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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Urteil verkündet am 05.09.2007
Aktenzeichen: 19 A 4074/06
Rechtsgebiete: SchulG NRW


Vorschriften:

SchulG NRW § 34 Abs. 5 Satz 2
Ein wichtiger Grund für eine Ausnahme von der Pflicht zum Besuch einer deutschen Schule im Sinne des § 34 Abs. 5 Satz 2 SchulG NRW ergibt sich nicht ohne Weiteres schon daraus, dass Eltern den Besuch einer solchen Schule durch ihr Kind aus Glaubens- oder Gewissensgründen ablehnen.
Tatbestand:

Die Tochter der Kläger besuchte nach dem Ende ihrer Grundschulzeit keine weiterführende Schule. Sie wird von den Klägern mit Unterstützung der staatlich nicht anerkannten Philadelphia-Schule zu Hause unterrichtet. Die Kläger beantragten die Befreiung ihrer Tochter von der Schulpflicht. Sie beriefen sich auf ihr Elternrecht und machten geltend, ein staatlicher Erziehungsauftrag bestehe nicht. Die Bildungsziele könnten sie ihrer Tochter selbst vermitteln. Zudem lehnten sie als Christen insbesondere die schulische Sexualerziehung und die Überbetonung der Evolutionstheorie gegenüber dem Schöpfungsglauben in der Schule ab. Der Beklagte lehnte eine Befreiung ab. Die Kläger zogen daraufhin mit ihrer Tochter nach Belgien. Ihre Klage, mit der sie zuletzt die Feststellung begehrten, dass sie nach Wiederbegründung eines Wohnsitzes im Bereich des Beklagten einen Anspruch auf Erteilung einer Ausnahme vom Besuch einer deutschen Schule haben, blieb in erster und zweiter Instanz erfolglos.

Gründe:

Der Senat lässt offen, ob die Klage angesichts fehlender substantiierter Angaben zu einer Rückkehr der Kläger in den Zuständigkeitsbereich des Beklagten schon unzulässig ist. Sie ist jedenfalls unbegründet. Die Kläger haben nach einer eventuellen Wiederbegründung ihres Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthaltes im Kreis E keinen Anspruch auf Erteilung einer Ausnahme vom Besuch einer deutschen Schule durch ihre Tochter für die Erfüllung der Schulpflicht.

Ihre Tochter unterliegt wieder der Schulpflicht gemäß § 34 Abs. 1 SchulG NRW, sobald die Kläger mit ihr ihren Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Nordrhein-Westfalen begründen. Die Schulpflicht wird gemäß § 34 Abs. 2 Satz 2 SchulG NRW durch den Besuch einer öffentlichen Schule oder einer Ersatzschule erfüllt. Sie wird nicht dadurch erfüllt, dass die Kläger ihre Tochter mit Unterstützung der Philadelphia-Schule e.V. freies christliches Heimschulwerk, zu Hause selbst unterrichten. Bei dem Heimunterricht handelt es sich nicht um eine Schule gemäß § 6 Abs. 1 SchulG NRW. Danach sind Schulen im Sinne dieses Gesetzes Bildungsstätten, die unabhängig vom Wechsel der Lehrerinnen und Lehrer sowie der Schülerinnen und Schüler nach Lehrplänen Unterricht in mehreren Fächern erteilen. Der Heimunterricht findet nicht unabhängig vom Wechsel der beteiligten Personen statt, sondern ist gerade auf das oder die betreffenden Kinder bezogen. Die Philadelphia-Schule e.V. ist ebenfalls keine Schule nach der Definition des § 6 Abs. 1 SchulG NRW. Sie führt selbst regelmäßig keinen Unterricht durch, sondern übernimmt die fachliche und pädagogische Betreuung des Heimunterrichts. Dort wird der Unterricht in der Regel von den Eltern, lehrfähigen Familienmitgliedern, Verwandten und Freunden mit praktischer Unterstützung durch die Philadelphia-Schule e.V. durchgeführt. Die Philadelphia-Schule e.V. ist auch nicht als Ersatzschule anerkannt.

