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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss verkündet am 25.08.2004
Aktenzeichen: 19 B 1741/03
Rechtsgebiete: ARB 1/80


Vorschriften:

ARB 1/80 Art. 10 Abs. 1
Das Diskriminierungsverbot des Art. 10 Abs. 1 ARB 1/80 begründet keinen selbstständigen Anspruch auf Erteilung oder Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis, sondern verpflichtet die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft zur Gleichbehandlung nur derjenigen türkischen Arbeitnehmer, die bereits eine beschäftigungs- und aufenthaltsrechtliche Anspruchsposition innehaben.
Tatbestand:

Der Antragsteller ist türkischer Staatsangehöriger. Seinem Aussetzungsantrag gegen die Ablehnung der Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis gab das VG mit der Begründung statt, es sei rechtlich nicht geklärt, ob die Rechtsprechung des EuGH zum Aufenthaltsrecht marokkanischer Arbeitnehmer mit einer das Aufenthaltsrecht übersteigenden beschäftigungsrechtlichen Rechtsposition auch auf das Diskriminierungsverbot des Art. 10 Abs. 1 ARB 1/80 übertragbar sei. Auf die Beschwerde des Antragsgegners lehnte das OVG den Aussetzungsantrag ab.

Gründe:

Das öffentliche Interesse am sofortigen Vollzug der Ordnungsverfügung vom 9.3.2000 überwiegt nach wie vor das Suspensivinteresse des Antragstellers, weil diese Ordnungsverfügung auch unter Berücksichtigung der neueren Rechtsprechung des EuGH und des BVerwG zu zwischenstaatlichen Abkommen der EG mit Marokko offensichtlich rechtmäßig ist.

Dem Antragsteller steht keine Aufenthaltserlaubnis aus Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG/Türkei über die Entwicklung der Assoziation (ARB 1/80) zu (wird ausgeführt).

Darüber hinaus steht dem Antragsteller auch aus Art. 10 Abs. 1 ARB 1/80 kein Anspruch auf die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu. Nach dieser Vorschrift räumen die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft den türkischen Arbeitnehmern, die ihrem regulären Arbeitsmarkt angehören, eine Regelung ein, die gegenüber den Arbeitnehmern aus der Gemeinschaft hinsichtlich des Arbeitsentgelts und der sonstigen Arbeitsbedingungen jede Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit ausschließt.

Das Diskriminierungsverbot des Art. 10 Abs. 1 ARB 1/80 begründet keinen selbstständigen Anspruch auf Erteilung oder Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis, sondern verpflichtet die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft zur Gleichbehandlung nur derjenigen türkischen Arbeitnehmer, die bereits eine beschäftigungs- und aufenthaltsrechtliche Anspruchsposition innehaben.

Das ergibt sich einmal bereits aus dem Wortlaut des Art. 10 Abs. 1 ARB 1/80, der ausdrücklich voraussetzt, dass der türkische Arbeitnehmer dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaates der Gemeinschaft angehört. Der Begriff "regulärer Arbeitsmarkt" bezeichnet die Gesamtheit der Arbeitnehmer, die den Rechts- und Verwaltungsvorschriften des betroffenen Staates nachkommen und somit das Recht haben, eine Berufstätigkeit in seinem Hoheitsgebiet auszuüben.

EuGH, Urteil vom 26.11.1998 - C-1/97 - (Birden), Rn. 51.

Zum regulären Arbeitsmarkt der Bundesrepublik Deutschland gehört danach der türkische Arbeitnehmer, der über eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis verfügt oder die Voraussetzungen des Art. 6 ARB 1/80 erfüllt, womit er nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH einen Anspruch auf die Verlängerung der Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis im Aufnahmemitgliedstaat erlangt, um dort (weiterhin) eine ordnungsgemäße Beschäftigung ausüben zu können.

Vgl. EuGH, Urteile vom 16.12.1992 - C-237/91 - (Kus), und vom 2.3.1999 - C-416/96 - (El-Yassini), NVwZ 1999, 1095 = InfAuslR 1999, 218, Rn. 53, m.w.N. Besitzt der türkische Arbeitnehmer aber bereits die Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis oder einen Status nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80, bedarf es darüber hinaus keiner weiteren Rechtsgrundlage für seinen Aufenthalt.

Ferner ergibt sich das genannte Verständnis des Art. 10 Abs. 1 ARB 1/80 aus dessen Funktion. Diese Vorschrift sowie das im Wesentlichen gleichlautende Diskriminierungsverbot des Art. 37 des Zusatzprotokolls vom 23.11.1970 (BGBl. II 1972 S. 385) zum Assoziierungsabkommen EWG/Türkei vom 12.9.1963 (BGBl. II 1964 S. 509) konkretisieren das allgemeine Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit in Art. 9 dieses Assoziierungsabkommens mit unmittelbarer Wirkung in jedem Mitgliedstaat lediglich für den besonderen Bereich des Arbeitsentgelts und der sonstigen Arbeitsbedingungen.

