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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Urteil verkündet am 19.06.2008
Aktenzeichen: 20 A 3886/05.A
Rechtsgebiete: Richtlinie 2004/83/EG (Qualifikationsrichtlinie), AufenthG


Vorschriften:

Richtlinie 2004/83/EG (Qualifikationsrichtlinie) Art. 9
Richtlinie 2004/83/EG (Qualifikationsrichtlinie) Art. 10
AufenthG § 60 Abs. 1
1. Afghanische Moslems, die zum Christentum konvertiert sind, haben bei Rückkehr in ihr Heimatland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit schwerste Übergriffe auf ihre Person im Sinne des Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83/EG (Qualifikationsrichtlinie) bis zum Tode zu gewärtigen, wenn ihr Abfall vom islamischen Glauben und der Übertritt zum christlichen Glauben im Familienverbund oder in der Nachbarschaft bekannt wird.

2. Wenn sich ihre christliche Glaubensüberzeugung als identitätsprägend darstellt, ist - da sie die Gefährdung regelmäßig nur vermeiden können, wenn sie ihre Religionszugehörigkeit selbst in diesem Lebensbereich leugnen und effektiv zu verstecken suchen - der menschenrechtlich geforderte Mindestbestand der Religionsfreiheit, zu der auch die Freiheit gehört, seinen Glauben zu wechseln, betroffen und die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG begründet. Das setzt voraus, dass der Glaubensübertritt auf einer aus einem inneren Bedürfnis heraus erfolgten Gewissensentscheidung beruht.


Tatbestand:

Der 1982 geborene Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger. Er gehört der Volksgruppe der Hazara an. Gemäß seinem Herkommen war er schiitischer Moslem; im September 2005 wurde er jedoch in der evangelischen Kirchengemeinde X getauft.

Nach seiner Einreise in die Bundesrepublik Deutschland beantragte er im November 2001 die Gewährung politischen Asyls. Er gab an, Afghanistan verlassen zu haben, weil die Taliban ihn hätten verhaften wollen. ...

Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge - jetzt: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - (Bundesamt) lehnte den Asylantrag des Klägers ab, stellte fest, dass ein Abschiebungsverbot und Abschiebungshindernisse nicht vorliegen, und forderte den Kläger unter Androhung der Abschiebung nach Afghanistan zur Ausreise auf.

Der Kläger hat dagegen Klage erhoben. In der mündlichen Verhandlung hat er sein Klagebegehren auf die Verpflichtung der Beklagten begrenzt, festzustellen, dass in seiner Person die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistan vorliegen, hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 7 AufenthG hinsichtlich Afghanistan vorliegen.

Zur Begründung dieses Klagebegehrens hat der Kläger ... u. a. vorgetragen: Er habe sich vom muslimischen Glauben ab- und dem christlichen Glauben zugewandt. Er sei Mitglied der evangelischen Kirchengemeinde X. Auch deshalb habe er in Afghanistan mit massiven Beeinträchtigungen bis hin zur Tötung zu rechnen.

Mit dem angefochtenen Urteil hat das VG antragsgemäß die Beklagte unter Aufhebung der Ziffern 2. bis 4. des Bescheides des Bundesamtes verpflichtet festzustellen, dass bei dem Kläger die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistan vorliegen.

Die zugelassene Berufung des beteiligten Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten hatte keinen Erfolg.

Gründe:

Die zulässige Berufung hat keinen Erfolg. Das VG hat die Beklagte zu Recht ... verpflichtet, festzustellen, dass beim Kläger die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistan vorliegen. Der Senat sieht im Ergebnis im Einklang mit dem VG die nach dieser Vorschrift maßgeblichen Anforderungen an die Feststellung einer begründeten Furcht vor Verfolgung mit Blick darauf als erfüllt an, dass der Kläger ernsthaft zum Christentum konvertiert ist und nicht zu erwarten steht, dass ihm auch nur eine private und diskrete Ausübung des christlichen Glaubens im häuslich-privaten Bereich ungefährdet möglich sein wird.

Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Liegt eine solche Bedrohung vor, wird dem Ausländer nach Satz 6 der Vorschrift die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Anders als bei der Anerkennung als Asylberechtigter muss die Bedrohung hier nicht vom Staat oder einer staatsähnlichen Organisation ausgehen; Verfolgung ist vielmehr auch gegeben, wenn sie - unter näher bezeichneten Voraussetzungen - von nichtstaatlichen Akteuren ausgeht, § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchstabe c) AufenthG. Gemäß dem nachfolgenden Satz 5 ist für die Feststellung des Vorliegens einer Verfolgung ergänzend auf die einschlägigen Regelungen der Qualifikationsrichtlinie (Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. 4. 2004) zurückzugreifen.

Da die Anerkennung als Flüchtling auf einer Vorstellung von der Zumutbarkeit der Rückkehr ins und des Aufenthalts im Heimatland beruht, ist maßgeblich einzustellen, ob der Betreffende seine Heimat verfolgt oder unverfolgt verlassen hat. Im ersten Fall gilt der sog. herabgestufte Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Die Flüchtlingsanerkennung rechtfertigt sich schon dann, wenn sich für den Betreffenden eine hinreichende Sicherheit vor erneuter, vergleichbarer Verfolgung nicht feststellen lässt. Andernfalls setzt die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft voraus, dass im Falle einer Rückkehr eine relevante Gefährdung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, d.h. wenn bei einer qualifizierten Betrachtungsweise die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Entscheidend ist dabei eine wertende Betrachtungsweise, die auch die Schwere des befürchteten Verfolgungseingriffes berücksichtigt. Je schwerwiegender die mögliche Rechtsverletzung ist, desto weniger kann es dem Betroffenen zugemutet werden, sich einer Verfolgungsgefahr auszusetzen.

Vgl. zu den Prognosemaßstäben: BVerwG, Urteile vom 1. 11. 2005 - 1 C 21.04 -, BVerwGE 124, 276, und vom 18. 7. 2006 - 1 C 15.05 -, BVerwGE 126, 243.

Das zugrunde gelegt hat der Kläger Anspruch auf Anerkennung als Flüchtling i. S. d. § 60 Abs. 1 Satz 1 AuslG. Allerdings hat er Verfolgungshandlungen der in § 60 Abs. 1 AufenthG genannten Art nicht schon wegen Umständen zu befürchten, die vor der Flucht zu einer Verfolgung geführt hatten. Wie das VG im Einzelnen ausgeführt hat, bietet das Auskunftsmaterial insbesondere keine greifbaren Hinweise darauf, dass der Kläger im Zeitpunkt der Ausreise relevante Übergriffe auf Leib, Leben und Freiheit schon allein in Anknüpfung an seine Zugehörigkeit zur ethnischen Gruppe der Hazara konkret zu befürchten hatte. Die geschilderte individuelle Nachsuche, wenn sie denn in der geschilderten Form erfolgt sein sollte, dürfte in der Suche nach Waffen begründet gewesen sein. Für eine ethnisch motivierte Schikane spricht nichts.

Vgl. zur Lage der Hazara bezogen auf das Jahr 1999, insbesondere zum Zusammenhang zwischen den in den Jahren zuvor an Hazara begangenen Menschenrechtsverletzungen und den von allen Bürgerkriegsparteien rücksichtslos und massenhaft verübten Gewalttaten sowie die starke Beteiligung der Hesb-e-Wahdat am Widerstand gegen die Taliban: OVG NRW, Urteil vom 3. 3. 1999 - 20 A 2612/97.A -, juris, Rdn. 31.