Eine Ausnahme von der Schulpflicht ist im Schulgesetz NRW nicht vorgesehen. Für den Heimunterricht für ihre Tochter kommt aber grundsätzlich eine Ausnahme von der Verpflichtung zum Besuch einer deutschen Schule in Betracht. Nach § 34 Abs. 5 Satz 1 SchulG NRW ist die Schulpflicht grundsätzlich durch den Besuch einer deutschen Schule zu erfüllen. Nach § 34 Abs. 5 Satz 2 SchulG NRW ist eine Ausnahme bei Vorliegen eines wichtigen Grundes möglich, insbesondere dann, wenn die Schülerin oder der Schüler a) sich nur vorübergehend in Deutschland aufhält oder b) eine ausländische oder internationale Ergänzungsschule besucht, deren Eignung zur Erfüllung der Schulpflicht das Ministerium nach § 118 Abs. 3 SchulG NRW festgestellt hat. Über Ausnahmen gemäß Satz 2 Buchstabe a) entscheidet die Schulaufsichtsbehörde; in den Fällen des Satzes 2 Buchstabe b) ist der Schulbesuch der Schulaufsichtsbehörde durch den Schulträger anzuzeigen (§ 34 Abs. 5 Sätze 3 und 4 SchulG NRW). Ob danach der Beklagte überhaupt zuständig für die von den Klägern begehrte Ausnahme ist, kann dahinstehen. Die Kläger berufen sich jedenfalls ohne Erfolg auf einen wichtigen Grund.

Ein wichtiger Grund im Sinne von § 34 Abs. 5 Satz 2 SchulG NRW ist anzunehmen, wenn bei Abwägung des öffentlichen Interesses an der Erfüllung der Schulpflicht durch Besuch einer deutschen Schule mit dem Individualinteresse an einer Ausnahme hiervon es im Einzelfall nicht gerechtfertigt erscheint, dass die Schüler und ihre Eltern die für sie mit der Pflicht zum Besuch einer deutschen Schule verbundenen nachteiligen Folgen hinnehmen müssen, vgl. zu § 39 Abs. 3 Satz 1 SchulG: OVG NRW, Beschluss vom 15.8.2006 - 19 B 1256/06 -, m. w. N.

Die Kläger haben keine individuellen, ihre Tochter betreffenden Umstände dargelegt, die es gerade in ihrem konkreten Fall nicht gerechtfertigt erscheinen lassen, sie auf die Verpflichtung zum Besuch einer deutschen Schule zu verweisen. Solche überwiegenden Individualinteressen sind hier auch nicht sonst ersichtlich.

Soweit die Kläger sich allgemein mit der Pflicht zum Besuch einer öffentlichen Schule befassen und sich auf ihre Grundrechte aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1, Art. 4 Abs. 1 und 2 GG berufen, können sie nicht mit Erfolg einen wichtigen Grund im Sinne von § 34 Abs. 5 Satz 2 SchulG NRW geltend machen. Die Schulpflicht - und ihre Erfüllung durch den Besuch einer öffentlichen Schule - greift zwar in das Elternrecht der Kläger auf Erziehung ihres Kindes ein, verletzt dieses Grundrecht aber nicht. Aus dem Vortrag der Kläger ergibt sich auch keine Beeinträchtigung des Schutzbereichs des Grundrechts gemäß Art. 4 Abs. 1 und 2 GG; dieses Grundrecht wird auch nicht verletzt.

Das Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder wie auch das konfessionelle Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG i. V. m. Art. 4 Abs. 1 und 2 GG zur Kindererziehung in religiöser und weltanschaulicher Hinsicht sind zwar vorbehaltlos gewährleistet. Sie gelten aber nicht schrankenlos. Kollidierende Grundrechte Dritter und andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtswerte sind mit Rücksicht auf die Einheit der Verfassung und die von ihr geschützte gesamte Wertordnung imstande, sie zu begrenzen. Auftretende Konflikte sind über die Herstellung praktischer Konkordanz im Einzelfall zu lösen.

