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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss verkündet am 11.08.2006
Aktenzeichen: 21 A 1981/06
Rechtsgebiete: VwGO


Vorschriften:

VwGO § 60 Abs. 1
1. Wird eine für das Gericht bestimmte Postsendung von der Behörde dergestalt übermittelt, dass sie durch einen Kurierdienst der Bezirksregierung zunächst zur Bezirksregierung befördert, dort in ein für die an das Gericht gerichteten Sendungen besonders eingerichtetes Fach eingelegt und sodann von einem Boten des Gerichts abgeholt wird, so ist die Sendung dem Gericht nicht bereits dadurch zugegangen, dass sie in das Abholfach einsortiert wird (im Anschluss an BFH, Beschluss vom 7.4.1998 - VII R 70/96 - Juris; vgl. auch BFH, Beschluss vom 22.6.1994 - II R 104/93 - Juris).

2. Zu den von einer Behörde bei Übermittlung eines fristwahrenden Schriftsatzes durch einen Kurierdienst einzuhaltenden Sorgfaltsanforderungen und der zu erfüllenden Darlegungslast, um eine Wiedereinsetzung zu erlangen (im Anschluss an BVerfG, Beschluss vom 20.12.2001 - 2 BvR 1100.01 -, NJW-RR 2002, 1005).


Gründe:

Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unzulässig, weil die Antragsbegründungsfrist versäumt worden ist. Das mit zutreffender Rechtsmittelbelehrung (vgl. § 58 VwGO) versehene Urteil des VG ist dem Beklagten ordnungsgemäß am 6.4.2006 zugestellt worden. Die Antragsbegründungsfrist nach § 124 a Abs. 4 Satz 4 VwGO lief daher am 6.6.2006 ab. Die Antragsbegründung ist ausweislich des Posteingangsstempels aber erst am 9.6.2006, also verspätet, beim OVG NRW eingegangen.

Sollte der Schriftsatz des Beklagten vom 4.7.2006, in dem die Auffassung vertreten wird, die Post sei bereits "mit Einlegung in das Postfach des Oberverwaltungsgerichts (gemeint ist das Postfach bei der Poststelle der Bezirksregierung) in dessen Machtbereich gelangt", dahin zu verstehen sein, dass eine Fristversäumung in Abrede gestellt werden soll, kann dem nicht gefolgt werden. Das bei der Bezirksregierung eingerichtete Fach für die an das OVG NRW adressierten Sendungen ist nicht mit einem bei einem Postamt unterhaltenen Post(schließ)fach vergleichbar, insbesondere fehlt es an jeglicher Nachweismöglichkeit, wann eine Sendung in das Fach einsortiert wurde. Dies ist aber gerade für die häufig fristgebundenen Sendungen an ein Gericht erforderlich. Die Verfügungsgewalt des OVG NRW ist zudem deshalb zu verneinen, weil die eingelegte Post bei einem derartigen Postfach regelmäßig nicht nur von dem abholenden Botendienst des Gerichts entnommen werden kann, sondern auch von denjenigen Bediensteten der Behörde, bei der das Postfach unterhalten wird.

Im Ergebnis ebenso BFH, Beschluss vom 7.4.1998

- VII R 70/96 -, Juris; offen gelassen für einen vergleichbaren Fall (Kurierdienst zwischen Finanzamt und Oberfinanzdirektion): BFH, Beschluss vom 22.6.1994 - II R 104/93 -, Juris.

Dem Beklagten ist auch nicht die beantragte Wiedereinsetzung in die versäumte Frist zu gewähren, denn die Fristversäumung ist nicht unverschuldet erfolgt. Nach der Rechtsprechung des BVerwG liegt ein Verschulden i.S.v. § 60 Abs. 1 VwGO vor, wenn diejenige Sorgfalt außer Acht gelassen wird, die für einen gewissenhaften und seine Rechte und Pflichten sachgemäß wahrnehmenden Prozessführenden geboten ist und die ihm nach den gesamten Umständen des konkreten Falles zuzumuten war. Dabei sind an eine Behörde zwar keine strengeren, aber auch keine geringeren Anforderungen zu stellen als an einen Rechtsanwalt. Auch das sog. Behördenprivileg bei der Vertretung in den Rechtsmittelinstanzen bezweckt keine Besserstellung der Behörde gegenüber einer anwaltlich vertretenen Privatperson.

Vgl. nur BVerwG, Beschluss vom 6.6.1995 - 6 C 13.93 -, Buchholz 310, § 60 VwGO Nr. 198.

