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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Urteil verkündet am 07.03.2003
Aktenzeichen: 2 A 5622/00
Rechtsgebiete: BVFG 2000


Vorschriften:

BVFG 2000 § 5 Nr. 2 b)
Ein deutscher Volkszugehöriger, der in Kasachstan von 1973 bis 1985 als Direktor einer Sowchose tätig gewesen ist, erfüllt den den Erwerb der Spätaussiedlereigenschaft ausschließenden Tatbestand des § 5 Nr. 2 b) BVFG.
Tatbestand:

Die Kläger, ein seit 1959 verheiratetes Ehepaar aus Kasachstan, beantragten im Jahre 1994 beim Bundesverwaltungsamt die Erteilung eines Aufnahmebescheides nach § 27 Abs. 1 BVFG. Im Aufnahmeantrag gabe der Kläger zu seiner Ausbildung und seinen Tätigkeiten an: Nach dem Schulbesuch von 1946 bis 1954 und einem entsprechenden Lehrgang habe er von 1955 bis 1963 als Veterinärhelfer gearbeitet. Anschließend sei er nach zwischenzeitlichen Fernstudien an einer landwirtschaftlichen Fachhochschule und einer Hochschule für Veterinärmedizin bis 1967 als Veterinär und bis 1973 als Leiter einer Rayonveterinärstation tätig gewesen. Von 1973 bis 1985 habe er als Direktor eine Sowchose geleitet. Seitdem leite er wiederum eine Rayonveterinärstation. Er sei von 1969 bis 1992 einfaches Mitglied der Kommunistischen Partei gewesen und sei seit 1955 einfaches Mitglied der Gewerkschaft. Mit Bescheid vom 28.1.1997 lehnte das Bundesverwaltungsamt den Aufnahmeantrag der Kläger im Wesentlichen mit der Begründung ab, die Kläger seien aufgrund der beruflichen Stellung des Klägers als Leiter einer Rayonveterinärstation und als Sowchosdirektor vom Erwerb der Spätaussiedlereigenschaft ausgeschlossen. Das VG wies die Klage ab. Die vom OVG zugelassene Berufung der Kläger wurde nach Beweiserhebung zur Funktion eines Sowchosdirektors in der ehemaligen Sowjetunion durch Einholung eines Sachverständigengutachtens zurückgewiesen.

Gründe:

Die Kläger haben keinen Anspruch auf Erteilung des begehrten Aufnahmebescheides.

Als Rechtsgrundlage für den vom Kläger geltend gemachten Anspruch auf Erteilung eines Aufnahmebescheides kommen nur die §§ 26 und 27 BVFG i.d.F. der Bekanntmachung vom 2.6.1993, BGBl. I S. 829, zuletzt geändert durch das Gesetz zur Klarstellung des Spätaussiedlerstatus (Spätaussiedlerstatusgesetz - SpStatG) vom 30.8.2001, BGBl. I S. 2266, in Betracht. Für die Beurteilung der Ansprüche ist insgesamt das nunmehr geltende Recht maßgebend. Denn die Kläger leben heute noch in Kasachstan.

Nach § 27 Abs. 1 Satz 1 BVFG wird der Aufnahmebescheid auf Antrag Personen mit Wohnsitz in den Aussiedlungsgebieten erteilt, die nach Verlassen dieser Gebiete die Voraussetzungen als Spätaussiedler erfüllen. Spätaussiedler aus dem hier in Rede stehenden Aussiedlungsgebiet der ehemaligen Sowjetunion ist nach § 4 Abs. 1 BVFG, wer deutscher Volkszugehöriger ist und bestimmte - hier unstreitig gegebene - Stichtagsvoraussetzungen erfüllt. Da der Kläger nach dem 31.12.1923 geboren ist, ist er nach § 6 Abs. 2 BVFG deutscher Volkszugehöriger, wenn er von einem deutschen Staatsangehörigen oder deutschen Volkszugehörigen abstammt und sich bis zum Verlassen der Aussiedlungsgebiete durch eine entsprechende Nationalitätenerklärung oder auf vergleichbare Weise nur zum deutschen Volkstum bekannt oder nach dem Recht des Herkunftsstaates zur deutschen Nationalität gehört hat (§ 6 Abs. 2 Satz 1 BVFG). Das Bekenntnis zum deutschen Volkstum oder die rechtliche Zuordnung zur deutschen Nationalität muss bestätigt werden durch die familiäre Vermittlung der deutschen Sprache (§ 6 Abs. 2 Satz 2 BVFG). Diese ist nur festgestellt, wenn jemand im Zeitpunkt der Aussiedlung aufgrund dieser Vermittlung zumindest ein einfaches Gespräch auf Deutsch führen kann (§ 6 Abs. 2 Satz 3 BVFG).