Vgl. nur BVerfG, Beschluss vom 26.5.1970 - 1 BvR 83, 244 und 345/69 -, BVerfGE 28, 243 (261).

Dementsprechend kann, entgegen der Ansicht der Kläger, der staatliche Bildungs- und Erziehungsauftrag aus Art. 7 Abs. 1 GG, bei dem es sich um einen mit Verfassungsrang ausgestatteten Rechtswert handelt, das Elternrecht beschränken. Art. 7 Abs. 1 GG ist kein Grundrecht, sondern eine Kompetenz- und Organisationsnorm, die aber auch materielle Gehalte hat. Sie weist dem Staat die Aufsicht über das gesamte Schulwesen zu. Unter "Aufsicht des Staates" ist hier nicht kontrollierende Fremdaufsicht im Sinne des Verwaltungsorganisationsrechts zu verstehen, sondern die Schulhoheit des Staates als historisch geprägter Begriff, der bereits in Art. 144 Satz 1 WRV enthalten war. Diese umfasst die organisatorische und inhaltliche Schulgestaltungsmacht, also die Gesamtheit der staatlichen Befugnisse zur Organisation, Leitung und Planung des Schulwesens. Dies beinhaltet auch einen eigenständigen staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag.

BVerfG, Urteil vom 6.12.1972 - 1 BvR 230/70, 1 BvR 95/1 -, BVerfGE 34, 165, juris, Rn. 78, 81; Jestaedt in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 6 Abs. 2 und 3, Rn. 336.

Dem steht nicht die Annahme der Kläger entgegen, der Staat habe keine Werte und könne keine Werte vermitteln, daher auch nicht erziehen. Erziehung ist als pädagogisches Handeln zu verstehen, das auf eine Beeinflussung der menschlichen Entwicklung, auf Haltung, Charakter, Eigenschaften und Einstellungen eines Menschen durch die Vermittlung von Werten und Handlungsanweisungen gerichtet ist.

Huber, Erziehungsauftrag und Erziehungsmaßstab der Schule im freiheitlichen Verfassungsstaat, BayVBl. 1994, 545 (545f), m. w. N.

Der Staat wird nicht selbst, sondern durch seine Organe pädagogisch tätig. Es kann aber die Vermittlung von Werten und Handlungsanweisungen, Haltungen und Charakteren staatlich verantwortet werden durch die Verfassung (vgl. z. B. Art. 7 LV NRW), Schulgesetze, Verwaltungsvorschriften und in diesem Sinn von staatlicher Erziehung gesprochen werden.

Huber, a. a. O., S. 546.

Der Staat verfügt auch über Werte. Das Grundgesetz ist nicht ein bloßes Organisationsstatut, sondern eine wertgebundene Grundordnung. Es enthält Grundentscheidungen für die Würde des Menschen, das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, das Demokratieprinzip, das Sozialstaatsprinzip und den Rechtsstaat. Vor diesem Hintergrund ist der Staat ermächtigt und verpflichtet, eine schulische Erziehung am Maßstab der Verfassung auszurichten und ihre Werte zu vermitteln, und in der pluralistischen Gesellschaft auf eine Integration in das Gemeinwesen hinzuwirken. Der staatliche Erziehungsauftrag besteht nicht um seiner selbst willen, sondern als dienende Schutzverpflichtung im Interesse anderer Grundentscheidungen der Verfassung.

BVerwG, Urteil vom 17.6.1998 - 6 C 11.97 -, BVerwGE 107, 75, juris, Rn. 31, Huber, a. a. O., S. 546.

Entgegen der Auffassung der Kläger ist der staatliche Erziehungsauftrag dem grundrechtlichen Elternrecht nicht prinzipiell nachrangig. Vielmehr sind staatlicher Erziehungsauftrag und Elternrecht, die beide Verfassungsrang haben, gleichgeordnet. Die Bildung der einen Persönlichkeit des Kindes ist eine gemeinsame Erziehungsaufgabe von Eltern und Schule, die diese in sinnvoll aufeinander bezogenen Zusammenwirken zu erfüllen.

