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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss verkündet am 16.11.2005
Aktenzeichen: 19 B 1469/05
Rechtsgebiete: VwVfG NRW, SchulG NRW


Vorschriften:

VwVfG NRW § 48
SchulG NRW § 2
Die Rücknahme einer Ausnahmegenehmigung zum Besuch einer ausländischen Schule ist ermessensfehlerhaft, wenn die individuellen Kenntnisse und Fähigkeiten der Schülerin und des Schülers sowie die bereits erreichte Integration in die Bundesrepublik Deutschland nicht berücksichtigt werden.
Tatbestand:

Die Antragstellerin besuchte die 6. Klasse einer ausländischen Schule in Nordrhein-Westfalen. Der Antragsgegner nahm die ihr erteilte Ausnahmegenehmigung zum Besuch der ausländischen Schule mit der Begründung zurück, die Antragstellerin habe nicht belegt, dass sie sich künftig im Ausland aufhalten werde. Die Bezirksregierung wies den Widerspruch der Antragstellerin zurück und ordnete die sofortige Vollziehung der Rücknahme der Ausnahmegenehmigung an. Das VG lehnte den Antrag der Antragstellerin auf Aussetzung der Vollziehung ab. Die Beschwerde der Antragstellerin hatte Erfolg.

Gründe:

Die Rücknahme der erteilten Ausnahmegenehmigung gemäß § 48 VwVfG NRW ist offensichtlich rechtswidrig. Aus den zutreffenden Gründen des angefochtenen Beschlusses ist die Ausnahmegenehmigung zum Besuch der G.-Akademie zwar rechtswidrig erteilt worden. Die Bezirksregierung hat jedoch das bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen für die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes eröffnete Ermessen (§ 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG NRW) des Antragsgegners fehlerhaft ausgeübt. Die Rechtswidrigkeit der Rücknahme der Ausnahmegenehmigung hat zur Folge, dass schon deshalb auch die Aufforderung zur Anmeldung an einer öffentlichen weiterführenden allgemeinen Schule und die Androhung der Ersatzvornahme offensichtlich rechtswidrig sind. Ob sie auch aus anderen Gründen rechtswidrig sind, weil etwa der Aufforderung zur Anmeldung an einer öffentlichen weiterführenden Schule keine hinreichende Ermächtigungsgrundlage zugrunde liegt, bedarf damit im vorliegenden Verfahren keiner näheren Erörterung.

Die Widerspruchsbehörde hat die Ermessensausübung unter anderem maßgeblich darauf gestützt, dass das Erlernen der deutschen Sprache für eine erfolgreiche Eingliederung in die deutsche Gesellschaft und den deutschen Arbeitsmarkt besonders wichtig sei. Die sprachliche Integration werde durch den Besuch einer deutschen Schule erheblich erleichtert, wenn nicht sogar erst ermöglicht. Auch wenn an der G.-Akademie das Angebot von Unterricht in deutscher Sprache vergrößert worden sei, so könne dieses Angebot nicht annähernd die Integration gerade in sprachlicher Hinsicht gewährleisten, die durch den Besuch einer deutschen Schule erreicht werde.

Abgesehen davon, dass es zweifelhaft erscheint, ob "erst" der Besuch einer deutschen Schule eine sprachliche Integration ermöglicht, trifft es zu, dass das Erlernen der deutschen Sprache eine der Grundlagen für eine erfolgreiche Integration ist. Diese Erwägung ist jedoch bezogen auf die Antragstellerin ermessensfehlerhaft, weil die Bezirksregierung die deutschen Sprachkenntnisse und -fähigkeiten der Antragstellerin nicht in ihre Abwägung einbezogen hat. Damit leidet die Ermessensausübung an einem Heranziehungsdefizit, weil nicht alle für die Ermessensausübung relevanten Gesichtspunkte berücksichtigt worden sind. Nur ergänzend weist der Senat darauf hin, dass die Erwägungen der Bezirksregierung in dieser Allgemeinheit letztlich dazu führen, dass generell, also ohne Prüfung des Einzelfalls, die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung zum Besuch einer ausländischen Schule nicht in Betracht kommt.