Im Übrigen bewegt sich die Gefahr, dass der Kläger in Anknüpfung an die konkret geschilderten Vorkommnisse vor der Flucht heute erneut vergleichbar behelligt wird, in Ansehung der in Afghanistan inzwischen erfolgten Veränderungen in den herrschenden Strukturen nicht einmal im Bereich der theoretischen Möglichkeit. Es deutet weiterhin nichts auf eine ethnisch begründete Verfolgung der Harzara als Gruppe hin. Seit dem Ende der Talibanherrschaft hat sich die Situation der ethnischen Minderheiten besonders für die traditionell diskriminierten Hazara insgesamt verbessert, auch wenn die hergebrachten Spannungen zwischen den Ethnien in lokal unterschiedlicher Intensität fortbestehen und auch immer wieder aufleben. Für gezielte Benachteilungen und Übergriffe gibt es keine Anknüpfungspunkte (Auswärtiges Amt Lagebericht - im Weiteren: AA - 7. 3. 2008).

Dem entspricht es, dass der Kläger in der mündlichen Verhandlung befragt, welche Gefahren er bei einer Rückkehr nach Afghanistan für sich sieht, nicht etwa die Vorkommnisse vor seiner Flucht benannt und eine andauernde Gefahrenlage geltend gemacht hat. Vielmehr befürchtet er für seine Person relevante Übergriffe auf Leib oder Leben in Folge und in Anknüpfung an die nach seiner Flucht gewonnene religiöse Überzeugung und an die darin begründete christliche Taufe in der evangelischen Kirchengemeinde X. Diese Furcht ist mit der mangels vergleichbarer, relevanter Vorverfolgung also zu fordernden beachtlichen Wahrscheinlichkeit begründet.

Der bloße Umstand der erfolgten Konversion zum Christentum reicht für die Annahme einer Verfolgungswahrscheinlichkeit allerdings nicht aus. Denn zum einen kann nicht zugrunde gelegt werden, dass solcherart Geschehnisse, insbesondere der Akt einer Taufe, im Heimatland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bekannt werden. Zum anderen müssten sich in tatsächlicher Hinsicht für Afghanistan Fälle feststellen lassen, in denen es zu erheblichen Beeinträchtigungen kam, nachdem zwar eine Taufe und die Aufnahme in eine christliche Religionsgemeinschaft im Ausland stattgefunden hatten, der Glaube im Heimatland indes nicht weiter praktiziert wurde. Insofern liegt aber die Annahme nahe, dass gläubige Moslems in dem Verhalten im Ausland nur eine für die dortigen Verhältnisse vorteilhafte Taktik sehen. Für Gefahren in diesen Fällen gibt auch das Auskunftsmaterial nichts her. Dieses bezieht sich vielmehr nur auf eine Gefährdung von zum Christentum konvertierten Moslems, die ihren neuen Glauben im Heimatland leben und dort praktizieren. Sie haben mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit schwerste Übergriffe auf ihre Person im Sinne des Art. 9 Abs. 1 Qualifikationsrichtlinie bis hin zum Tode schon dann zu gewärtigen, wenn ihr Abfall vom islamischen Glauben und der Übertritt zum christlichen Glauben im Familienverbund oder in der Nachbarschaft bekannt wird (1.).

Vgl. ebenso: Hess. VGH, Urteil vom 26. 7. 2007 - 8 UE 3140/05.A -, juris; Sächs. OVG, Urteil vom 21. 10. 2003 - A 1 B 114/00 -, zur Gefährdungslage nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AsylVfG.

Zur Vermeidung ihrer Gefährdung sind sie regelmäßig darauf verwiesen, dass sie ihre Religionszugehörigkeit selbst in diesem Lebensbereich leugnen und effektiv zu verstecken suchen. Stellt sich die Glaubensüberzeugung als identitätsprägend dar, was voraussetzt, dass der Glaubensübertritt auf einer aus einem inneren Bedürfnis heraus erfolgten Gewissensentscheidung beruht, ist mit dem Druck zu einem solchen Verhalten der menschenrechtlich geforderte Mindestbestand der Religionsfreiheit, zu der auch die Freiheit gehört, seinen Glauben zu wechseln, betroffen.