BVerfG, Urteil vom 6.12.1972 - 1 BvR 230/70, 1 BvR 95/71 - BVerfGE 34, 165, juris, Rn. 81, und Beschluss vom 15.3.2007 - 1 BvR 2780/06 - DÖV 2007, 653 (654); OVG NRW, Urteil vom 12.7.1991 - 19 A 1706/90 - NVwZ 1992, 77 (78).

Dies führt entgegen der Auffassung der Kläger nicht dazu, dass das schulische Erziehungsrecht im Falle ihrer Tochter zurückstehen müsste und die Kläger eine Ausnahme von der Pflicht zum Besuch einer deutschen Schule zugunsten ihres Heimunterrichtes beanspruchen können. Diese Pflicht dient der Erfüllung des staatlichen Erziehungsauftrages. Dieser richtet sich auf die Vermittlung von Wissen wie auch auf die Heranbildung verantwortlicher Staatsbürger, die gleichberechtigt und dem Ganzen gegenüber verantwortungsbewusst an den demokratischen Prozessen in einer pluralistischen Gesellschaft sollen teilhaben können.

BVerfG, Beschlüsse vom 29.4.2003 - 1 BvR 436/03 -, NVwZ 2003, 1113 (1114), juris, Rn. 7, und vom 31.5.2006 - 2 BvR 1693/04 -, juris, Rn. 16.

Im Hinblick auf die gesellschaftliche Integration und den demokratischen Willensbildungsprozess ist es eine wichtige Aufgabe der Schule, den Dialog mit Andersdenkenden und -gläubigen im Sinne gelebter Toleranz einzuüben und zu praktizieren. Das Vorhandensein eines breiten Spektrums von Überzeugungen in einer Klassengemeinschaft kann die Fähigkeit aller Schüler zu Toleranz und Dialog als einer Grundvoraussetzung demokratischer Willensbildungsprozesse nachhaltig fördern.

Vgl. BVerfG, Beschluss vom 29.4.2003 - 1 BvR 436/03 -, NVwZ 2003, 1113-1114, juris, Rn. 8.

Ob dies im Heimunterricht für die Tochter ebenso möglich ist, ist fraglich. Die Fähigkeit zur Auseinandersetzung mit anderen und gegensätzlichen Meinungen und Standpunkten wird nur dadurch erlernt, dass man sich in die Auseinandersetzung begibt. Inwieweit dies im Heimunterricht erfolgt, ist offen. Anders als seinerzeit im Beschwerdeverfahren haben die Kläger im vorliegenden Verfahren keine aussagekräftigen Unterlagen über den Heimunterricht der Tochter vorgelegt. Das in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat und mit Schriftsatz der Prozessbevollmächtigten der Kläger vom 17.9.2007 geltend gemachte gute Abschneiden der Tochter bei einer staatlichen belgischen Prüfung gibt keine Veranlassung zu einer weiteren Sachverhaltsaufklärung. Über die Inhalte der Prüfung sind auch mit Schriftsatz vom 17.9.2007 keine näheren Angaben gemacht worden. Vor diesem Hintergrund ist der (schulische) Erziehungs- und Bildungsstand der Tochter völlig offen. Es bedarf deshalb auch keiner näheren Erörterung, ob die geltend gemachten außerschulischen Kontakte der Tochter insbesondere in erzieherischer Hinsicht geeignet sind, gemeinsames Lernen in der Schule zu ersetzen.

