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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss verkündet am 10.10.2009
Aktenzeichen: 19 E 514/09
Rechtsgebiete: FreizügG/EU, GG, EMRK


Vorschriften:

FreizügG/EU § 6 Abs. 1
FreizügG/EU § 7 Abs. 2 Satz 2
GG Art. 6
EMRK Art. 8
1. Die Ausländerbehörde muss die Sperrwirkung einer Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU nur dann sogleich im Zeitpunkt ihres Erlasses nach § 7 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU befristen, wenn das Übermaßverbot im Hinblick auf Art. 6 GG und Art. 8 EMRK im Einzelfall diesen frühen Entscheidungszeitpunkt gebietet.

2. Je nach den Umständen des Einzelfalls kann ein hilfsweiser Antrag auf nachträgliche Befristung nach § 7 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU auch in der Rüge liegen, die Ausländerbehörde habe die Befristung sogleich bei Erlass der Verlustfeststellung vornehmen müssen.


Tatbestand:

Der Kläger ist belgischer Staatsangehöriger. Nach einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und neun Monaten stellte der Beklagte den Verlust des Freizügigkeitsrechts des Klägers fest. Der Kläger rügt, dass der Beklagte mit der Verlustfeststellung nicht sofort die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots verbunden habe. Sein Prozesskostenhilfeantrag hatte keinen Erfolg. Das OVG wies die dagegen gerichtete Beschwerde zurück.

Gründe:

Hinreichende Erfolgsaussicht verleiht der Klage insbesondere nicht die sinngemäß aufgeworfene Rechtsfrage, ob die Ausländerbehörde das aus einer Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU folgende Wiedereinreise- und Aufenthaltsverbot nach § 7 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU zwingend und von Amts wegen schon im Zeitpunkt ihres Erlasses nach § 7 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU befristen muss. Das VG hat diese Frage zutreffend verneint und zur Begründung auf die Fristbestimmung "nach angemessener Frist oder nach drei Jahren" in § 7 Abs. 2 Satz 4 FreizügG/EU hingewiesen.

In diesem Sinn ist die Rechtsfrage auch in der höchstrichterlichen Rechtsprechung geklärt. Danach belässt § 7 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU der Ausländerbehörde ein Auswahlermessen hinsichtlich der Bestimmung der Länge der Frist. Bei der Ausübung dieses Ermessens muss die Ausländerbehörde einzelfallbezogen prüfen, ob die vorliegenden Umstände das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung der gesetzlichen Sperrwirkungen als Dauereingriff in das Freizügigkeitsrecht mit Blick auf die hohen Anforderungen des § 6 Abs. 1 und 2 FreizügG/EU auch jetzt noch tragen. In einem zweiten Schritt muss sie nach Maßgabe des Übermaßverbots abwägen, ob das Gewicht dieser öffentlichen Belange insbesondere die in § 6 Abs. 3 FreizügG/EU genannten schutzwürdigen Belange des Unionsbürgers nach wie vor überwiegt. Nur im Extremfall kann diese Abwägung zu einer Ermessensreduzierung auf Null mit dem Ergebnis eines Anspruchs des Unionsbürgers auf eine Befristung auf den Jetzt-Zeitpunkt führen, bei der die Sperrwirkung ohne vorherige Ausreise des Unionsbürgers entfällt.

BVerwG, Urteile vom 4. 9. 2007 - 1 C 21.07 -, juris, Rdn. 19-22 und vom 23. 10. 2007 - 1 C 10.07 -, juris, Rdn. 41 f.