Die Überprüfung der deutschen Sprachkenntnisse und -fähigkeiten der Antragstellerin im März 2005 hat Folgendes ergeben:

"1.1 Lesekompetenz: Die Lesekompetenz von A. ist voll entwickelt. Sie verfügt über die Fähigkeit des sinnentnehmenden Lesens.

1.2 Schreibkompetenz: A. zeigt ein klares Schriftbild; die Schreibkompetenz ist insgesamt sehr positiv zu bewerten.

1.3 Umgang mit Sprache: Die Schülerin verfügt über gute Grundkenntnisse der grammatikalischen Strukturen. A. ist voll kommunikationsfähig. In der Prüfung fiel auf, dass das Kind Rückfragen bei Verständnisschwierigkeiten stellte. Sie verfügt über einen guten allgemeinen Wortschatz, der Fachwortschatz ist zum Teil lückenhaft. Es kann jedoch angenommen werden, dass A. sich den Fachwortschatz bei entsprechender Unterstützung zeitnah aneignen wird."

Danach hat die 12 Jahre alte Antragstellerin ohne den Besuch einer deutschen Schule eine beachtliche sprachliche Integration erreicht. Die Nichtberücksichtigung dieses Gesichtspunktes bei der Ausübung des Ermessens gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG NRW ist ermessensfehlerhaft, weil aufgrund der bereits erreichten sprachlichen Integration die von der Bezirksregierung allgemein angeführte Notwendigkeit des Erlernens der deutschen Sprache als Grundlage für eine erfolgreiche Integration im vorliegenden konkreten Einzelfall nicht trägt. Denn es ist weder ersichtlich noch von dem Antragsgegner oder der Bezirksregierung substantiiert dargetan, dass die bereits erreichte sprachliche Integration der Antragstellerin nur durch den Besuch einer deutschen Schule erhalten oder verfestigt werden kann. Dagegen spricht vielmehr bei summarischer Prüfung das Ergebnis der Überprüfung des Lern- und Leistungsvermögens der Antragstellerin im März 2005. Die Überprüfung hat ergeben, dass sie "gymnasial" geeignet ist; ihr wird der Besuch eines Gymnasiums oder einer Gesamtschule empfohlen. Sie verfügt über eine "hohe Leistungsfähigkeit und hohe Konzentrationsfähigkeit", ist "sehr motiviert" und "sehr belastbar", "zeigt eine hohe Konzentrationsfähigkeit und denkt sehr selbstständig", arbeitet "systematisch", "erschließt sich selbstständig ihr bislang unbekannte Aufgabenformen" und "beherrscht den Umgang mit Methoden und den Umgang mit dem Lexikon einwandfrei". Danach spricht prognostisch Alles dafür, dass sie ihre schon erreichte sprachliche Integration auch ohne den Besuch einer deutschen Schule mit dem Unterrichtsstoff höherer Jahrgangsstufen weiter verbessern kann und wird. Dass dem die Unterrichtsinhalte und -formen der G.-Akademie entgegenstehen, ist weder ersichtlich noch von dem Antragsgegner oder der Bezirksregierung substantiiert dargetan.