Auch soweit sich die Kläger auf einen durch den Schulbesuch ihrer Tochter entstehenden Gewissenskonflikt und auf Art. 4 Abs. 1 und 2 GG i. V. m. Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG berufen, folgt hieraus nicht ein wichtiger Grund für eine Ausnahme von der Pflicht zum Besuch einer deutschen Schule. Die Kläger haben bereits nicht konkret, substantiiert und objektiv nachvollziehbar dargelegt, dass sie durch verbindliche Ge- oder Verbote ihres Glaubens gehindert sind, der gesetzlichen Pflicht zu genügen, und dass sie in einen Gewissenskonflikt gestürzt würden, wenn sie entgegen den Ge- oder Verboten seines Glaubens die gesetzliche Pflicht erfüllen müssten.

Vgl. zu diesen Anforderungen und der Rechtmäßigkeit der Darlegungslast: BVerwG, Urteil vom 25.8.1993 - 6 C 8.91 -, DVBl 1994, 163, juris, Rn. 20; OVG NRW, Beschluss vom 27.6.2007 - 19 E 1/05 -; ferner BVerfG, Urteil vom 15.1.2002 - 1 BvR 1783/99 -, NJW 2002, 663, 666.

Ungeachtet dessen sind die Beeinträchtigungen ihres Elternrechts auf religiöse Kindererziehung und die Glaubens- und Gewissenskonflikte, die durch die Schulpflicht ihrer Tochter und ihren Besuch einer öffentlichen Schule für die Kläger entstünden, ihnen verfassungsrechtlich zumutbar. Sie werden abgemildert durch die staatlichen Pflichten zur Rücksichtnahme auf abweichende Überzeugungen und die Möglichkeit der Kläger, auf die Erziehung ihres Kindes innerhalb und insbesondere außerhalb der Schule Einfluss zu nehmen.

Vgl. BVerfG, Beschluss vom 29.4.2003 - 1 BvR 436/03 -, NVwZ 2003, 1113-1114, juris, Rn. 9.

Der Staat ist verpflichtet, in der Schule die Verantwortung der Eltern für den Gesamtplan der Erziehung ihrer Kinder zu achten und für die Vielfalt der Anschauungen in Erziehungsfragen soweit offen zu sein, als es sich mit einem geordneten staatlichen Schulsystem verträgt. Aufgrund der Vorschriften des Grundgesetzes in Art. 4, Art. 3 Abs. 3 und Art. 33 Abs. 3 Satz 2 muss er Neutralität und Toleranz gegenüber den erzieherischen und weltanschaulichen bzw. religiösen Vorstellungen der Eltern aufbringen. Der Staat darf keine gezielte Beeinflussung im Dienste einer bestimmten politischen, ideologischen oder weltanschaulichen Richtung betreiben; er darf sich auch nicht durch von ihm ausgehenden oder ihm zurechenbare Maßnahmen ausdrücklich oder konkludent mit einem bestimmten Glauben oder einer bestimmten Weltanschauung identifizieren und dadurch den religiösen Frieden in einer Gesellschaft von sich aus gefährden.

BVerfG, Beschlüsse vom 15.3.2007 - 1 BvR 2780/06 -, DÖV 2007, 653 (654), und vom 16.5.1995 - 1 BvR 1087/91 -, BVerfGE 93, 1 (16f), juris, Rn. 35, Urteil vom 6.12.1972 - 1 BvR 230/70, 1 BvR 95/71 -, BVerfGE 34, 165, juris, Rn. 82.

Zur Beachtung und Einhaltung dieser verfassungsrechtlichen Vorgaben hat der Landesgesetzgeber die Schulen wie auch die Lehrerinnen und Lehrer ausdrücklich verpflichtet (§§ 2, 57 Abs. 2 und 4 SchulG NRW und Allgemeine Dienstordnung für Lehrer und Lehrerinnen, Schulleiter und Schulleiterinnen an öffentlichen Schulen). Für die von den Klägern ohne nähere Begründung und pauschal abgelehnte schulische Sexualerziehung gelten darüber hinaus noch weitere ausdrückliche Regelungen, nämlich § 33 SchulG NRW und die "Richtlinien für die Sexualerziehung in Nordrhein-Westfalen" (Heft 5001 in der Schriftenreihe "Schule in NRW" gemäß dem Runderlass des Ministeriums für Schule und Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung vom 30.9.1999, ABl. Teil 1 Nr. 11/99). Diese sind rechtmäßig und verpflichten zur Einhaltung der verfassungsrechtlich gebotenen Schranken.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 5.9.2007 - 19 A 2705/06 -.