Nach den vorgenannten Maßstäben richtet sich auch, zu welchem Zeitpunkt die Ausländerbehörde die Befristung vornehmen muss, soweit diese Frage nicht bereits durch § 7 Abs. 2 Satz 4 FreizügG/EU geregelt ist. Die Ausländerbehörde muss die Sperrwirkung einer Verlustfeststellung nur dann sogleich im Zeitpunkt ihres Erlasses befristen, wenn das Übermaßverbot im Hinblick auf Art. 6 GG und Art. 8 EMRK im Einzelfall diesen frühen Entscheidungszeitpunkt gebietet. Für die Befristung der Wirkungen einer Verlustfeststellung nach § 7 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU gelten in dieser Hinsicht keine anderen Maßstäbe als für die Befristung der Wirkungen einer Ausweisung nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG, wobei der Senat offenlassen kann, ob § 7 Abs. 2 FreizügG/EU der Ausländerbehörde auch hinsichtlich der Wahl des Entscheidungszeitpunkts Ermessen einräumt. Denn jedenfalls ist auch die Befristung nach § 7 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU, wie in der höchstrichterlichen Rechtsprechung ebenfalls geklärt ist, ebenso wie § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG als Ausprägung des Übermaßverbots anzusehen, die es der Ausländerbehörde ermöglicht, die gegenläufigen öffentlichen und privaten Interessen zeitlich abgestuft auszutarieren.

BVerwG, Beschluss vom 20. 8. 2009 - 1 B 13.09 -, juris, Rdn. 4, 8; Urteil vom 4. 9. 2007 - 1 C 21.07 -, juris, Rdn. 21.

Im Fall des Klägers folgte aus dem Übermaßverbot nach den vorgenannten Maßstäben nicht die Verpflichtung des Beklagten zur Befristung der Sperrwirkung der Verlustfeststellung sogleich im Zeitpunkt ihres Erlasses am 31. 7. 2006. Denn zu diesem Zeitpunkt hatte das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung dieser Wirkung noch erhebliches Gewicht. Das ergibt sich insbesondere aus der Sozialprognose des Leiters der Justizvollzugsanstalt B. vom 10. 3. 2006, wonach das Verhalten des Klägers im Vollzug "keine Rückschlüsse auf eine Minderung der Rückfallgefahr" zulasse. Sowohl er selbst als auch seine deutsche Ehefrau zeigten danach nach wie vor keine Einsicht in das schwere Unrecht, das nach den Feststellungen des Landgerichts in seinem sexuellen Missbrauch der beiden Töchtern seiner Ehefrau und einer von deren Freundinnen lag und das nicht zuletzt im Strafmaß von 5 Jahren und 9 Monaten Freiheitsstrafe zum Ausdruck kommt.

Der Senat weist den Beklagten abschließend darauf hin, dass er die Sperrwirkung der Verlustfeststellung vom 24. 7. 2006 bis spätestens zum 31. 1. 2010 nach § 7 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU befristen muss. Mit diesem Tag läuft die sechsmonatige Bescheidungsfrist aus § 7 Abs. 2 Satz 4 FreizügG/EU ab, die mit dem Ablauf der dreijährigen Antragsfrist aus derselben Vorschrift mit dem 31. 7. 2009 begonnen hat. Die dreijährige Antragsfrist ihrerseits begann mit dem Wirksamwerden des Ausgangsbescheids vom 24. 7. 2006 über die Verlustfeststellung, die der Beklagte dem Kläger am 31. 7. 2006 in der Justizvollzugsanstalt H. gegen Empfangsbekenntnis zugestellt hat. Den Befristungsantrag hatte der Kläger sinngemäß hilfsweise bereits vor dem Ablauf der hier allein angemessenen dreijährigen Antragsfrist gestellt, indem er mit der Klageschrift vom 28. 9. 2007 unter anderem gerügt hat, weder der Ausgangs- noch der Widerspruchsbescheid enthielten eine Befristung. Mit dieser Rüge hat er konkludent auch sein Begehren zum Ausdruck gebracht, der Beklagte möge die Befristung so schnell wie möglich nachträglich vornehmen (wenn er sie schon nicht mit der Verlustfeststellung selbst vorgenommen hat).

Ende der Entscheidung

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