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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss verkündet am 14.12.2007
Aktenzeichen: 6 A 5173/05
Rechtsgebiete: LBG NRW, BVO NRW


Vorschriften:

LBG NRW § 88
BVO NRW § 3 Abs. 1 Nr. 1
BVO NRW § 4 Abs. 1 Nr. 7
Zum Begriff des "Krankheitsfalls" nach § 88 Satz 2 LBG NRW i.V.m. § 3 Abs. 1 Nr. 1 BVO NRW.

Die axilläre Hyperhidrose III. Grades (übermäßiges Schwitzen im Bereich der Achsel) ist ein Krankheitsfall im Sinne der Beihilfenverordnung NRW.

Sind andere Behandlungsmethoden erfolglos geblieben, kann die Therapie der axillären Hyperhidrose mit Botulinumtoxin ("Botox") notwendig und angemessen sein.


Tatbestand:

Die berücksichtigungsfähige 25-jährige Tochter des beihilfeberechtigten Klägers leidet an axillärer Hyperhidrose (III. Grad). Die Schweißdrüsen in ihren Achseln produzieren erheblich mehr Schweiß als es zur Regulation der Körpertemperatur notwendig ist. Eine Grunderkrankung, auf die die übermäßige Schweißbildung zurückzuführen wäre, liegt nicht vor ("primäre Hyperhidrose"). Verschiedene Therapieversuche schlugen fehl. Im Jahr 2003 wurde der Tochter des Klägers das Medikament Botulinumtoxin ("Botox 100 U") in die Achselhöhlen injiziert. Die Therapie unterbindet die übermäßige Schweißbildung für etwa ein halbes Jahr. Die Behandlung kann regelmäßig wiederholt werden.

Die Bezirksregierung lehnte den Beihilfeantrag ab, weil die Behandlung ausschließlich kosmetischen Zwecken diene. Die auf die Gewährung einer Beihilfe gerichtete Klage wies das VG mit der Begründung ab, es liege kein Krankheitsfall im beihilferechtlichen Sinne vor. Die Berufung des Klägers hatte Erfolg.

Gründe:

§ 88 Satz 1 und 2 LBG NRW verleiht den Beihilfeberechtigten in Krankheitsfällen einen gesetzlichen Anspruch auf Beihilfe zu ihren notwendigen und angemessenen Aufwendungen. Dem entspricht § 3 Abs. 1 Nr. 1 BVO NRW, der unter anderem Aufwendungen in Krankheitsfällen zur Wiedererlangung der Gesundheit und zur Besserung oder Linderung von Leiden für beihilfefähig erklärt. Da die Beihilfevorschriften den Begriff der Krankheit nicht ausdrücklich regeln, zieht die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung den sozialversicherungsrechtlichen Krankheitsbegriff sinngemäß heran, wie er in der Rechtsprechung des BSG entwickelt worden ist.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 24.2.1982 - VI C 8.77 -, BVerwGE 65, 87, m.N.d. Rspr. des BSG; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 17.11.2006 - 4 S 101/05 -, VBlBW 2007, 263; OVG Saarl., Urteil vom 23.11.2005 - 1 R 22/05 -.

Danach ist unter Krankheit ein regelwidriger, vom Leitbild des gesunden Menschen abweichender Körper- oder Geisteszustand zu verstehen, der ärztlicher Behandlung bedarf oder den Betroffenen arbeitsunfähig macht. Eine Krankheit liegt aber nur vor, wenn der Betroffene in seinen Körperfunktionen beeinträchtigt wird oder wenn die anatomische Abweichung entstellend wirkt. Ist die körperliche Beeinträchtigung selbst nicht behandlungsfähig, weil die Behandlung nicht einmal das Leiden lindert, sondern nur ein anderes Aussehen verschafft, liegt keine Krankheit vor.

Vgl. BSG, Urteil vom 19.10.2004 - B 1 KR 3/03 R -, BSGE 93, 252, m. w. N. seiner früheren Rspr.

Die axilläre Hyperhidrose III. Grades stellt einen Krankheitsfall im Sinne des Beihilferechts dar. Die Schweißmenge, die sich bei der Tochter des Klägers im Bereich der Achseln bildet, übersteigt die des normbildenden gesunden Menschen um ein Mehrfaches. Insofern liegt bei ihr ein regelwidriger Körperzustand vor. Die Schweißbildung dient in erster Linie der Regulation des Wärmehaushalts des Körpers. Diese Körperfunktion ist durch die Hyperhidrose gestört. Aus der ärztlichen Therapie ergibt sich die Behandlungsbedürftigkeit dieses Zustandes. Die Behandlung mit Botulinumtoxin lindert das Leiden, indem sie während der mehrmonatigen Wirkdauer des Präparats einen nahezu regelrechten Körperzustand hinsichtlich der Wärmeregulation durch axilläres Schwitzen herbeiführt. Im Vordergrund steht die - wenn auch nur zeitweise - Wiederherstellung des körperlichen Zustandes eines Gesunden im Bereich der Schweißproduktion in der Achsel. Liegt danach bereits eine (wesentliche) Beeinträchtigung von Körperfunktionen vor, kommt es nicht mehr darauf an, ob die Folgen der übermäßigen Schweißbildung entstellend wirken. Ebensowenig wird der Krankheitsfall dadurch ausgeschlossen, dass mit der Linderung des Leidens auch die äußerlich sichtbaren Folgen des regelwidrigen Körperzustandes entfallen, mag diese Wirkung auch der Anlass der Behandlung gewesen sein.

Die dem Kläger entstandenen Aufwendungen waren notwendig und angemessen im Sinne von § 88 Satz 2 LBG NRW i.V.m. §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 4 Abs. 1 Nr. 7 BVO NRW. Ob Aufwendungen notwendig und damit dem Grunde nach beihilfefähig sind (vgl. auch § 3 Abs. 1 Nr. 1 BVO NRW), richtet sich danach, ob sie medizinisch geboten sind.

Vgl. OVG NRW, Urteile vom 23.6.2007 - 6 A 1959/05 - und vom 22.10.1973 - XII A 820/71 -, RiA 1974, 99.

Dies richtet sich in aller Regel nach der Beurteilung des behandelnden Arztes.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 29.6.1995 - 2 C 15.94 -, NJW 1996, 801; OVG NRW, Urteil vom 31.8.2007 - 6 A 2321/06 -.

An der Notwendigkeit der durchgeführten Behandlung bestehen nach den Ausführungen des behandelnden Arztes unter Berücksichtigung der in der Akte enthaltenen medizinischen Fachliteratur keine Zweifel. Die Aufwendungen für das Medikament "Botox 100 U" waren angemessen, weil andere Behandlungsmethoden nicht zum Erfolg geführt haben und ein preisgünstigeres Medikament nicht ersichtlich ist. Hierfür spricht außerdem, dass das Medikament inzwischen zum Leistungsumfang der gesetzlichen sozialen Krankenversicherung zur Behandlung der axillären Hyperhidrose gehört.

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