Soweit die Kläger einwenden, es sei offenkundig, dass in den allgemeinen Schulen im Wesentlichen keine Rücksicht auf abweichende religiöse Überzeugungen genommen werde, ist das in dieser Allgemeinheit nicht nachvollziehbar. Eine Rücksichtnahme auf die abweichende religiöse Überzeugung der Kläger kann allerdings angesichts des Neutralitätsgebotes nicht bedeuten, dass ihre Überzeugung und Weltanschauung in den Vordergrund gerückt wird und für die schulische Erziehung maßgeblich ist. Sollte es an einzelnen Schulen im Bereich des Beklagten solche Vollzugsdefizite geben, sind entsprechende schulaufsichtsrechtliche und disziplinarische bzw. arbeitsrechtliche Maßnahmen zu ergreifen. Ein Anspruch auf eine generelle Ausnahme von der Pflicht zum Besuch einer deutschen Schule für ihre Tochter kann hieraus nicht abgeleitet werden.

Das Recht der Kläger auf religiöse Kindererziehung wird auch nicht dadurch verletzt oder in einer eine Ausnahme rechtfertigenden Weise berührt, dass ihrer Tochter in der Schule die Evolutionstheorie vermittelt wird. Die von den Klägern kritisierte Überbetonung der Evolutionstheorie gegenüber dem Schöpfungsglauben lässt sich den Richtlinien und Lehrplänen für den Biologieunterricht nicht entnehmen. Danach wird die Evolutionstheorie erst am Ende der Sekundarstufe I in Klassenstufen 9 bzw. 10 als eines von mehreren Themen unterrichtet (vgl. bspw. Richtlinien und Lehrpläne für die Gesamtschule - Sekundarstufe I für den Lernbereich Naturwissenschaften, Heft 3108 in der Schriftenreihe "Schule in NRW" gemäß dem Runderlass des Kultusministers vom 25.8.1980, S. 36, 62 f; Richtlinien und Lehrpläne für die Hauptschule Biologie, Heft 3204/1, S. 113, 126). Auch der Umstand, dass Evolutionstheorie und Schöpfungsglauben in unterschiedlichen Unterrichtsfächern, nämlich in Biologie einerseits und Religionslehre andererseits, getrennt voneinander unterrichtet werden, führt nicht zu einer Überbetonung der Evolutionstheorie gegenüber dem Schöpfungsglauben. Neben den dargestellten Pflichten der Schule und der Lehrkräfte zur Neutralität und Toleranz bietet vielmehr auch die getrennte Unterrichtung von anerkannten wissenschaftlichen Lehrmeinungen im Rahmen eines wissenschaftlich fundierten Unterrichtsfaches einerseits und von Glaubenswahrheiten und religiösen Welterklärungen im Rahmen der Religionslehre andererseits eine Gewähr dafür, dass mit der Vermittlung der Evolutionstheorie eine religiöse Deutung im Sinne einer Glaubenswahrheit nicht verbunden wird. Die Frage, wie sich Glauben und Wissen zueinander verhalten, wird nicht durch die Vermittlung der Evolutionstheorie beantwortet. Es bleibt den Klägern überlassen, ihre diesbezüglichen Überzeugungen ihrer Tochter im Rahmen ihrer Erziehung zu vermitteln.