Vgl. hierzu: BVerfG, Beschluss vom 19. 12. 1994 - 2 BvR 1426/91 -, DVBl. 1995, 559; BVerwG, Urteil vom 20. 1. 2004 - 1 C 9.03 -, BVerwGE 120, 16.

Solchen Personen ist eine Rückkehr in die für sie bestehende besondere Gefahrenlage regelmäßig nicht zumutbar. Davon ist auch im Falle des Klägers auszugehen (2.). 1. In Auswertung des vorliegenden Auskunftsmaterials misst der Senat bei der für die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgungsgefährdung eines ernsthaften Konvertiten vom Islam zu Christentum gebotenen Gewichtung und Abwägung aller in diesem Zusammenhang maßgebenden Umstände den für eine relevante Verfolgung sprechenden Umständen ein größeres Gewicht bei als den dagegen sprechenden.

Im Einzelnen gilt: Eine nennenswerte christliche Minderheit gab und gibt es in Afghanistan nicht. Möglichkeiten zur öffentlichen Ausübung der christlichen Religion in Gemeinschaft bestehen nicht. Die Zahl der Konvertiten ist seit jeher gering. Deren tatsächliche Situation ist weithin unbekannt. Sie versuchen ihr Bekenntnis aus Angst vor Übergriffen der Staatsorgane oder des sozialen Umfeldes, geheim zu halten. Selbst zu Gottesdiensten, die in Privathäusern von internationalen Organisationen regelmäßig abgehalten werden, erscheinen sie aus Angst aufzufallen nicht (AA 7. 3. 2008, 22.12.2004). Diese Furcht ist angesichts der gegebenen gesellschaftlichen und politischen Strukturen objektiv begründbar. Die Sicherheitslage ist landesweit weiterhin sehr angespannt. Die Gesellschaftsstrukturen sind trotz der Verabschiedung einer vom Westen stark beeinflussten Verfassung nach wie vor islamistisch geprägt. Dabei herrscht eine ausgeprägte Gruppen- und Stammesmentalität. Die Menschenrechtssituation in Afghanistan verbessert sich nur langsam (AA 7. 3. 2008). Allerorten ist eine besondere Sensibilität festzustellen, was eine von außen herangetragene abweichende Prägung der Gesellschaft, vor allem was vermeintliche Angriffe gegen den Islam angeht. Die Notwendigkeit, sich dessen zu erwehren, wird praktisch nicht in Frage gestellt. Das Recht der Scharia beansprucht im Grunde in allen Landesteilen und Lebensbereichen Geltung. Die Apostasie wird demgemäß weiterhin als eines der schwersten Verbrechen empfunden, das den Tod verdient. Schwierigkeiten bei diesbezüglichen Auffälligkeiten ergeben sich nicht nur in der eigenen Familie, sondern auch in der weiteren Umgebung (Danesch 13. 5. 2004). Darüber hinaus stehen zugleich Maßnahmen durch Behörden bzw. Gerichte der erst im Aufbau befindlichen afghanischen Staatsorganisation zu befürchten; staatlicher Schutz gegen mit Apostasie begründete Übergriffe ist jedenfalls nicht zu erlangen. Denn der Islam ist Staatsreligion. Die in Art. 2 Absatz 2 der am 26. Januar 2004 von Staatspräsident Karsai unterzeichneten afghanischen Verfassung bestimmte Religionsfreiheit schützt Angehörige anderer Religionen; sie gilt nicht für Muslime (AA 7. 3. 2008). Des weiteren enthält die Verfassung den Vorbehalt, dass Gesetze nicht dem Glauben und den Bestimmungen des Islam zuwiderlaufen dürfen (Art. 3). Im Lichte dieses Vorbehaltes ist die in Art. 7 vorgeschriebene Gültigkeit der ratifizierten internationalen Verträge, auch die der "Allgemeinen Menschrechtserklärung" zu sehen. Der Vorbehalt wird von den meisten afghanischen Juristen als Erfordernis der Konformität mit der Scharia ausgelegt (Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht vom 3. 1. 2008). Dafür, dass sich die Verfassungswirklichkeit anders ausgestaltet, spricht nichts. Viele in der Justiz Tätige sind Imame oder Kleriker. Auch sonst sind Grund- und Menschenrechte unter praktizierenden Richtern weitgehend unbekannt und werden schon deshalb nicht angemessen berücksichtigt (Max-Planck-Institut a. a. O.). Die besondere Gefahrenlage, die sich im Falle der Apostasie ergeben kann, verdeutlichen einzelne Vorfälle, die zwar allein nach ihrer Zahl - zumal jeweils Besonderheiten einzustellen sein dürften - trotz der als klein anzunehmenden, jedoch nicht verlässlich zu ermittelnden Größe des Kreises möglicherweise Betroffener noch nicht zwingend auf eine beachtliche Wahrscheinlichkeit schließen lassen, aber unter gebotener Berücksichtigung der gesellschaftlichen und rechtlichen Gegebenheiten sowie des Gewichtes drohender Maßnahmen zu einer solchen Folgerung führen.