Der Kläger erfüllt die Voraussetzungen des § 6 Abs. 2 BVFG. (wird ausgeführt)

Dem Erwerb der Spätaussiedlereigenschaft durch den Kläger steht jedoch § 5 Nr. 2 b) BVFG in der - durch das Gesetz zur Sanierung des Bundeshaushalts (Haushaltssanierungsgesetz -HSanG-) vom 22.12.1999, BGBl. I S. 2534, geänderten - ab 1.1.2000 geltenden Fassung entgegen. Diese Vorschrift gilt mangels Überleitungsvorschriften auch für noch nicht abgeschlossene Aufnahmeverfahren.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 29.3.2001 - 5 C 17.00 -, BVerwGE 114, 116.

Nach § 5 Nr. 2 b) BVFG erwirbt die Rechtsstellung nach § 4 Abs. 1 oder Abs. 2 BVFG nicht, wer in den Aussiedlungsgebieten eine Funktion ausgeübt hat, die für die Aufrechterhaltung des kommunistischen Herrschaftssystems gewöhnlich als bedeutsam galt oder aufgrund der Umstände des Einzelfalles war. Diese Vorschrift knüpft an das fehlende Kriegsfolgenschicksal an, vgl. auch die Begründung zu Art. 9 des Entwurfs der Bundesregierung eines Gesetzes zur Sanierung des Bundeshaushaltes, BT-Drucks. 14/1523, S. 172, und 14/1636, S. 175 f., und geht davon aus, dass das für deutsche Volkszugehörige sonst (möglicherweise) bestehende Kriegsfolgenschicksal nicht mehr fortbestand, wenn der deutsche Volkszugehörige im Aussiedlungsgebiet eine Funktion ausgeübt hat, die für die Aufrechterhaltung des kommunistischen Herrschaftssystems gewöhnlich als bedeutsam galt, weil er damit den Schutz dieses Systems genoss.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 29.3.2001 - 5 C 17.00 -, a.a.O.

Nach dieser Rechtsprechung ist davon auszugehen, dass die Funktion im Sinne des § 5 Nr. 2 b) BVFG nicht an dem Erreichen einer bestimmten beruflichen Stellung und der hiermit verbundenen wirtschaftlichen Privilegierung in der Gesellschaft des Herkunftslandes festzumachen ist. Das Gesetz billigt auch dem deutschen Volkszugehörigen zu, nach seinen Kräften und Fähigkeiten auch eine herausgehobene berufliche Stellung zu erreichen, und zwar auch innerhalb der Staatsverwaltung, der Armee und der staatlich gelenkten Wirtschaftsverwaltung in der früheren Sowjetunion. Deshalb können grundsätzlich alle diejenigen Funktionen, die auch in anderen, nichtkommunistischen Staats- und Gesellschaftsordnungen erforderlich sind und ausgeübt werden, nicht als für die Aufrechterhaltung des kommunistischen Herrschaftssystems gewöhnlich bedeutsam geltend angesehen werden.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 29.3.2001 - 5 C 15.00 -, DVBl. 2001, 1526.

Dieser Rechtsprechung des BVerwG hat sich der erkennende Senat aus Gründen der Einheitlichkeit der Rechtsprechung grundsätzlich angeschlossen.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 25.10.2002 - 2 A 958/01 -.

Ob eine Funktion im Sinne des § 5 Nr. 2 b) BVFG gewöhnlich als bedeutsam galt, beantwortet sich für den jeweiligen Einzelfall unter wesentlicher Berücksichtigung der zur Zeit des kommunistischen Herrschaftssystems herrschenden politischen und rechtlichen Auffassungen im Aussiedlungsgebiet. Diese waren in der ehemaligen Sowjetunion geprägt durch die führende Rolle, die der KPdSU in Staat und Gesellschaft zukam. Art. 6 Abs. 1 Satz 1 der sowjetischen Verfassung vom 7.10.1977 bezeichnete die KPdSU als "die führende und lenkende Kraft der sowjetischen Gesellschaft" und den "Kern ihres politischen Systems, der staatlichen und gesellschaftlichen Organisationen". Dem entsprach auch die Verfassungswirklichkeit in der Sowjetunion. Die KPdSU war auf allen Ebenen der Unionsrepubliken bis hinunter zu den Rayons und den ländlichen Ortschaften, Siedlungen, Stadtbezirken und Kleinstädten mit Parteikomitees, Büros und Sekretariaten vertreten, um ihren Führungsanspruch bis auf die unterste staatliche Ebene hinab zur Geltung zu bringen. Zur Durchsetzung ihrer führenden Rolle hatte sich die Partei einen mit hauptamtlich tätigen Funktionären besetzten Apparat geschaffen, der zusammen mit den Parteiorganen das Herzstück des kommunistischen Herrschaftssystems bildete.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 29.3.2001 - 5 C 17.00 -, a.a.O.