Beeinträchtigungen ihres Elternrechts auf religiöse Kindererziehung und mögliche mit einem Schulbesuch der Tochter verbundene Gewissenskonflikte werden zudem durch die Möglichkeit der Kläger auf die Erziehung ihres Kindes innerhalb und außerhalb der Schule Einfluss zu nehmen, abgemildert. Innerhalb der Schule haben die Kläger das Recht auf Information und Beratung in allen grundsätzlichen und wichtigen Schulangelegenheiten (§ 44 Abs. 1 SchulG NRW). Sie können nach Absprache mit den Lehrerinnen und Lehrern an einzelnen Unterrichtsstunden und an Schulveranstaltungen teilnehmen, die ihr Kind besucht (§ 44 Abs. 3 Satz 1 SchulG NRW). Auch können die Kläger über die Mitwirkungsgremien (§§ 65 ff SchulG NRW) Einfluss nehmen. Außerhalb der Schule haben die Kläger ebenfalls die Möglichkeit, auf ihr Kind erzieherischen Einfluss zu nehmen. Die Schule lässt hierfür an Wochentagen nachmittags und abends, an den Wochenenden und in den Ferien genügend Zeit und in qualitativer Hinsicht auch genügend Raum für die Vermittlung der Wertvorstellungen der Kläger, da die Schule auf den Grundsatz der weltanschaulichen Neutralität verpflichtet ist. Den Klägern bleibt es auch unbenommen, ihre Tochter eine private Ersatzschule besuchen zu lassen, die ihren weltanschaulichen Vorstellungen entspricht.

Der Möglichkeit zur Einflussnahme auf die Erziehung ihrer Tochter steht nicht das pauschale Vorbringen der Kläger entgegen, die Kinder übernähmen im Zweifel Haltungen und Aussagen der Lehrpersonen, denen sie natürlichen Respekt und Vertrauen entgegenbrächten; der Schulunterricht werde dazu benutzt, die Kinder in einer Weise mit Meinungen und Werten in Verbindung zu setzen, dass die von ihren Eltern empfangenen ethischen und moralischen Vorstellungen relativiert, abgewertet und verächtlich gemacht würden. Da die öffentlichen Schulen und ihre Lehrerinnen und Lehrer bei der Erziehung und Unterrichtung den Geboten der weltanschaulichen Neutralität sowie der Toleranz und Offenheit gegenüber den weltanschaulichen Vorstellungen der Eltern verpflichtet sind und das Indoktrinationsverbot zu beachten haben, ist den Klägern zumutbar, dass ihre Tochter im Rahmen eines meinungs- und wertepluralistischen ausgerichteten Unterrichts mit anderen Meinungen und Wertvorstellungen konfrontiert wird. Soweit die Kläger befürchten, dass hierdurch ihre Vorstellungen relativiert würden, ist dies von ihnen hinzunehmen, da dies eine mögliche Folge des Kennenlernens anderer Meinungen und der Auseinandersetzung mit ihnen ist, ohne dass diese wegen des Neutralitätsgebotes als vorzuziehende Meinungen dargestellt werden. Die mögliche Einsicht des Kindes in die Relativität des eigenen Standpunktes führt nicht, wie die Kläger befürchten, zwangsläufig dazu, dass dieser aufgegeben wird. Sie ist vielmehr Teil der zu erlernenden Dialogfähigkeit; zudem kann Kritik auch als Erkenntnisfortschritt aufgefasst werden. Das Elternrecht der Kläger als ein im Interesse ihres Kindes auszuübendes treuhänderisches Recht gewährt ihnen nicht das Recht, ihre Tochter von der Konfrontation mit anderen, auch gegensätzlichen Meinungen und Vorstellungen fernzuhalten. Ein Anspruch auf Ausnahme von der Pflicht zum Besuch einer deutschen Schule lässt sich darauf nicht stützen.

