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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss verkündet am 05.12.2007
Aktenzeichen: 19 B 1523/07
Rechtsgebiete: SGB IX, BBiG, PO


Vorschriften:

SGB IX § 2 Abs. 1
BBiG § 1 Abs. 3
BBiG § 43 Abs. 1 Nr. 1
BBiG § 43 Abs. 1 Nr. 2
BBiG § 43 Abs. 1 Nr. 3
BBiG § 45
BBiG § 45 Abs. 1
BBiG § 45 Abs. 2
BBiG § 45 Abs. 2 Satz 1
BBiG § 45 Abs. 2 Satz 3
BBiG § 64
BBiG § 65 Abs. 2 Satz 2
PO § 8 Abs. 1 Nr. 1
PO § 8 Abs. 2
PO § 9 Abs. 1
PO § 9 Abs. 2 Satz 2
Geringfügige Fehlzeiten stehen der Zulassung zu einer Abschlussprüfung nach den Vorschriften des Berufsbildungsgesetzes nicht entgegen.

Eine starre zeitliche Grenze, bei deren Überschreiten Fehlzeiten stets als erheblich anzusehen sind, gibt es nicht. Es kommt vielmehr darauf an, ob die Fehlzeiten im konkreten Einzelfall das Erreichen des Ausbildungsziels nicht beeinträchtigen.


Tatbestand:

Der Antragsteller begann am 9.9.2002 mit der dreijährigen Ausbildung zum Binnenschiffer. Im Januar 2005 erkrankte er an Epilepsie. Seine betriebliche Ausbildung konnte er deshalb ab dem 14.2.2005 nicht fortsetzen. Zu einem arbeitsgerichtlichen Verfahren einigten sich der Antragsteller und sein damaliger Arbeitgeber auf eine Beendigung des Ausbildungsverhältnisses zum 20.6.2005. Die Antragsgegnerin lehnte den Antrag des Antragstellers auf Zulassung zur Abschlussprüfung ab. Der Eilantrag des Antragstellers auf vorläufige Zulassung zur Abschlussprüfung blieb in beiden Instanzen erfolglos.

Gründe:

Der Senat teilt die Auffassung des VG, dass der Antragsteller auch dann, wenn er behindert im Sinne der §§ 2 Abs. 1 SGB IX, 64 BBiG sein sollte, nur bei Vorliegen der Voraussetzungen gemäß § 43 Abs. 1 Nr. 1 BBiG zur Abschlussprüfung zugelassen werden kann. Denn § 65 Abs. 2 Satz 2 BBiG sieht bei behinderten Menschen nur ein Absehen von den Zulassungsvoraussetzungen gemäß § 43 Abs. 1 Nr. 2 und 3 BBiG vor. Die Regelung in § 8 Abs. 2 der Prüfungsordnung der Antragsgegnerin (im Folgenden: PO), nach der körperlich, geistig oder seelisch Behinderte auch zur Abschlussprüfung zuzulassen sind, wenn sie die Voraussetzungen des dem § 43 Abs. 1 Nr. 1 BBiG entsprechenden § 8 Abs. 1 Nr. 1 PO nicht erfüllen, ist wegen Verstoßes gegen diese gesetzliche Bestimmung unwirksam.

Der Antragsteller hat nicht glaubhaft gemacht, dass er die Voraussetzungen der §§ 43 Abs. 1 Nr. 1 BBiG, 8 Abs. 1 Nr. 1 PO erfüllt. Nach diesen Vorschriften ist zur Abschlussprüfung zuzulassen, wer die Ausbildungszeit zurückgelegt hat oder wessen Ausbildungszeit nicht später als zwei Monate nach dem Prüfungstermin endet. Der Senat teilt die Auffassung des VG, dass nach dem Sinn und Zweck der §§ 43 Abs. 1 Nr. 1 BBiG, 8 Abs. 1 Nr. 1 PO die Ausbildungszeit nur dann zurückgelegt ist, wenn der Auszubildende tatsächlich aktiv ausgebildet worden ist. Der bloße kalendarische Ablauf der Ausbildungszeit rechtfertigt die Zulassung zur Abschlussprüfung nicht. Denn das Ziel der Berufsausbildung, die für die Ausübung einer qualifizierten beruflichen Tätigkeit in einer sich wandelnden Arbeitswelt notwendigen beruflichen Fertigkeiten, Kenntnisse und Fähigkeiten (berufliche Handlungsfähigkeit, § 1 Abs. 3 Satz 1 BBiG) in einem geordneten Ausbildungsgang zu vermitteln und den Erwerb der erforderlichen Berufserfahrung zu ermöglichen (§ 1 Abs. 3 Satz 2 BBiG), wird regelmäßig nur erreicht, wenn eine tatsächlich aktive Ausbildung erfolgt ist. Geringfügige Fehlzeiten stehen allerdings einer Zulassung zur Abschlussprüfung nicht entgegen. Denn die Versagung der Zulassung zur Abschlussprüfung verstößt gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wenn die Fehlzeiten den Ausbildungserfolg nicht gefährden.