Daraus folgt aber nicht, dass nur derartige in der Partei wahrgenommene Funktionen als für die Aufrechterhaltung des kommunistischen Herrschaftsystems bedeutsam geltend anzusehen sind. § 5 Nr. 2 b) BVFG ist insbesondere nicht dahingehend zu verstehen, dass ausschließlich hauptamtliche Parteifunktionäre unter diese Ausschlussvorschrift fallen. Vielmehr ist im Einzelfall die jeweils konkret ausgeübte Funktion in ihrer Bedeutung für die Aufrechterhaltung des kommunistischen Herrschaftssystems zu überprüfen.

Vgl. BVerwG, Beschluss vom 28.10.2002 - 5 B 226.02 -.

Hiervon ausgehend fällt die vom Kläger ausgeübte Funktion des Sowchosdirektors unter den Ausschlusstatbestand des § 5 Nr. 2 b) BVFG.

Ein starkes Indiz dafür, dass die Stellung eines Sowchosdirektors für die Aufrechterhaltung des kommunistischen Herrschaftssystems gewöhnlich als bedeutsam galt, ist der Umstand, dass der Sowchosdirektor nach der von den Klägern nicht angegriffenen Feststellung in dem vom Senat eingeholten Sachverständigengutachten regelmäßig Mitglied der Nomenklatura des zuständigen Gebietsparteikomitees war. Selbst wenn das Nomenklatursystem generell nicht geeignet ist, eine Funktion für die Aufrechterhaltung des kommunistischen Herrschaftsystems als bedeutsam zu beurteilen, weil das Systems der Nomenklatura streng geheim gehalten wurde, kann es im Einzelfall Hinweise auf die Bedeutung einer bestimmten Funktion geben.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 18.3.1999 - 5 C 2.99 -, DVBl. 1999, 1207.

Ein solcher Hinweis findet sich hier in der Feststellung des Gutachters, die Position des Direktors des Sowchos "S." habe zur Nomenklatura des Gebietsparteikomitees K. gehört. Die Ein- und Absetzung des Klägers habe deshalb nur mit Zustimmung dieses Komitees erfolgen können.

Nach den Feststellungen des Gutachtens, denen die Kläger nicht entgegengetreten sind, war der Kläger als Sowchosdirektor zudem in einer mit dem Parteiapparat eng verflochtenen Leitungsstruktur der Wirtschaftsverwaltung auf der mittleren territorialen Organisationsebene der ehemaligen Sowjetunion tätig. In dieser Funktion war er über die operativen Aufgaben insbesondere der Planerfüllung hinaus auch dafür zuständig, die Ziele und das Programm der KPdSU im Bereich des Sowchos umzusetzen und bei der Agitation und Propaganda mitzuwirken. Die besondere Bedeutung der vom Kläger innegehabten Funktion für den Bestand des damals in der ehemaligen Sowjetunion herrschenden kommunistischen Systems zeigt sich dabei in der vom Gutachter dargelegten Kompetenz und Machtfülle, über die der Kläger bei der Leitung des Sowchos im Einzelnen verfügte. Seine Macht reichte danach weit über das Arbeitsverhältnis im eigentlichen Sinne hinaus, weil die funktionale Führungsaufgabe in der Produktion und die politische Führung und Kontrolle in der Funktion des Sowchosdirektors zusammenfielen. Berücksichtigt werden muss auch die besondere Struktur des Sowchos, die für das alltägliche Zusammenleben aller seiner Angehörigen von wesentlicher Bedeutung war. Da es nach den unwidersprochenen Feststellungen des Gutachters stets nur einen landwirtschaftlichen Betrieb gab, der sich in der Regel über mehrere Dörfer erstreckte, waren alle Sowchosmitarbeiter mit ihren Alltagsproblemen in vielfältiger Hinsicht auf den Sowchosdirektor und seinen guten Willen angewiesen.