Soweit der Antragsgegner geltend macht, dass der Fachwortschatz der Antragstellerin nach den Feststellungen im März 2005 zum Teil lückenhaft sei, hat der Antragsgegner weder in dem Erörterungstermin am 25.10.2005 noch im Schriftsatz seiner Prozessbevollmächtigten vom 10.11.2005 dargelegt, welcher konkrete Fachwortschatz der Antragstellerin fehlt und inwieweit der teilweise (noch) lückenhafte Fachwortschatz ihrer erfolgreichen Integration in der Schule und/oder außerhalb der Schule entgegensteht. Nach Aktenlage kann sich die Antragstellerin den für den Besuch einer deutschen Schule erforderlichen Fachwortschatz innerhalb kurzer Zeit erarbeiten. Das ergibt sich aus den im März 2005 getroffenen Feststellungen. Danach kann sie sich den für den erfolgreichen Besuch einer deutschen Schule noch fehlenden Fachwortschatz "bei entsprechender Unterstützung zeitnah aneignen". Welcher Fachwortschatz für die im Schriftsatz der Prozessbevollmächtigten des Antragsgegners vom 10.11.2005 angeführte "Teilnahme am gesellschaftlichen Leben" in Deutschland "unerlässlich" ist, ist auch mit diesem Schriftsatz nicht konkret dargelegt worden. Der Antragsgegner hat weder seine Auffassung näher begründet, dass das Lesen einer deutschen Tageszeitung ohne einen "hinreichenden Fachwortschatz" unmöglich sei, noch einen greifbaren Anhaltspunkt dafür vorgetragen, dass der für eine "Teilnahme am gesellschaftlichen Leben" in Deutschland erforderliche "hinreichende Fachwortschatz" ausschließlich durch den Besuch einer deutschen Schule erworben werden kann. Träfe Letzteres zu, könnte sowohl von einem Ausländer, der ausschließlich eine Schule in seinem Heimatland besucht hat, als auch einem Deutschen, der keine deutsche Schule besucht hat, weil er sich während seiner Schulpflicht im Ausland aufgehalten hat, prinzipiell eine erfolgreiche Integration in Deutschland nicht erwartet werden. Diese Annahme liegt dem Einbürgerungsrecht (§§ 8, 10 StAG) und auch dem Aufenthaltsrecht nicht zugrunde. So erfordert zwar die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis grundsätzlich, dass der Ausländer über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache verfügt (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 AufenthG). Diese Kenntnisse muss er aber nicht durch Besuch einer deutschen Schule erworben haben. Es genügt der erfolgreiche Abschluss eines Integrationskurses (§ 9 Abs. 2 Satz 2 AufenthG). Besteht kein Anspruch auf Teilnahme an einem Integrationskurs oder ist die Teilnahme an einem Integrationskurs auf Dauer unmöglich oder unzumutbar, kann die Niederlassungserlaubnis (schon) dann erteilt werden, wenn der Ausländer sich auf einfache Art in deutscher Sprache mündlich verständigen kann (§ 9 Abs. 2 Satz 5 AufenthG). Nur ergänzend weist der Senat darauf hin, dass der Antragsgegner auch unter Berücksichtigung der angeführten Ausrichtung der G.-Akademie auf das saudiarabische Schulsystem nicht nachprüfbar aufgezeigt hat, dass die Antragstellerin nicht, wie es im Widerspruchsbescheid verlangt wird, "wenigstens ein Mindestmaß der hiesigen Kultur- und Wertevorstellungen vermittelt" bekommt.

Aus den vorstehenden Ausführungen folgt zugleich, dass die Anordnung der sofortigen Vollziehung in der Sache nicht gerechtfertigt ist. Es besteht kein besonderes öffentliches Vollzugsinteresse, das es rechtfertigt, den im Ergebnis angeordneten sofortigen Besuch einer öffentlichen weiterführenden allgemeinen Schule schon vor der rechtskräftigen Entscheidung im Hauptsacheverfahren durchzusetzen. Angesichts der schon erreichten sprachlichen Integration der Antragstellerin und der dargelegten Prognose, dass sie angesichts ihrer hohen Lern- und Leistungsfähigkeit und ihrer hohen Motivation eine weitergehende Integration zu erwarten ist, sprechen keine gewichtigen öffentlichen Interessen gegen den (vorläufigen) weiteren Besuch der G.-Akademie. Der Antragsgegner hat im vorliegenden Verfahren auch nicht geltend gemacht, dass der Unterricht an der G.-Akademie insgesamt oder teilweise mit dem Grundgesetz nicht in Einklang steht. Dahingehende nachweisbare Anhaltspunkte liegen dem Senat auch sonst nicht vor.

Ende der Entscheidung

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