So ist bereits Anfang 2003 die Bedrohung eines Kommandanten und seiner Frau bekannt geworden, die sich zum Christentum bekannt hatten. Die Bedrohung erfolgte durch Familienangehörige und Vertreter der konservativen Geistlichkeit (AA 21. 6. 2005). Im Jahre 2005 führte schon die Veröffentlichung eines Artikels des Chefredakteurs des monatlichen Magazins "Huquq-e Zan", der u.a. zum Inhalt hatte, eine Abkehr vom Islam solle nicht als Verbrechen betrachtet werden, zu einer Verurteilung zu zwei Jahren Gefängnis wegen Blasphemie (AA 29.11.2005). Im März 2006 kam es zur Verhaftung eines im Flüchtlingslager in Pakistan zum christlichen Glauben übergetretenen Afghanen wegen Apostasie, der ein Angebot der Staatsanwaltschaft, die Anklage fallen zu lassen, wenn er wieder zum Islam zurückkehre, ablehnte. Die im Anschluss an seine Freilassung und Ausweisung erfolgte Parlamentsdebatte verdeutlicht, dass die Apostasie in weiten Teilen der Öffentlichkeit nicht nur religiös betrachtet, sondern zugleich als gesellschafts- und staatszersetzender Verrat gewertet wird, was die Dringlichkeit der Ahndung verstärkt (AA 7. 3. 2008). Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des afghanischen Parlamentes sprach von einer Verschwörung einer "ungläubigen Organisation", der einige fremde Staaten, eine Anzahl von Konvertiten und auch Parlamentsmitglieder angehören sollen. Der Stellenwert, den die Regierung Karzai der Einhaltung der Gebote des Islams einräumt, erschließt sich auch aus der im September 2003 erfolgten Genehmigung der Einsetzung eines zentralen islamischen religiösen Rates (Schura). Die Schura, in der Religionsgelehrte aller Provinzen vertreten sein sollen, umfasst rund 2.600 Mitglieder. Die Gelehrten sollen dafür Sorge tragen, dass die Gebote des Islam eingehalten werden. Des weiteren wurde eine Abteilung zur "Überwachung der Einhaltung religiöser Vorschriften" mit fünf Unterabteilungen gegründet, die zwar nicht selbst über polizeiliche Befugnisse verfügt, aber doch u. a. die Unterrichtung der Bürger über die Rechte und Pflichten in der Gesellschaft auf der Grundlage des Islam gewährleisten soll (AA 7. 3. 