Auch soweit sich die Kläger auf die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) berufen, folgt hieraus kein Grund für eine Ausnahme von der Pflicht zum Besuch einer deutschen Schule. Art. 8 EMRK schützt das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, Art. 9 EMRK schützt die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit. In diese Rechte darf eingegriffen bzw. sie dürfen beschränkt werden, soweit dies zum Schutz der öffentlichen Ordnung erforderlich ist. Nach Art. 2 des Protokolls Nr. 1 zur EMRK darf niemandem das Recht auf Bildung verwehrt werden und hat der Staat bei der Erziehung und beim Unterricht das Recht der Eltern zu achten, die Erziehung und den Unterricht entsprechend ihren eigenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen sicherzustellen. Aus diesen Regelungen im Range eines einfachen Gesetzes folgen für die Kläger keine über ihre Rechte aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG i .V. m. Art. 4 Abs. 1 und 2 GG hinausgehende Ansprüche auf eine Ausnahme von Pflicht zum Besuch einer deutschen Schule. Vielmehr steht eine Schulpflicht, insbesondere im Hinblick auf die staatlichen Pflichten zur Rücksichtnahme, Neutralität und Toleranz, im Einklang mit diesen Konventionsrechten. Dies entspricht auch der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR).

EGMR, Entscheidung vom 11.9.2006 - Konrad u.a. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 35504/03, www.coe.int/T/D/menschenrechtsgerichtshof/.

Dort hat der EGMR darauf hingewiesen, dass Eltern einem Kinde das Recht auf Bildung nicht aufgrund ihrer Überzeugung verwehren dürften. Art. 2 des Protokolls Nr. 1 beinhalte die Möglichkeit, dass der Staat eine Schulpflicht festlege. Die vom BVerfG in seinem Beschluss vom 29.4.2003 - 1 BvR 436/03 - angeführten Erwägungen hält er nicht für eine Fehleinschätzung, sie fielen in den Ermessensspielraum der Vertragsstaaten. Für die Pflicht, die Schulpflicht grundsätzlich durch den Besuch einer deutschen Schule zu erfüllen, gilt nichts anderes.

Die Kläger können für Begehren die Schulpflicht außerhalb von Schulen durch den ihrer Tochter erteilten Heimunterricht auch nicht auf andere Rechtsgrundlagen im Schulgesetz stützen. Zwar sieht § 21 Abs. 1 SchulG NRW die Möglichkeit von Hausunterricht vor. Diesen richtet die Schulaufsichtsbehörde in Krankheitsfällen und Zeiten der Mutterschutzfristen auf Antrag ein. Dieser Hausunterricht ist allerdings kein Heimunterricht im Sinne der Kläger, der von ihnen selbst vorgenommen wird. Das Schulamt bestimmt vielmehr die für den Hausunterricht zuständige Schule und Lehrkräfte erteilen den Hausunterricht (§§ 38 Abs. 2 Satz 3, 41 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung über die sonderpädagogische Förderung, den Hausunterricht und die Schule für Kranke vom 29.4.2005).

Eine Befreiung von der Teilnahme am Unterricht nach § 43 Abs. 3 SchulG NRW durch den Beklagten kommt ebenfalls nicht in Betracht. Nach dieser Vorschrift kann die Schulleiterin oder der Schulleiter Schülerinnen oder Schüler auf Antrag der Eltern aus wichtigem Grund bis zur Dauer eines Schuljahres vom Unterricht beurlauben oder von der Teilnahme an einzelnen Unterrichts- oder Schulveranstaltungen befreien; längerfristige Beurlaubungen und Befreiungen bedürfen der Zustimmung der Schulaufsichtsbehörde. Über eine Befreiung bzw. Beurlaubung hiernach entscheidet die Schulleitung. Soweit die Schulaufsichtsbehörde zustimmen muss, ist dies ein verwaltungsinterner Vorgang, der nicht die Entscheidung der Schulleitung gegenüber den Eltern ersetzt. Der Beklagte ist für die Entscheidung über eine Befreiung gegenüber den Klägern nach § 43 Abs. 3 SchulG NRW nicht zuständig. Die Befreiung bzw. Beurlaubung setzt zudem das Bestehen eines Schulverhältnisses voraus, das hier jedoch mangels Aufnahme der Tochter in eine weiterführende Schule nicht begründet wurde (§ 42 Abs. 1 Satz 1 SchulG NRW).

Ende der Entscheidung

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