EuGH, Urteile vom 8.5.2003 - C-171/01 - (Wählergruppe "Gemeinsam Zajedno/Birlikte Alternative und Grüne GewerkschafterInnen/UG"), Rn. 58 f., 94, und vom 14.3.2000 - C-102/98 und C-211/98 - (Kocak und Örs), Rn. 38.

Diese unmittelbare innerstaatliche Wirkung lediglich im Bereich der Arbeitsbedingungen im Rahmen des regulären Arbeitsmarktes bestätigt, dass Art. 10 Abs. 1 ARB 1/80 und Art. 37 des Zusatzprotokolls das Bestehen eines assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts voraussetzen, ein solches aber nicht begründen. Begründet werden kann ein solches Recht eines türkischen Arbeitnehmers oder seiner Familienangehörigen grundsätzlich nur durch die Art. 6 oder 7 ARB 1/80, die ihrerseits Art. 36 des Zusatzprotokolls konkretisieren. Nur diese Vorschriften bilden den Rahmen, innerhalb dessen assoziationsrechtliche Aufenthaltsrechte entstehen können. Für Art. 37 des Zusatzprotokolls hat das beschließende Gericht dementsprechend bereits entschieden, dass dieses Diskriminierungsverbot dem türkischen Arbeitnehmer kein eigenständiges assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht verleiht.

OVG NRW, Beschlüsse vom 30.3.2004 - 19 B 1530/03 -, 20.7.2001 - 17 B 1116/00 -, InfAuslR 2001, 502 (505 f.) und vom 27.8.1999 - 18 B 1448/99 -, InfAuslR 1999, 485, unter Hinweis auf EuGH, Urteile vom 2.3.1999 (El Yassini), a.a.O., und 6.6.1995 - C-434/93 - (Bozkurt); VG Darmstadt, Beschluss vom 4.2.2003 - 8 G 2865/02 (1) -, InfAuslR 2003, 173 (177).

Entgegen der Auffassung des VG kann sich aus Art. 10 Abs. 1 ARB 1/80 ein Aufenthaltsrecht des Antragstellers auch nicht deshalb ergeben, weil am 30.7.1998 die Geltungsdauer der unbefristeten Arbeitserlaubnis des Antragstellers vom 23.1.1995 die Geltungsdauer der ihm damals erteilten Aufenthaltserlaubnis überstieg. Diese Erwägung, die für die angefochtene Entscheidung bestimmend war, stützt das VG zu Unrecht auf das bereits zitierte Urteil des EuGH in der Rechtssache El-Yassini. In diesem Urteil hat der EuGH entschieden, dass sich ein Anspruch auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis für einen marokkanischen Staatsangehörigen unter besonderen Voraussetzungen aus dem Diskriminierungsverbot des Art. 40 Abs. 1 des Kooperationsabkommens zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und dem Königreich Marokko vom 27.4.1976 ergeben kann. Die praktische Wirksamkeit (effet utile) des Verbots der Benachteiligung marokkanischer Arbeitnehmer gegenüber den Staatsangehörigen des jeweiligen Mitgliedstaates erfordere dies in Ausnahmefällen. Habe der Mitgliedstaat dem marokkanischen Wanderarbeitnehmer in Bezug auf die Beschäftigung weitergehende Rechte als in Bezug auf den Aufenthalt verliehen, so könne er eine Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nicht ablehnen, ohne dies mit Gründen des Schutzes eines berechtigten Interesses des Staates, namentlich der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit, rechtfertigen zu können.

EuGH, Urteil vom 2.3.1999 - C-416/96 - (El-Yassini), NVwZ 1999, 1095 = InfAuslR 1999, 218, Rn. 64 - 67; BVerwG, Urteil vom 1.7.2003 - 1 C 18.02 -, BVerwGE 118, 249 [= jurisweb, Rn. 22].