Diesen Grundsätzen gemäß hat der Beklagte die Versäumung der Frist für die Begründung der Berufung zu vertreten, weil die Begründung des Zulassungsantrages nicht - wie es nach Lage der Dinge geboten gewesen wäre - auf dem normalen Postweg oder per Telefax, sondern auf dem wesentlich zeitaufwendigeren Kurierweg über die Bezirksregierung befördert wurde. Wer sich aber für eine Übermittlung fristgebundener Schriftstücke in anderer Weise entscheidet, hat bei einem Fehlschlagen der fristwahrenden Beförderung zur Darlegung des mangelnden eigenen Verschuldens die Umstände darzulegen (und glaubhaft zu machen), aus denen eine hinreichend sichere Organisationsstruktur des Beförderungsdienstes deutlich wird, die bei normalem Lauf der Dinge eine fristwahrende Beförderung des konkreten Schriftstückes erwarten lassen konnte.

OVG NRW, Beschluss vom 5.8.1993 - 22 A 1339/93 -, NJW 1994, 402 (zum Botendienst eines Anwaltsvereins).

Diesen Nachweis kann der Beklagte nicht erbringen.

Zur fraglichen Versendung hat der Beklagte zunächst vorgetragen: Die Antragsbegründung sei am 31.5.2006 in den Postausgang gelegt worden; dies könne durch einen Postausgangsvermerk belegt werden. Bei einer Zeitspanne von sechs Tagen habe man davon ausgehen können, dass der Zugang rechtzeitig erfolge; bei Aufgabe mit der Post hätte nach § 41 Abs. 2 VwVfG mit einer Bekanntgabe innerhalb von drei Tagen gerechnet werden dürfen. Hier sei der Versand durch Kurier, der täglich verkehre, erfolgt. Anhaltspunkte für eine gegenüber der Post spätere Zustellung habe es bisher nicht gegeben. Nach gerichtlicher Aufforderung hat der Beklagte sodann erläutert: Die Zustellung von Schriftstücken an das OVG NRW erfolge durch einen Kurier der Bezirksregierung/Versorgungsamt. Dem Kurier würden dienstags und donnerstags mittags die Schriftstücke zur Mitnahme übergeben. Dieser liefere diese am selben Tag bei der Poststelle der Bezirksregierung ab. Die Schriftstücke würden spätestens am Tag nach Ablieferung in das Fach des OVG bei der Bezirksregierung gelegt. Dort würden sie täglich von einem Boten des OVG abgeholt. Im konkreten Fall sei der Schriftsatz am 31.5.2006 in den Postausgang gelegt worden und am Mittwochnachmittag dem Boten der Poststelle übergeben worden. Dort habe er am Donnerstagmittag dem Kurier übergeben werden können; wann die Übergabe tatsächlich erfolgt sei, könne nicht festgestellt werden, weil die Schriftstücke nicht einzeln erfasst würden. Bei einem normalen Verlauf wäre die Post daher am Freitag, dem 2.6.2006, also vor Fristablauf, im Postfach des OVG gewesen. Wann der Bote des OVG NRW die Post abgeholt habe, falle nicht in den Machtbereich des Beklagten. Weiter führt der Beklagte aus: Die Mitarbeiter der Poststelle würden sorgfältig ausgewählt und angeleitet. Sie seien insbesondere über die Bedeutung von Gerichtspost und Fristen informiert. Sollten die Mitarbeiter der Poststelle die Absendung vergessen oder die Schriftstücke verspätet übergeben haben, stelle dies einen Vorgang dar, mit dem nicht habe gerechnet werden können bzw. müssen. Bei einer Behörde mit fast 1.000 Mitarbeitern könne der Behörde nicht das Führen eines Postausgangsbuches zugemutet werden.

Diese Darlegungen genügen nicht, um das fehlende Verschulden des Beklagten darzutun. Zwar dürfen bei der Auslegung und Anwendung der Vorschriften über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand die Anforderungen an das, was der Betroffene veranlasst haben muss, um Wiedereinsetzung zu verlangen, nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG nicht überspannt werden. So hat es das Bundesverfassungsgericht insbesondere als nicht zulässig angesehen, dem rechtsuchenden Bürger Verzögerungen der Briefbeförderung oder Zustellung durch die Deutsche Post AG als Verschulden anzurechnen. In der Verantwortung des Absenders liege es allein, das zu befördernde Schriftstück so rechtzeitig und ordnungsgemäß zur Post zu geben, dass es bei normalem Verlauf der Dinge den Empfänger fristgerecht erreichen kann.

Vgl. nur BVerfG, Beschluss vom 20.12.2001 - 2 BvR 1100/01 -, NJW-RR 2002, 1005.

