3 Abs. 2 und 3 GHBG NRW), auf einen Bedarf bezogen sind, der - wie die teilweise Anrechnung verdeutlicht - auch vom Blindengeld abgedeckt ist, verbleibt es doch dabei, dass § 1 Abs. 1 GHBG NRW lediglich einen als gegeben vorausgesetzten, pauschalen Bedarf des blinden Menschen berücksichtigt, der durch die genannten Minderungs- und Anrechnungsvorschriften in den dort geregelten Fällen - gleichfalls pauschalierend und in praktisch bedeutsameren Fällen auch nur teilweise - als gedeckt betrachtet wird.

Des weiteren ist nichts dafür ersichtlich, dass wegen der Anrechnungsmöglichkeit nach § 3 GHBG NRW eine rückwirkende Bewilligung von Blindengeld deshalb auszuscheiden habe, weil ansonsten die - gleichfalls vergangenheitsbezogene - Anrechnung nicht realisiert werden könnte. Die Bestimmungen des Gesetzes über die Hilfen für Blinde und Gehörlose NRW, insbesondere § 3, geben für eine derartige Beschränkung des Leistungsanspruchs nichts her, so dass alles dafür spricht, dass der Gesetzgeber diesen - in der Praxis vermutlich eher fernliegenden - Fall nicht bedacht hat. In aller Regel dürften zu einem Zeitpunkt, zu dem über eine rückwirkende Blindengeldgewährung zu entscheiden ist, auch die gegebenenfalls anzurechnenden Leistungen bereits erbracht worden sein, so dass diese ohne Weiteres im Rahmen der Bewilligungsentscheidung berücksichtigt werden können. Im Übrigen kommt in Betracht, die Erstattungsregelung des § 103 SGB X anzuwenden.

So BSG, Urteil vom 11.11.2004 - B 9 VG 2/04 R -, BSGE 93, 290 = FEVS 57, 145.

Schließlich spricht viel dafür, dass schon bei der Schaffung des Landesblindengeldgesetzes vom 16.6.1970 (GV. NRW. S. 435), der Vorläuferregelung zum Gesetz über die Hilfen für Blinde und Gehörlose NRW, eine Gesetzesfassung angestrebt worden ist, die "deutlich die Züge und die Systematik eines versorgungsrechtlichen Gesetzes tragen" sollte, weil anderenfalls, das heißt bei einer fürsorgerechtlichen Ausgestaltung des Landesblindengesetzes, unter dem Gesichtspunkt der Gesetzgebungskompetenz des Landes Bedenken bestünden.

Vgl. die Rede des damaligen nordrhein-westfälischen Arbeits- und Sozialministers Figgen im Landtag (Plenarprotokolle des Landtags Nordrhein-Westfalen, 6. Wahlperiode, Band 4, 73. Sitzung vom 21.4.1970, S. 3163 D).

Diesen Bedenken, die sich insbesondere auf § 6 des ursprünglichen Gesetzentwurfs bezogen, ist bei den nachfolgenden Ausschussberatungen und im weiteren Gesetzgebungsverfahren Rechnung getragen worden.

Vgl. zum kompetenzrechtlichen Ansatz nunmehr auch BVerwG, Urteil vom 14.11.2002 - 5 C 37.01 -, a.a.O.

Ob trotz der nach alledem unverkennbaren versorgungsrechtlichen Züge des GHBG für andere Zusammenhänge die aus dem Gesetz über die Hilfen für Blinde und Gehörlose NRW abzuleitenden Strukturprinzipien mit denen des Sozialhilferechts übereinstimmen und daher eine gleiche oder ähnliche Rechtsanwendung wie im Sozialhilferecht stattzufinden hat, bedarf keiner Entscheidung. Jedenfalls für die hier in Rede stehende Frage der Anwendung des § 44 Abs. 1 SGB X ist aber nach dem Vorstehenden für die Heranziehung sozialhilferechtlicher Grundsätze kein Raum.

Es bedarf daher keiner vertiefenden Prüfung, ob selbst im Falle der grundsätzlichen Geltung des Prinzips "keine Hilfe für die Vergangenheit" ein Ausnahmetatbestand angenommen werden könnte. Ausnahmen vom Erfordernis eines noch in der Gegenwart fortbestehenden Bedarfs sind in der Rechtsprechung des BVerwG für zwei Fallgruppen anerkannt worden, zum einen für Eilfälle um der Effektivität der gesetzlichen Leistungsverbürgung willen und zum anderen für den Fall der Einlegung von Rechtsbehelfen um der Effektivität des Rechtsschutzes auf Sozialhilfe willen.