Die besondere Bedeutung der Funktion des Sowchosdirektors zeigt sich auch unter Berücksichtigung seiner Stellung im Verhältnis zu dem im Sowchos tätigen Parteisekretär. Neben dem Sowchosdirektor bestand im Sowchos die Grundorganisation der KPdSU in einem Büro und dessen Sekretär an der Spitze, der im Falle des Klägers nach den unwidersprochenen Feststellungen des Gutachters wegen der Größe des Sowchos diese Tätigkeit nicht hauptamtlich, sondern nebenamtlich neben seiner Tätigkeit im Sowchos ausübte. Dessen Stellung innerhalb eines Betriebes war komplex. Grundsätzlich galt auch für landwirtschaftliche Betriebe das Prinzip der "Ein-Mann-Leitung", wonach für die Organisation des Betriebsablaufes formal allein der Betriebsleiter verantwortlich war. Die in dem Betrieb bestehende Parteiorganisation, welcher der Parteisekretär vorstand, hatte aber allgemein den Auftrag, die Produktion zu verbessern, hierbei "Vorschläge" zu machen und Missstände zu kritisieren. Da es untersagt war, sich direkt in die Betriebsabläufe einzumischen, trieb in der Praxis der Parteisekretär den Betriebsleiter, der für das wirtschaftliche Ergebnis des Betriebes weiter die Verantwortung trug, mit Vorschlägen und Kritik an.

Vgl. dazu OVG NRW, Urteil vom 14.6.2000 - 2 A 1467/98 -.

Nach den Feststellungen im Sachverständigengutachten waren die Funktionen des Parteisekretärs und des Betriebsleiters stets getrennt. Aber der Betriebsleiter war in aller Regel Mitglied des Parteibüros, das dem Sekretär zur Seite stand. Parteileiter und Betriebsleiter waren für eine erfolgreiche Arbeit im Sowchos aufeinander angewiesen. Beide verfolgten dort die gleichen Ziele.

Die Funktion des Sowchosdirektors zeigt auch sonst eine enge Verflechtung mit dem Parteiapparat. Nach den Feststellungen des Gutachters gehörte die Position des Sowchosdirektors, wie bereits oben angesprochen, zur Nomenklatura des Gebietsparteikomitees. Dies hieß in der Praxis, dass die Ein- und Absetzung des Sowchosdirektors zumindest die Zustimmung des auf einer bereits herausgehobenen Ebene angesiedelten Gebietsparteikomitees erforderte.

Die mit einer umfassenden Kompetenz und Machtfülle ausgestattete Stellung des Sowchosdirektors, die Verflechtung seiner Tätigkeit mit der Tätigkeit der Partei im Betrieb und seine enge Verbindung zur Parteiverwaltung machen die vom Kläger innegehabte Funktion als Sowchosdirektor nach der Überzeugung des Senates zu einer für die Aufrechterhaltung des kommunistischen Herrschaftssystems bedeutsamen Funktion im Sinne des § 5 Nr. 2 b) BVFG. Denn zu den wesentlichen Aufgaben des Klägers in dieser Funktion gehörte auch, jederzeit auf die Umsetzung der politischen Vorgaben, der Ziele und des Willens der Partei in der Sowchose hinzuwirken.

Zweifel an der Plausibilität des Gutachtens oder der fachlichen Qualifikation des Gutachters für seine Erstellung sind nicht ersichtlich und auch nicht vorgetragen worden.

Dem Erwerb der Spätaussiedlereigenschaft durch die Klägerin nach § 4 Abs. 1 BVFG steht unabhängig von der Frage, ob die Klägerin die Voraussetzungen dieser Vorschrift im Einzelnen erfüllt, der Ausschlussgrund des § 5 Nr. 2 c) BVFG in der Fassung des Haushaltssanierungsgesetzes entgegen. Diese auch im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 GG mit Verfassungsrecht im Einklang stehende Vorschrift gilt mangels Überleitungsvorschriften auch für noch nicht abgeschlossene Aufnahmeverfahren.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 29.3.2001 - 5 C 28.00 -.

Die Klägerin hat auch vor dem Ende des kommunistischen Herrschaftssystems am 7.2.1990, vgl. OVG NRW, Urteil vom 17.11.1998 - 2 A 6235/95 -, mindestens drei Jahre in der Zeit mit dem Kläger in häuslicher Gemeinschaft gelebt, in der dieser die oben beschriebene Funktion des Sowchosdirektors ausgeübt hat. Denn die Klägerin ist seit dem 17.8.1959 mit dem Kläger verheiratet, und der Kläger war von 1973 bis 1985 Direktor der Sowchose.

Ende der Entscheidung

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