Dies gilt nach der Rechtsprechung des BVerfG auch im Hinblick auf die Nutzung privater Kurierdienste. Die verfassungsrechtlichen Anforderungen verbieten im Regelfall, die Darlegung von Vorgängen innerhalb der Organisationsstruktur der Dienstleistungsanbieter zu verlangen, da diese sich regelmäßig der Kenntnis des Nutzers entziehen. Hier bestehe kein Unterschied zwischen der Beförderung durch die Deutsche Post AG und der durch andere Anbieter.

BVerfG, Beschluss vom 23.8.1999 - 1 BvR 1138/97 -, NJW 1999, 3701 f.

Soweit das BVerfG auch zum Kurierdienst eines Anwaltvereins vergleichbare Ausführungen gemacht hat,

BVerfG, Beschluss vom 4.4.2000 - 1 BvR 199/00 -, NJW 2000, 2657; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 23.8.1999, a.a.O.,

lassen sich diese nicht auf den hier zu entscheidenden Fall übertragen, da es dort um einen "gerichtsbekannt zuverlässigen" Kurierdienst ging, dem es gerade oblag, Schriftsätze für alle Gerichtsbarkeiten (monatlich etwa 25.000 bis 30.000 Briefumschläge) zu befördern. Demgegenüber handelt es sich bei dem hier in Anspruch genommenen Kurierdienst um eine nicht nach festen (insbesondere schriftlich festgehaltenen) Regeln ablaufende Beförderungsart, so dass es an der Vergleichbarkeit fehlt. Auf die Zuverlässigkeit dieses Kurierdienstes durfte sich der Beklagte für die Beförderung fristgebundener Schriftstücke nicht verlassen. Dies schließt der Senat aus folgenden Umständen:

Dass der Beklagte selbst keine genaue Kenntnis von den Abläufen des Kurierdienstes hatte, zeigt sich schon an seinem wechselnden Vortrag im Zulassungsverfahren. So hat er zunächst vorgetragen, der Kurier verkehre täglich; später wurde diese Aussage ohne nähere Erläuterung in "dienstags und donnerstags mittags" geändert. Auch die vom Gericht telefonisch eingeholten und in Aktenvermerken niedergelegten Auskünfte der an dem Kurierdienst beteiligten Stellen sprechen dafür, dass der postversendenden Behörde die Einzelheiten des Postweges - insbesondere die verschiedenen Stationen - nicht bekannt waren. Auch im Übrigen haben die Telefonauskünfte den Eindruck eines - jedenfalls für die Beförderung von Fristsachen - nicht ausreichend zuverlässigen Beförderungssystems bestätigt: Danach erfolgt die Beförderung vom Landesamt für Besoldung (LBV) zunächst zur Bezirksregierung Haus Nord, von wo sie von einem hauseigenen Kurier 2 x täglich zum Hauptgebäude (Domplatz) gebracht wird. Erst hier erfolgt die Verteilung u.a. in das "Postfach" des OVG NRW, das wiederum durch einen regelmäßigen Botendienst des OVG NRW geleert wird. Sowohl der Leiter der Poststelle des LBV als auch der Leiter der Poststelle des OVG NRW haben erklärt, es könne vorkommen, dass eine Fahrt bzw. ein Botengang ausfalle; dies werde nicht genau nachgehalten. Die Post sei in keiner Weise (etwa als eilig oder fristgebunden) gekennzeichnet. Der Leiter der Poststelle des LBV hat sogar ausdrücklich angegeben, er sei bislang davon ausgegangen, dass fristgebundene/eilige Post nicht über den Kurierdienst, sondern mit normaler Post abgewickelt werde. Inzwischen habe die Dezernentin mitgeteilt, dass eilige Post künftig nicht mehr über den Kurierdienst verschickt werden solle.

Gerade die letzte Äußerung zeigt nach Auffassung des Senats, dass der bislang offenbar für Post jeglicher Art verwendete Kurierdienst für die Beförderung fristgebundener Schriftstücke nicht geeignet ist. Der Weg eines fristgebundenen Schriftstückes vom Ausgangsfach eines Sachbearbeiters bis zur Abholung durch den Botendienst des OVG NRW gliedert sich in zahlreiche Arbeitsschritte mit jeweils eigenem Fehlerrisiko. Angesichts dieser Komplexität des Vorganges hätte es organisatorischer Vorkehrungen (etwa in Form von Ausgangskontrollen, Vertretungsregelungen für Fälle von Urlaub oder Krankheit, zumindest aber regelmäßiger Kontrollen der durchschnittlichen Beförderungsdauer) bedurft, um den rechtzeitigen Eingang von Gerichtspost sicherzustellen. Hieran fehlt es.

Vgl. auch BFH, Beschluss vom 22.6.1994 - II R 104.93 -, Juris, zu einem vergleichbaren Fall (Kurierdienst zwischen Finanzamt und Oberfinanzdirektion/Postfach des Finanzgerichts).



Ende der Entscheidung

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