2008). Drei weitere Fälle der Übergriffe wegen Apostasie sind dokumentiert. In zwei Fällen sollen sich die Betreffenden gezwungen gesehen haben, Afghanistan zu verlassen (Schweizerische Flüchtlingshilfe 11.12.2006). Über den dritten Fall wird anlässlich einer Verhaftung unter dem Vorwurf eines Tötungsdeliktes berichtet; der Betreffende soll einen Mithäftling, von dessen christlichem Glauben er erfahren hatte, getötet haben (UNHCR Dezember 2007, 42). Im August 2006 ist es - was die Rigorosität in Glaubensangelegenheiten belegt - des Weiteren zur Ausweisung bzw. Zurückweisung einer großen Anzahl von Mitgliedern einer südkoreanischen christlichen Hilfsorganisation wegen - behaupteten - Missionierungsversuchen gekommen. Im Januar 2008 wurde ein Journalistikstudent vom örtlichen Gericht erster Instanz wegen "Prophetenlästerung" zum Tode verurteilt. Dass hier noch abzuwarten bleibt, ob die Gerichte höhere Instanz das Urteil bestätigten werden und dass die afghanische Regierung auf entsprechende internationale Intervention signalisiert hat, sich der Bedeutung des Falles bewusst zu sein (AA 7. 3. 2008), ändert nichts daran, dass dieser Vorgang wie auch die anderen angeführten Vorfälle dokumentiert, in welch kritischer Sicherheitslage sich ein Moslem in Afghanistan sehen muss, der ernsthaft einen anderen Glauben angenommen hat. Dabei steigt die Gefahr zweifellos in dem Maße wie der Betreffende in seinem Bekenntnis bzw. mit seinen Ansichten mit Breitenwirkung auftritt und agiert. Dass selbst hierfür keine Fälle bekannt sind, in denen die Todesstrafe verhängt und anschließend auch vollstreckt worden wäre, rechtfertigt angesichts der geringen Zahl der Fälle und deren - nicht immer zu gewährleistender - Publizität mit politischen Reaktionen indes nicht der Schluss, dass allenfalls derjenige Verfolgungshandlungen der in § 60 Abs. 1 AufenthG i.V.m. Art. 9 Qualifikationsrichtlinie genannten Art ernsthaft zu befürchten hätte, der über die bloß private Religionsausübung hinaus missionarisch tätig wird. Angesichts der Schwere der im Ernstfall zu erwartenden Repressalien, der dargestellten vorherrschenden islamistischen Prägung sowie der besonderen Sensibilität weiter Teile der Bevölkerung und der herrschenden Strukturen betreffend Sachverhalte, bei denen Angriffe gegen den Islam vermutet werden, ist vielmehr auch denjenigen ernsthaften Konvertiten, die erwarten lassen, dass sie sich ohne volle Ausschöpfung des Schutzbereichs der Religion gemäß Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Qualifikationsrichtlinie darauf beschränken werden, ihrer neugewonnenen Religion gemäß geradlinig und ehrlich zu leben, praktisch nur für sich und im privaten Bereich auszuüben, nicht zuzumuten, sich der für sie gegebenen besonderen Gefahrenlage durch Rückkehr nach Afghanistan auszusetzen.