Vgl. BVerwG, Urteile vom 30.4.1992 - 5 C 12.87 und 5 C 26.88 - sowie vom 23.6.1994 - 5 C 26.92 -, jeweils a.a.O.

Diesen Ausnahmetatbeständen könnte unter wertendem Gesichtspunkt der hier gegebene Fall gleichzuerachten sein, in dem die Entscheidung des Leistungsträgers über die Hilfegewährung zwingend an die Statusentscheidung einer anderen Behörde gebunden ist, vgl. hierzu BVerwG, Urteile vom 11.7.1985 - 7 C 44,83 -, BVerwGE 72, 8, und vom 27.2.1992 - 5 C 48.88 -, BVerwGE 90, 65 = NVwZ 1993, 586; OVG NRW, Urteil vom 8.9.1992 - 8 A 422/89 - und Beschluss vom 21.9.2001 - 16 A 3524/01 -, diese andere Behörde aber befugt ist, ihre Statusentscheidung rückwirkend zu ändern, und dies auch getan hat.

Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 44 Abs. 1 SGB X sind gegeben. Nach dem Erlass des Bescheides des Versorgungsamts vom 21.1.2002 stand mit bindender Wirkung auch für den Beklagten fest, dass beim Kläger bereits seit dem 1.11.1998 das anspruchsbegründende Merkmal der Blindheit i.S.v. § 1 Abs. 1 GHBG NRW und nicht, wie auf der Grundlage der vorangegangenen Bescheide des Versorgungsamts angenommen, lediglich eine hochgradige Sehbehinderung i.S.v. § 4 Abs. 2 GHBG NRW vorgelegen hat. Daher hat der Beklagte dem Kläger für die elf Monate vom 1.10.1998 bis zum 31.8.1999 objektiv zu Unrecht lediglich eine Hilfe für hochgradig Sehbehinderte in Höhe von monatlich 150 DM bzw. 76,70 Euro und nicht stattdessen das deutlich höhere Blindengeld zuerkannt. Die Entscheidung des Beklagten beruhte zwar auf einer ihn bindenden Statusfeststellung des Versorgungsamtes. Nicht die Bindungswirkung ist jedoch die entscheidende Tatsache, sondern die mit Bindungswirkung getroffene Feststellung, dass der Kläger nicht blind sei. Dieser für die Entscheidung des Beklagten maßgebende Sachverhalt (vgl. § 1 Abs. 1 GHBG NRW) hat sich als unrichtig herausgestellt. Der Kläger war im maßgebenden Zeitraum blind; das steht auf der Grundlage der rückwirkend geänderten Statusfeststellung des Versorgungsamtes fest.

Sonstige Gründe, die dem Anspruch des Klägers auf Rücknahme der leistungsversagenden Bescheide des Beklagten entgegenstehen könnten, sind nicht ersichtlich. Insbesondere kann dem Kläger auch nicht die Frist des § 44 Abs. 4 SGB X entgegengehalten werden, da für den Beginn der Rückberechnung dieser Vierjahresfrist nicht auf den - noch in der Zukunft liegenden - Rücknahmezeitpunkt, sondern auf den Zeitpunkt der Beantragung der Rücknahme abzustellen ist (§ 44 Abs. 4 Satz 3 SGB X). Ein solcher Rücknahmeantrag ist sinngemäß in dem erneuten Antrag des Klägers auf Gewährung von Blindengeld vom 5. Februar 2002 zu sehen, da diese Gewährung zwingend die vorherige Rücknahme der leistungsversagenden Bescheide voraussetzte.

Der Kläger hat des Weiteren Anspruch auf die Gewährung von Blindengeld - abzüglich der ihm statt dessen gewährten Hilfe für hochgradig Sehbehinderte - für die Zeit vom 1.10.1998 bis zum 31.8.1999. Das Vorliegen der medizinischen Voraussetzung der Blindheit schon für diesen Zeitraum ergibt sich - wie schon dargelegt - aus der dahingehenden, für den Beklagten bindenden Statusfeststellung des Versorgungsamts vom 21.1.2002.

Ende der Entscheidung

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