Ebenso VG Schwerin, Beschluss vom 17.6.1999 - 8 B 519/99 -, GewArch 2000, 288, Leinemann/Taubert, BBiG, 2002, § 39 Rdn. 9, m. w. N.; a. A.: VG Stuttgart, Beschluss vom 14.11.1994 - 10 K 4658/94 -, juris (nur Leitsatz).

Unter welchen Voraussetzungen Fehlzeiten als geringfügig anzusehen sind, ist normativ nicht geregelt. Entscheidend sind die Umstände des Einzelfalls. Zahlenmäßig geringe oder hohe Fehlzeiten sind ein Indiz für geringfügige oder erhebliche Fehlzeiten. Eine starre zeitliche Grenze etwa dergestalt, dass bei einer Fehlzeit von 10 % der Ausbildungszeit stets mehr als nur geringfügige Fehlzeiten vorliegen, vgl. hierzu Leinemann/Taubert, a. a. O., m. w. N., gibt es jedoch nicht. Es kommt vielmehr darauf an, ob die Fehlzeiten im konkreten Einzelfall das Erreichen des Ausbildungsziels gefährden. Zahlenmäßig geringe Fehlzeiten können den Ausbildungserfolg gefährden, wenn sie wesentliche Ausbildungsabschnitte betreffen; zahlenmäßig hohe Fehlzeiten können als noch geringfügig angesehen werden, wenn sie etwa auf den letzten Ausbildungsabschnitt entfallen und die für den Erwerb der beruflichen Handlungsfähigkeit und die erforderliche Berufserfahrung wesentliche Ausbildung bereits in den vorhergehenden Ausbildungsabschnitten erfolgt ist. Diese nicht nur auf die Zahl der Fehlstunden abstellende Wertung im Einzelfall entspricht den in § 45 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 3 BBiG, § 9 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2 PO enthaltenen Rechtsgedanken. Nach § 45 Abs. 1 BBiG, § 9 Abs. 1 PO können Auszubildende nach Anhörung der Ausbildenden und der Berufsschule vor Ablauf der Ausbildungszeit zur Abschlussprüfung zugelassen werden, wenn ihre Leistungen dies rechtfertigen. Vom Nachweis der in § 45 Abs. 2 Satz 1 BBiG genannten Mindestzeit der beruflichen Tätigkeit, die eine Zulassung zur Abschlussprüfung ohne vorhergehende Ausbildung rechtfertigt, kann gemäß § 45 Abs. 2 Satz 3 BBiG, § 9 Abs. 2 Satz 2 PO ganz oder teilweise abgesehen werden, wenn durch Vorlage von Zeugnissen oder auf andere Weise glaubhaft gemacht wird, dass der Bewerber oder die Bewerberin die berufliche Handlungsfähigkeit erworben hat, die die Zulassung zur Prüfung rechtfertigt.

Nach Maßgabe dieser Grundsätze sind die Fehlzeiten des Antragstellers mehr als geringfügig. Die Fehlzeiten sind zahlenmäßig hoch und es ist nicht glaubhaft gemacht, dass der Antragsteller trotz der Fehlzeiten das Ausbildungsziel gemäß § 1 Abs. 3 BBiG erreicht hat.