2. Davon ausgehend liegen für den Kläger die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vor. Denn zur Überzeugung des Senats steht fest, dass der vom Kläger durch die Taufe vollzogene Glaubenswechsel vom Islam zum Christentum auf einer ernsthaften, aus einem inneren Bedürfnis heraus erfolgten Gewissensentscheidung beruht. Seine Überzeugungsbildung und Überzeugung sind dabei für ihn in einer Form identitätsprägend, dass ihn ein Verheimlichen oder Verleugnen oder die Aufgabe der neuen Glaubenszugehörigkeit zur Vermeidung zu erwartender Repressalien in seiner sittlichen Person treffen würde, ihm deshalb nicht zugemutet werden kann und so auch im Sinne einer Prognose für den Fall einer Rückkehr nach Afghanistan nicht von ihm zu erwarten ist.

Der Kläger vermittelte dem Senat in der mündlichen Verhandlung den Eindruck einer eher in sich gekehrten, ernsthaften Persönlichkeit. Er hat glaubhaft geschildert, wie er nach seiner Einreise im Bundesgebiet in sehr selbständiger Weise begonnen hat, sich mit Fragen der religiösen Grundlegung zu beschäftigen, sich erstmalig näher mit den Lehren des Islam sowie dessen Hintergründen und Wirkungen bei den gewaltsamen Auseinandersetzungen in seinem Heimatland befasst sowie kritisch betrachtet hat und wie er sich dann den christlichen Lehren und Wertvorstellungen genähert und sie letztlich für sein Leben als maßstabbildend anerkannt hat. ... (wird ausgeführt)

Davon ausgehend ist der Senat ferner überzeugt, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan versucht sein wird, seinen christlichen Glauben dort zu leben und jedenfalls im Privaten zu praktizieren. Dies wird ihn mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit als Störer oder Gegner der Strukturen prägen und hervorheben und -- wie sich aus den Ausführungen zu 1. ergibt - zu Verfolgungshandlungen i.S.d. § 60 Abs. 1 AufenthG i. V. m. § 9 Qualifikationsrichtlinie führen. Eine Rückkehrsituation, welche die Gefahrenlage für den Kläger deutlich relativieren könnte, ist nicht festzustellen. Das gilt unabhängig davon, dass für ihn das Risiko, schon im familiär-häuslichen Bereich als Störer oder Gegner der Strukturen zu erscheinen, letztlich mangels Bezugspersonen ausfällt und ihm die Möglichkeit bleibt, nicht in seinen Herkunftsort zurückzukehren, sondern die Anonymität der Großstadt Kabul zu suchen, in der Repressionen gegen Konvertiten weniger zu befürchten sein dürften als in Dorfgemeinschaften. Denn auch dort bleibt die Sicherheitslage für überzeugte Konvertiten wie den Kläger prekär. Es ist nicht zu sehen, dass es dem Kläger gelingen könnte, ohne im Kern seiner Persönlichkeit betroffen zu werden, in seinem näheren Umfeld seinen Glaubenswechsel auf Dauer zu verheimlichen. Sein Herkommen als schiitischer Moslem erschließt sich für seine soziale Umgebung aus seiner augenfälligen Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara. Die christliche Lebensführung auf Gebete und Gottesdienste zu beschränken, für die Heimlichkeit in Betracht kommt, greift zu kurz. Es geht um die Respektierung bestimmter Werte und daraus folgendes Verhalten - etwa Frauen gegenüber - und allgemein um den Umgang mit anderen Menschen. Erster Anstoß für ein Auffallen seiner Abkehr vom Islam wird sein, dass es dem Kläger schwerlich möglich und zumutbar ist, sich an den islamischen Gebeten und sonstigen religiösen oder religiös geprägten Gepflogenheiten zu beteiligen. Dies führt regelmäßig allein zwar nicht zu schwerwiegenden Konsequenzen, die einer Verfolgungsmaßnahme nahe kommen könnten. Indes können sich daraus jederzeit gerade auch im nachbarschaftlichen Verhältnis Nachfragen ergeben, wie auch aus anderen sozialen Kontakten heraus. Es ist dem Kläger - zumal mit Blick auf die erkennbar gewordene einfache Persönlichkeitsstruktur - nicht zuzutrauen, einschlägigen Nachfragen so zu begegnen, dass er nicht zugleich seine Abkehr vom Islam und Elemente des christlichen Glaubens verrät. Konstante und konsequente Verstellung und Lügerei wäre ihm auch nicht zumutbar, weil ihn das, wie dargelegt, im Kern seiner Persönlichkeit treffen würde.

Ende der Entscheidung

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