Diese Rechtsprechung ist auf das Diskriminierungsverbot in Art. 10 Abs. 1 ARB 1/80 nicht übertragbar. Aus diesem Diskriminierungsverbot kann sich aus Gründen seiner praktischen Wirksamkeit auch in Ausnahmefällen abweichend von den oben dargelegten Grundsätzen kein Anspruch auf Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis auch für türkische Arbeitnehmer ergeben. Der nahezu übereinstimmende Wortlaut von Art. 10 Abs. 1 ARB 1/80 einerseits und von Art. 40 Abs. 1 des Kooperationsabkommens EWG-Marokko andererseits bietet hierfür keine ausreichende Grundlage. Hiergegen sprechen vor allem die grundsätzlich unterschiedlichen Zielsetzungen beider Abkommen (künftiger Beitritt zur EG und künftige Herstellung der Arbeitnehmerfreizügigkeit nur im Fall der Türkei), auf die das VG unter Bezugnahme auf die Ausführungen des EuGH in Rn. 57 - 59 des Urteils El-Yassini selbst hingewiesen hat. Für eine Ableitung auch unmittelbarer aufenthaltsrechtlicher Ansprüche aus dem Diskriminierungsverbot unter dem Gesichtspunkt seiner praktischen Wirksamkeit besteht nämlich im Falle des Art. 10 Abs. 1 ARB 1/80 kein Bedürfnis. Das unterscheidet die Vorschrift grundlegend von Art. 40 Abs. 1 des Kooperationsabkommens EWG-Marokko von 1976 und dessen Nachfolgeregelung in Art. 64 des Europa-Mittelmeer-Abkommens zur Gründung einer Assoziation zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und dem Königreich Marokko andererseits (Europa-Mittelmeer-Abkommen/Marokko) vom 26.2.1996 (ABl. EG L 70/2000 S. 2 ff.; BGBl. II 1998 S. 1811), so dass dem vom VG erwogenen "Umkehrschluss" die Grundlage fehlt. Praktische Wirksamkeit in Bezug auf die Begründung von Aufenthaltsrechten muss dem Diskriminierungsverbot aus Art. 10 Abs. 1 ARB 1/80 nicht vermittelt werden, weil der ARB 1/80 solche Rechte in seinen Art. 6 und 7 in der Auslegung, die diese Vorschriften in der Rechtsprechung des EuGH gefunden haben, bereits begründet. Gerade dies trifft auf die beiden genannten Abkommen mit dem Königreich Marokko nicht zu, weil diese Abkommen keine Regelungen enthalten, die inhaltlich denjenigen der Art. 6 und 7 ARB 1/80 entsprechen.

Selbst wenn auch Art. 10 Abs. 1 ARB 1/80 entgegen den vorstehenden Ausführungen in Ausnahmefällen einen Anspruch auf Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis begründen könnte, liegt ein solcher Ausnahmefall jedenfalls im Fall des Antragstellers nicht vor. Die ihm erteilte unbefristete besondere Arbeitserlaubnis vom 23.1.1995 (heute: Arbeitsberechtigung) hat ihm keine von der Aufenthaltserlaubnis unabhängigen, weitergehenden Rechte verliehen, deren praktische Verwirklichung ihm durch die hier streitige Versagung des weiteren Aufenthalts entzogen worden wäre. Der im Arbeitsgenehmigungsrecht sowohl für deren Erteilung als auch für deren Fortbestand angelegte Vorrang der Aufenthaltsgenehmigung verbietet es in aller Regel - und so auch hier - aus der Arbeitsgenehmigung - auch in Form der grundsätzlich unbefristeten Arbeitsberechtigung (§ 286 Abs. 3 SGB III) - weitergehende, von der Aufenthaltserlaubnis unabhängige, gleichsam überschießende Aufenthaltsrechte abzuleiten. Dies folgt aus § 284 Abs. 5 SGB III und § 8 Abs. 1 Nr. 1 der Arbeitsgenehmigungsverordnung - ArGV -.

Vgl. dazu im Einzelnen BVerwG, Urteil vom 1.7.2003 - 1 C 18.02 -, BVerwGE 118, 249 [= jurisweb, Rn. 25 f.].

Nach diesen Maßgaben ist im vorliegenden Fall unerheblich, ob die Arbeitsgenehmigung des Antragstellers wegen der Fiktionswirkung eines rechtzeitigen Aufenthaltsgenehmigungsantrages oder wegen der Erteilung von Duldungen ab dem 14.6.2000 gemäß §§ 8 Abs. 1 Nr. 1, 5 Nr. 3 und Nr. 5 ArGV noch Bestand hatte oder ob sie bereits erloschen war. Auch der Aufschub des automatischen Erlöschens der Arbeitsgenehmigung gemäß § 5 Nr. 3 bis 6 ArGV erfolgt nur mit Rücksicht auf eine vorläufige verfahrensrechtliche Position des Ausländers etwa - wie vorliegend - auf Grund seiner Rechtsbehelfe gegen die aufenthaltsbeendende behördliche Entscheidung zur Absicherung des Ausländers bis zur unanfechtbaren gerichtlichen Klärung seines aufenthaltsrechtlichen Status. Sinn und Zweck der genannten Bestimmungen gehen nicht dahin, ein über die Klärung der aufenthaltsrechtlichen Lage hinausreichendes Aufenthaltsrecht zu begründen. Ein solches Aufenthaltsrecht bedarf eigener materiellrechtlicher Gründe, die sich entweder aus dem Ausländergesetz oder aus Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 ergeben können. Die gemäß §§ 8 und 5 ArGV fortbestehende Arbeitsgenehmigung kann deswegen dem Arbeitnehmer die Genehmigungswirkung in Anlehnung an die Dauer des fiktiven Aufenthaltes nur bis zur Rechtskraft der den Versagungsbescheid bestätigenden Eilentscheidung erhalten, nicht aber ein über diesen Zeitpunkt hinaus wirkendes Aufenthaltsrecht begründen.

Vgl. auch dazu BVerwG, Urteil vom 1.7.2003 - 1 C 18.02 - Rn. 26; OVG NRW, Beschluss vom 30.3.2004 - 19 B 1530/03 -.

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