Als Ausbildungszeit ist die in den Ausbildungsordnungen vorgesehene (Regel-) Ausbildungsdauer zugrundezulegen, es sei denn, die Ausbildungszeit ist, was bei dem Antragsteller nicht der Fall ist, abgekürzt (§ 8 Abs. 1 BBiG) oder verlängert (§§ 8 Abs. 2, 21 Abs. 3 BBiG) worden. Zu berücksichtigen ist auch, dass nach § 43 Abs. 1 Nr. 1 BBiG, § 8 Abs. 1 Nr. 1 PO die Prüfung vor Ablauf der Ausbildungszeit erfolgen kann, wenn die Ausbildungszeit mit dem Bestehen der Prüfung (§ 21 Abs. 2 BBiG) nicht später als zwei Monate nach dem Prüfungstermin endet. Danach sind die Fehlzeiten des Antragstellers, der nach dem unwidersprochen gebliebenen Vortrag der Antragsgegnerin seit dem 14.2.2005 krankheitsbedingt nicht mehr in der tatsächlichen betrieblichen Ausbildung stand, nicht ins Verhältnis zu der nach § 2 der Verordnung über die Berufsausbildung zum Binnenschiffer/zur Binnenschifferin vorgeschriebenen Ausbildungsdauer von 3 Jahren zu setzen. Vielmehr sind als Bezugspunkt 34 Monate Ausbildung zu berücksichtigen. Damit hätte der Kläger, wenn er auch nach dem 14.2.2005 betrieblich ausgebildet worden wäre, seine Ausbildung bereits im Juli 2005 und damit nach 34 Monaten Ausbildung beenden können. Denn in der Zeit vom 19. bis 29.7.2005 war eine Abschlussprüfung vorgesehen. Auf eine frühere Prüfung, insbesondere auf die vom Antragsteller in der Beschwerdebegründung angesprochene Prüfung vom 27. bis 30.3.2005 kommt es in diesem Zusammenhang nicht an. An diesem Prüfungstermin hätte der Antragsteller nur im Wege der Zulassung nach § 45 BBiG teilnehmen können, dessen Voraussetzungen er nicht glaubhaft gemacht hat. Für den Antragsteller ergibt sich damit eine zahlenmäßig hohe Fehlzeit, weil er bei Beginn des (frühesten) Prüfungstermins im Juli 2005 mehr als 5 Monate nicht mehr in der betrieblichen Ausbildung stand. Seine Fehlzeit beträgt mithin etwa 15 % der 34 Monate Ausbildung, die er bis zum Prüfungstermin im Juli 2005 hätte absolvieren müssen.

Der Antragsteller hat auch nicht glaubhaft gemacht, dass er bis zum 15.2.2005 die Ausbildungsziele zumindest im Wesentlichen erreicht hatte. Über den damaligen Stand seiner Ausbildung hat er keine näheren Angaben gemacht. Zeugnisse oder andere Unterlagen, die Auskunft über seinen damaligen Ausbildungsstand geben, hat er nicht vorgelegt. Anlass zur Vorlage derartiger Unterlagen bestand schon deshalb, weil das VG in dem angefochtenen Beschluss im Zusammenhang mit der Prüfung eines Anspruches auf Zulassung zur Abschlussprüfung gemäß § 45 Abs. 2 BBiG auf die Notwendigkeit, durch Zeugnisse oder andere Belege die erreichte berufliche Handlungsfähigkeit glaubhaft zu machen (§ 45 Abs. 2 Satz 3 BBiG), hingewiesen hat. Dem ist der Antragsteller auch im Beschwerdeverfahren nicht nachgekommen. Daraus folgt zugleich, dass er einen Anspruch auf Zulassung zur Abschlussprüfung gemäß § 45 Abs. 1 oder Abs. 2 BBiG nicht glaubhaft gemacht hat.

Auch die schulische Ausbildung des Antragstellers am Schiffer-Berufskolleg in der Zeit von Januar bis Ende März 2007 rechtfertigt keine andere Beurteilung. Dabei kann dahinstehen, ob einer Berücksichtigung der Ausbildung schon entgegensteht, dass der Antragsteller nach den Feststellungen des VG mehr als ein Drittel der Unterrichtsstunden am Berufskolleg gefehlt hat. Eine Berücksichtigung der Ausbildung am Berufskolleg kommt schon deshalb nicht in Betracht, weil der Antragsteller zum konkreten Inhalt seiner dortigen Ausbildung keine substantiierten Angaben gemacht hat. Der bloße Hinweis darauf, dass nachmittags (auch) praktische Übungen stattfanden, ist aus sich nicht hinreichend aussagekräftig. Der Antragsteller hat zudem weder geltend gemacht noch belegt, dass er sich am Berufskolleg erfolgreich Leistungskontrollen unterzogen oder an der Abschlussprüfung, die nach seinen Angaben vom 27. bis 30.3.2007 stattfand, erfolgreich teilgenommen hat. Im Übrigen steht der Anrechnung der dreimonatigen Ausbildung am Berufskolleg auf die Ausbildungszeit auch entgegen, dass lediglich eine Anrechnung vollzeitschulischer beruflicher Ausbildungsgänge von mindestens einem Jahr in Betracht kommt (§ 7 Abs. 1 BBiG iVm § 1 der nordrhein-westfälischen Berufskollegsanrechnungs- und zulassungsverordnung vom 16.5.2006, GV. NRW. S. 217). Eine derartige Ausbildung hat der Antragsteller am Berufskolleg nicht durchlaufen.

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